PresseBLICK-Rezensionen Geschichte (Strom u. a.)



Bernhard Plettner

Abenteuer Elektrotechnik - Siemens und die Entwicklung der Elektrotechnik seit 1945

München 1994: Verlag Piper, 618 S., DM 98.-


Über die Geschichte des größten elektrotechnischen Unternehmens Deutschlands sind wir bis 1945 recht gut unterrichtet. Hier ist vor allem die dreibändige "Geschichte des Hauses Siemens" zu nennen, die Georg Siemens - ein ehemaliger Mitarbeiter des Unternehmens und entfernter Verwandter der Gründerfamilie - kurz nach dem zweiten Weltkrieg veröffentlichte und die später unter dem Titel "Der Weg der Elektrotechnik" nochmals eine zweibändige, bebilderte Neuauflage erlebt hat.

In der Öffentlichkeit die meiste Beachtung fand allerdings kein seriöses historisches Werk, sondern eine "Dokumentarsatire", die 1972 der Schriftsteller F. C. Delius als unerbetenen Beitrag zum 125jährigen Firmenjubiläum vorlegte ("Unsere Siemenswelt - eine Festschrift"). Sie enthielt in literarischer Form allerlei Andeutungen über Vorgänge in der Zeit des Nationalsozialismus, die in firmenoffiziellen Darstellungen verschwiegen oder geschönt würden. Als Siemens vor Gericht zog, mußte Delius in etlichen Punkten zurückstecken. Dennoch wurde das Buch - dafür sorgte gerade die gerichtliche Auseinandersetzung - zu einem Verkaufserfolg.

Die bisher umfassendste Darstellung der Siemens-Arbeitsgebiete nach 1945

Wie man hört, wird derzeit bei Siemens an einer Fortsetzung der Firmengeschichte gearbeitet. Bis dieses Vorhaben abgeschlossen ist, wird das vorliegende Buch wohl als die informativste Darstellung der Firmenaktivitäten nach 1945 gelten können. Es stammt von dem ehemaligen Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden Bernhard Plettner, der 1940 als Ingenieur bei den Siemens-Schuckertwerken begann und somit die Firmengeschichte im behandelten Zeitabschnitt aus eigener Anschauung kennt. Bei der Darstellung von Details der einzelnen Fachbereiche konnte er sich auf die Vor- und Zuarbeit anderer leitender Angestellter stützen.

Plettners Buch bietet sicher keinen lückenlosen, aber doch einen recht umfassenden Einblick in die Aktivitäten des Konzerns, der seine Aufspaltung in die beiden Hauptzweige Siemens & Halske (Schwachstromtechnik) und Siemens Schuckert (Starkstromtechnik) in den sechziger Jahren beendete und seitdem als Siemens AG firmiert. Sein Blick ist primär auf die Fortschritte der Elektrotechnik gerichtet, doch werden auch die daraus resultierenden wirtschaftlichen Vorgänge berücksichtigt. So erfährt der Leser einiges über die technologischen Hintergründe von strategischen Allianzen, die Siemens mit anderen Firmen einging.

Der Autor skizziert zunächst die Entwicklung des Hauses Siemens und seiner Arbeitsgebiete nach dem zweiten Weltkrieg, um sich dann den einzelnen elektrotechnischen Sparten zuzuwenden. Dabei stehen die Halbleitertechnik mit 45 Seiten und die Datenverarbeitung mit 53 Seiten an erster Stelle. Es folgen die Nachrichtentechnik (33 S.), Medizin (57 S.), Kraftwerke (85 S.), Elektrizitätsnetze (29 S.), Transformatoren (11 S.), regenerative Energien (17 S.), Steuerung und Automatisierung (59 S.) sowie Eisenbahnsignaltechnik (21 S.).

Mehr als nur eine Firmengeschichte

Da Siemens fast auf allen Gebieten der Elektrotechnik tätig ist, kommt mehr als nur eine Firmengeschichte zustande. Etliche der hier behandelten Technologien sind ausgesprochene Domänen von Siemens, weil sie nur noch von einem europa- und weltweit operierenden Unternehmen zu bewältigen sind. Sie könnten deshalb kaum anhand der Produktpalette eines anderen deutschen Unternehmens dargestellt werden. Das gilt vor allem für das Gebiet der Halbleitertechnik und Datenverarbeitung, auf dem Siemens als einziges deutsches Unternehmen mit der amerikanischen und japanischen Konkurrenz einigermaßen Schritt gehalten hat oder schon mal eine Nasenlänge voraus war (wie in den fünfziger Jahren bei der Herstellung von einkristallinen Siliziumstäben). Aber auch in der Nuklear- und Kraftwerkstechnik besitzt Siemens eine exklusive Stellung, seitdem sich die AEG aus diesem Bereich verabschiedet hat.

Das Buch zeigt beispielhaft, wie sich die Elektrotechnik in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts entwickelt hat und welchen Herausforderungen sich dadurch dieser Wirtschaftszweig stellen mußte. Oft wird die Interdependenz von Technik und Wirtschaft bei geschichtlichen Darstellungen nicht genügend berücksichtigt. Hier ergibt sie sich aus demThema fast zwangsläufig. Schließlich ist Siemens fast so etwas wie ein Synonym für die deutsche Elektroindustrie. Eine ähnliche Darstellung könnte allenfalls noch am Beispiel der AEG erfolgen. Dieser andere Teil des traditionellen Doppelgestirns der deutschen elektrotechnischen Industrie ist inzwischen aber arg verblaßt, und es sieht nicht so aus, als ob die Gründung Emil Rathenaus nochmals zu ähnlicher Bedeutung gelangen könnte wie das Unternehmen, das Werner Siemens am 12. Oktober 1847 mit seinem Partner Johann Georg Halske begründet hat.

Eine Spur zu nüchtern und zu offiziös

Plettners Darstellung macht einen soliden und informativen Eindruck. Im Vergleich mit der "Geschichte des Hauses Siemens" ist sie allerdings weniger lebendig. Sie wirkt nüchtern und offiziös. Es fehlt die essayistische Brillanz, mit der Georg Siemens - der sich durchaus als Schriftsteller verstand - die Geschichte des Hauses Siemens und der Elektrotechnik in die geistigen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge eingeordnet hat. So hat er den dritten Band seiner Siemens-Chronik, der die Jahre von 1922 bis 1945 behandelt, mit "Die Dämonie des Staates" überschrieben. Die vorliegende Darstellung nimmt dagegen das gesellschaftspolitische Umfeld der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung nach 1945 allenfalls notgedrungen zur Kenntnis, wie etwa die Bewegung gegen die Kernkraftwerke. Und wo sich ein Hinweis auf die braunen Dämonen nicht vermeiden läßt, ist in gepflegtem Siemens-Understatement von der "damaligen Staatsführung" die Rede.

Insofern merkt man schon, daß hier kein engagierter Historiker oder Schriftsteller, sondern der ehemalige Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende persönlich zur Feder bzw. zum Diktiergerät gegriffen hat. Als Georg Siemens 1951 den dritten Band seines Werkes vorlegte, dankte er im Vorwort für die Unterstützung durch Siemens. Zugleich aber - so ließ er die Leser auf Wunsch der Firma wissen - distanziere sich Siemens "ausdrücklich und formell von allen in dem Buche vorgetragenen politischen, wirtschaftlichen und soziologischen Anschauungen und Betrachtungen und von allen Werturteilen über irgendwelche Persönlichkeiten, Vorgänge und Einrichtungen". Eine derartige Distanzierung wäre bei dem vorliegenden Buch sicher nicht erforderlich. Es könnte durchaus als firmenoffizielle Darstellung gelten.

(PB 5/94/*leu)