PresseBLICK-Rezensionen | Geschichte (Strom u. a.) |
Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Historiker ihren Blick ausschließlich auf gekrönte Häupter und geniale Schlachtenlenker richteten. Nur widerstrebend öffneten sich die Schüler Rankes und Treitschkes der Einsicht, daß die entscheidenden Triebkräfte der Geschichte eher diskret und woanders wirken könnten, nämlich in den profanen Niederungen von Technik und Wirtschaft. Als der Historiker Karl Lamprecht zu Anfang dieses Jahrhunderts einen Zusammenhang von materieller Technik und geistiger Kultur, von Wirtschaft und Psychologie, unterstellte, war er den heftigsten Anfeindungen ausgesetzt. Die Schulhistoriker bezichtigten ihn des historischen Materialismus und sahen in ihm einen Schüler von Karl Marx. Zumindest galt er ihnen als "Irrlehrer" (Friedrich Meinecke), der "westliche" demokratisch-liberale Tendenzen vertrete.
Heute kann der Zusammenhang von Technik und Wirtschaft mit dem sozialen und politischen Geschehen als offenkundig gelten. Falls es noch eines Beweises bedurft haben sollte, so hat ihn eben erst der Zusammenbruch des "realexistierenden Sozialismus" geliefert, in dem wirtschaftliche Ineffizienz, technologische Rückständigkeit und intellektuelle Verödung eine unselige Allianz bildeten.
Aber nicht nur die politische Zwangsjacke vermag die innovativen Kräfte einer Wirtschaft zu lähmen. Dies zeigen die Autoren des vorliegenden Werkes mehrfach am Beispiel Englands, das im 19. Jahrhundert die mit Abstand führende Wirtschaftsnation und das Mutterland der Industrialisierung war. Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung boten sich dem britischen Kapital relativ bequeme und risikoarme Anlagemöglichkeiten. Zum Beispiel ließen sich Exportrückgänge im Handel mit dem Kontinent und den USA im Rahmen des Empire ausgleichen. England profitierte so bis in die Anfänge dieses Jahrhunderts von seiner in der Vergangenheit errungenen Vormachtstellung. Die Kehrseite war, daß es keinen sonderlichen Anreiz zu Investitionen in innovative, zukunftsträchtige Produktionszweige gab. Das saturierte Eng-land geriet so, wie Wolfgang König feststellt, "bei jenen Industriesparten ins Hintertreffen, die besonders zukunftsträchtige Produkte herstellten: in der optischen und chemischen Industrie gegenüber Deutschland, in der Elektrotechnik und im Werkzeugmaschinenbau gegenüber Deutschland und den USA und im Automobilbau gegenüber den USA und Frankreich".
Die Kolbendampfmaschine, die den Motor der ersten industriellen Revolution bildete, hatte am Ende des hier besprochenen Zeit-raums bereits ihre frühere Bedeutung eingebüßt. Die Transmissionen in den Fabriken wichen dem elektrischen Einzelantrieb, der Explosionsmotor revolutionierte das Verkehrswesen und auch für die Stromerzeugung wurden jetzt die leistungsfähigeren Dampfturbinen eingesetzt. - Mit der Folge, daß die bisherige Technik als museal empfunden wurde und die Bedeutung der Technik für den gesellschaftlichen Fortschritt zum erstenmal überhaupt zu Bewußtsein gelangte. Es war nicht zufällig ein Pionier der neuen Elektrotechnik, nämlich Oskar von Miller, der damals das Deutsche Museum in München gründete.
Aber auch innerhalb der neuen Industrien gab es rasante Veränderungen, technische Innovationen und wirtschaftliche Konkurrenzkämpfe. So gehörten noch 1875 die Produkte der Elektroindustrie zu etwa 90% zur Schwachstromtechnik. Schon 1895 war das Verhältnis von Schwach- und Starkstromtechnik genau umgekehrt. Die Herstellung leistungsfähiger Stromgeneratoren verdankte sich wiederum der Entdeckung des Restmagnetismus, die Werner Siemens eher zufällig gelang, als er 1866, anläßlich des preußisch-österreichischen Krieges, die Konstruktion magnetelektrischer Zünder zu verbessern versuchte (heute würde man von einem Abfallprodukt der Rüstungsforschung sprechen). Die anfänglich noch auftretenden Wirbelströme, die bei größeren Dynamos den Anker zu sehr erwärmten, konnten in den siebziger Jahren vermieden werden. Der Entstehung größerer Stromnetze stand aber immer noch als Hindernis entgegen, daß der gebräuchliche Gleichstrom von 110 Volt bei einigermaßen wirtschaftlichem Leiterquerschnitt nur in einem Umkreis von etwa 600 Metern um die Elektrizitätswerke verteilt werden konnte. Kein Wunder, daß es anfangs zahllose Kraftstationen gab. Noch 1913 übertrafen die Eigenanlagen für den Strombedarf die Leistung der öffentlichen Elektrizitätswerke um das Dreieinhalbfache. Ein weiteres Problem der öffentlichen Stromversorgung war der stark schwankende Stromverbrauch, der fast ausschließlich durch den Bedarf an Beleuchtung verursacht wurde. Um die Belastungsunterschiede ausgleichen zu können, mußte jedes Elektrizitätswerk hohe Reservekapazitäten bereithalten, etwa in Form von schnell anlaufenden Gas-Generatoren oder langen Reihen von Blei-Akkus, die bei dem damals noch relativ geringen Stromverbrauch die Rolle der heutigen Pumpspeicherkraftwerke übernehmen konnten. Bis zur Jahrhundertwende waren die Elektrizitätswerke die besten Kunden der Akkumulatoren-Hersteller.
Der größte Nachteil des Gleichstroms blieb seine mangelnde Transformierbarkeit. Auf der anderen Seite fehlte es jedoch an geeigneten, leistungsfähigen Transformatoren, um das grundsätzlich bereits bekannte Induktionsprinzip für das Hoch- und Niederspannen von Wechselstrom zu verwenden. In den achtziger Jahren kamen deshalb die sogenannten Umformer auf, die den Gleichstrom durch mechanische Kopplung auf höhere oder niedere Spannung brachten und so die Erweiterung der Netze ermöglichten. Bei diesen Umformern wurde jeweils ein Elektromotor (Eingangsspannung) mit einem Dynamo (Ausgangsspannung) gekoppelt. 1885 gelang erstmals der Bau von Transformatoren mit hohem Wirkungsgrad, womit ein jahrzehntelanger Kampf zwischen Gleich- und Wechselstrom entbrannte. Der Gleichstrom wurde vor allem von den bereits etablierten Firmen wie Edison, Siemens & Halske und AEG favorisiert. Dem Wechselstrom verschrieben sich dagegen aufstrebende junge Firmen wie Helios in Deutschland und Westinghouse in den USA. Der Kampf wurde mit zum Teil recht rüden Methoden ausgetragen. So brachte es die Gleichstrompartei in den USA zustande, daß 1890 erstmals ein zum Tode Verurteilter mit hochgespanntem Wechselstrom hingerichtet wurde - ein propagandistischer Trick, der die Welt von der Gefährlichkeit hochgespannter Ströme überzeugen sollte.
Dennoch war der Siegeszug des Wechselstroms nicht aufzuhalten, nachdem der AEG-Chefingenieur Dolivo-Dobrowolsky 1889 den Drehstrommotor entwickelt und 1891 gemeinsam mit Oskar von Miller erfolgreich die Fernübertragung hochgespannten Wechselstroms vom Wasserkraftwerk Lauffen am Neckar nach Frankfurt am Main vorgeführt hatte. Damit war der Weg geöffnet für leistungsfähige, große Gebiete versorgende Wechselstromnetze, die aus standortgünstigen Kohle- oder Wasserkraftwerken gespeist werden. Da der Gleichstrom für bestimmte Verwendungszwecke, etwa den Straßenbahnbetrieb, Vorteile hatte und die Umformertechnik auch die Möglichkeit eines Wechsels zwischen beiden Stromarten bot, beherrschte aber noch bis zum ersten Weltkrieg ein Mischsystem das Bild der Stromwirtschaft.
Faszinierend auch die Entwicklung der Beleuchtungstechnik: Noch bis 1914 konkurrierten auf diesem Gebiet Gas und Strom und verbuchten gleichermaßen enorme Zuwächse. Elektrische Beleuchtung konnten sich nur Restaurants, Theater, Banken, Geschäfte, Hotels oder reiche Privatleute leisten. Das Gaslicht war viel billiger und aus-serdem 1891 durch die Entwicklung des "Glühstrumpfs" wesentlich ergiebiger geworden. Die elektrische Beleuchtungstechnik beschränkte sich auf die sehr hellen, aber komplizierten Bogenlampen sowie die kurzlebigen Kohlefaden-Glühlampen. Der Einzug der elektrischen Beleuchtung in die Privathaushalte begann deshalb erst zu Anfang dieses Jahrhunderts, als die Glühlampe mit Metallfäden aus Osmium, Tantal oder Wolfram entscheidend verbessert werden konnte (noch heute erinnert der Firmenname Osram an diesen Durchbruch).
An etlichen Orten der USA wurden damals gigantische Licht-Türme errichtet, die mit elektrischen Bogenlampen die Städte erhellen sollten. So ging in Detroit eine Anlage mit 400 Bogenlampen auf 90 Türmen in Betrieb. Es war wohl ein typisch amerikanischer Traum, die künstliche Sonne am nächtlichen Himmel plazieren zu wollen, kaum daß die Beleuchtungstechnik den Gaslaternen entwachsen war. Schließlich konnte man schon damals wissen, daß die Beleuchtungsstärke im Quadrat der Entfernung abnimmt. In Europa ließen sich solche Projekte nicht realisieren. Ein für die Pariser Weltausstellung von 1889 geplanter "Sonnenleuchtturm" mit 100 Bogenlampen wurde vom Ausstellungskomitee verworfen. Stattdessen baute man den Eiffel-Turm...
Es fällt auf, daß die damals entstehenden Elektrokonzerne Deutschlands und der USA ihre führende Rolle bis heute behaupten konnten. Die Firma General Electric, die 1892 aus der Fusion der Edison-Firmen mit der Thomson-Houston-Company hervorging, ist bis heute das weltweit größte Elektrounternehmen geblieben. In Deutschland konnte Siemens bis in die Gegenwart seine führende Stellung behaupten, zeitweilig allerdings angefochten und sogar überholt durch die AEG, die 1883 von Emil Rathenau zur Verwertung der Edison-Patente gegründet wurde und bis 1887 als Deutsche Edison-Gesellschaft firmierte.
Der vorliegende vierte Band der Propyläen-Technikgeschichte kann jedem historisch und technisch interessierten Leser nur empfohlen werden. Es macht Spaß, solche Bücher zu lesen. Der Stil der Autoren ist unprätentiös, sachlich, konzis und doch nicht langweilig. Die Illustrationen sind sorgfältig und treffend ausgewählt. Obwohl einige Druckfehler übersehen wurden (was heute nachgerade die Regel ist), wirkt der Band hervorragend ediert. Bei Wolfhard Weber, der den ersten Teil über "Die Verkürzung von Zeit und Raum" beisteuerte, würde man sich vielleicht die nähere Erläuterung des einen oder anderen technischen Fachbegriffs wünschen.
Die Autoren beschränken sich auf die Technikgeschichte im engeren Sinne (aus der hier das Kapitel "Elektrifizierung" nur als ein besonders interessierendes Beispiel herausgegriffen wurde). Sie lassen also die damit verbundene Sozialgeschichte weitgehend unberücksichtigt. Zum Beispiel sind der "Fabrikarbeiterschaft" nur eineinhalb Seiten gewidmet. Es liegt ihnen auch fern, auf den Spuren Max Webers oder Sombarts zu wandeln und eine geisteswissenschaftliche Interpretation von Technik und Nationalökonomie zu versuchen. Diese Beschränkung auf die materielle Seite des kulturellen Fortschritts ist jedoch legitim. Sie entspringt sicher nicht der Absicht, den Menschen als wichtigsten Bestandteil der technischen Entwicklung ignorieren zu wollen. Die rein technische Materie ist schon umfangreich und komplex genug. Es hindert auch niemand den Sozialhistoriker oder Kulturkritiker, sich des hier präsentierten Materials zu bedienen und damit seine eigenen Überlegungen anzustellen.
Bei der Lektüre des vorliegenden Bandes imponiert immer wieder die Dialektik der technischen Entwicklung, die keine wirklichen Sackgassen kennt, sondern vermeintlich überholte Lösungen in neuer Form fröhliche Urständ feiern läßt. So ist die Hochspannungs-Gleichstromübertragung, die vor hundert Jahren dem Wechselstromprinzip unterlag, heute mit veränderten Techniken wieder sehr aktuell geworden. Das gute alte Wasserrad, das im 18. Jahrhundert durch die Dampfmaschine verdrängt wurde, erlebte schon zu Anfang dieses Jahrhunderts als Wasser- oder Dampfturbine ein Come back auf höherer Stufe und verdrängte so seinerseits wieder die Dampfmaschine. Selbst die Windmühle ist in Gestalt der Windkonverter zu neuen Ehren gelangt. In ähnlicher Weise regenerierte sich das Prinzip des schienengebundenen Nahverkehrs von der Pferdebahn über Cable-cars und Trams bis zur modernen U-Bahn. Dem Asynchronmotor, der schon vor hundert Jahren entwickelt wurde, könnte eine zweite und nicht minder revolutionierende Zukunft in Gestalt des Linearmotors bevorstehen - sei es als Magnetschwebebahn oder in Form eines über Induktionsschleifen dahingleitenden, elektronisch gesteuerten Individualverkehrs. Der Dialektik, welche die Gegensätze zwischen heute noch unversöhnlich scheinenden technischen Prinzipien aufhebt, sind langfristig keine Grenzen gesetzt.
Das Lesen dieser Technikgeschichte stimmt jedenfalls nachdenklich, wirft Fragen auf: Zum Beispiel die, ob sich im Zeichen der Mikroelektronik heute eine ähnliche technische Revolution mit den dazugehörigen politischen und sozialen Folgen vollzieht wie vor hundert Jahren mit dem Aufkommen der neuen Industrien. Wer spielt dabei die Rolle Englands, wer die Deutschlands oder der USA? Oder ist die Fragestellung schon im Ansatz falsch, weil das Denken in nationalstaatlichen Kategorien obsolet geworden ist?
"Die Technikgeschichte gibt uns keine Gewißheit über den Weg, den wir gehen sollen", meint Wolfgang König in seiner Einführung zur Gesamtreihe der Propyläen-Technikgeschichte. "Doch ohne sie sind wir bei unseren Entscheidungen über Technik mit Sicherheit blind."
(PB 9/91/*leu)