PresseBLICK-Rezensionen | Geschichte (Strom u. a.) |
Bei seiner intensiven Befassung mit dem Musikinstrumenten-Hersteller Hohner und dessen Umfeld in der Gemeinde Trossingen stieß Berghoff auf einen anderen Unternehmer, der unter Zigarettenrauchern so bekannt sein dürfte wie unter Harmonikafreunden der Name Hohner - allerdings in der Verfremdung des Namens bzw. dessen Abkürzung F. K. in "Efka" als Marke für Zigarettenpapier. Gemeinsam mit seiner Tübinger Kollegin Cornelia Rauh-Kühne machte er daraus ein weiteres Meisterstück historisch-akribischer Forschung, das soeben in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen ist.
F. K. bzw. Efka steht für Fritz Kiehn. Dieser vertrat in Trossingen das einzige nennenswerte Gegengewicht zur tonangebenden Unternehmer-Dynastie der Hohners, die in paternalistischer Manier die Gemeinde beherrschten. Dank seiner glänzenden Verbindungen zu den Machthabern des "Dritten Reiches" konnte er sogar zwölf Jahre lang zur politisch einflußreichsten und tonangebenden Figur des Ortes aufsteigen.
Im Unterschied zu den Hohners, die ihre bäuerlichen Ursprünge abgestreift hatten und bei denen schon die zweite Generation standesgemäß in Unternehmer-Villen wohnte, war Fritz Kiehn ein armer Handlungsreisender, als er 1908 aus Westfalen nach Trossingen kam. Erst die Einheirat in eine ortsansässige Gastwirtsfamilie machte ihn 1911 zum gut situierten Bürger und ermöglichte ihm die Übernahme eines Papierwarenladens. Das Trauma seiner Herkunft aus sehr kleinen Verhältnissen - er war das drittjüngste von zwölf Kindern eines Polizisten und einer Hutmacherstochter - ließ ihn aber sein Leben lang nicht los. Ehrgeizig arbeitete er an seinem weiteren sozialen Aufstieg, legte sich 1919 eine Kleinfabrikation von Kartonagen im Hinterzimmer seines Ladens zu und übernahm 1920 eher zufällig auch vertretungsweise einen Zigarettenpapier-Versandhandel.
Es war just die Zeit, als es in Deutschland wirtschaftlich steil bergab ging und die Inflation das deutsche Besitzbürgertum ruinierte. Für Fritz Kiehn waren Wirtschaftskrise und Inflation dagegen ein Glücksfall, denn der Handel mit Zigarettenpapier lief um so besser, je schlechter es den Leuten ging. Dieselbe Feststellung konnte er auch am Ende der zwanziger Jahre machen, als die Weltwirtschaftskrise ausbrach, und erneut nach dem zweiten Weltkrieg, als mit Hilfe von Efka-Zigarettenpapier so manche Kippe ihr Recycling erlebte.
Kiehn nutzte die Chance: Bis 1921 hatte er 36 Zigarettenpapier-Maschinen erworben. Sein ehemaliger Versandhandel entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer Fabrik mit siebzig Beschäftigten, so dass er den Laden aufgeben und sich ganz der neuen Unternehmertätigkeit widmen konnte.
Nicht zuletzt kompensierte der soziale Aufsteiger nun kräftig seine alten Minderwertigkeitsgefühle: Am Rande des Orts errichtete er eine Villa mit großem Park, die alle Villen des Hohner-Clans übertrumpfte. Dieses protzige Gehabe trug ihm freilich erst recht die Verachtung der "besseren Gesellschaft" ein, in die er aufgenommen zu werden wünschte. Die Hohners legten nämlich bei aller standesgemäßen Lebensführung durchaus Wert auf eine gewisse Bescheidenheit, wie dies ihrer pietistisch geprägten Religiosität und der schwäbischen Neigung zur Tiefstapelei ("mehr Sein als Schein") entsprach. Fritz Kiehn blieb in ihren Augen ein ortsfremder Emporkömmling, mit dem man besser nicht gesellschaftlich verkehrte.
Cäsar soll einmal gesagt haben, er wolle lieber in einem Dorf der erste als in Rom der zweite sein. Fritz Kiehn wäre in dem Dorf Trossingen schon mit der anerkannten Rolle des zweiten zufrieden gewesen. Aber je mehr er darauf pochte, desto mehr bekam der Parvenü die Verachtung der alteingesessenen schwäbischen Honoratioren zu spüren. Noch im 1927 erschienenen "Trossinger Heimatbuch" wird der zweitgrößte Arbeitgeber des Orts einfach ignoriert. Im Kapitel zur ortsansässigen Industrie sind neben den Hohners, die auch sonst die Darstellung bestimmen, nur kleinere Betriebe erwähnt. Der Verfasser des ansonsten sehr gewissenhaft geschriebenen Heimatbuchs gehörte als "Oberlehrer" zum Kreis der örtlichen Honoratioren. Sein Werk hatte er in dankbarer Verehrung Will Hohner gewidmet, dem damaligen Chef des Hohner-Clans...
Aus heutiger Sicht fällt es schwer, die Fixierung Kiehns auf Aufnahme in die Respektabilität eines Dorfes zu verstehen. Wie der Hohnersche Paternalismus gehört dies in eine Zeit, die noch von relativ starren, ortsfesten Strukturen geprägt war. Oft begann schon im nächsten Ort ein anderer sozialer Mikrokosmos, mit anderer Färbung des Dialekts, anderer konfessioneller Schichtung und andersgeartetem Establishment.
Sogar die Hinwendung Kiehns zum Nationalsozialismus muss vor diesem lokalen Hintergrund gesehen werden. Sie war dadurch vorgezeichnet, dass die Hohners im Ort den Liberalismus repräsentierten. Den letzten Ausschlag gab der Unwille des Unternehmers über eine Sondersteuer für Zigarettenpapier, die ihm das Geschäft zu vermasseln drohte. So gehörte Fritz Kiehn zu den sehr wenigen Unternehmern, die Hitler nicht nur finanziell unterstützten, sondern schon vor der Machtergreifung selber Mitglied der NSDAP wurden und sich als Agitatoren für den Nationalsozialismus betätigten.
Das braune Kostüm passte vorzüglich zum bescheidenen geistigen Habitus des Trossinger Unternehmers, der ein amusischer, ungebildeter Koofmich geblieben war und die Bücher in seiner Villa hauptsächlich zu Dekorationszwecken angeschafft hatte. Der Nationalsozialismus lieferte ihm das Podest, um sich in Trossingen als Volkstribun gegen die übermächtigen Hohners zu profilieren und diese an demonstrativer "sozialer" Gesinnung womöglich noch zu übertrumpfen. Tatsächlich war Kiehn bei seiner wachsenden Belegschaft mindestens so beliebt wie die Hohners bei der ihrigen, wodurch sich innerhalb des Ortes ungute Spannungen zwischen "Hohner-Familien" und "Efka-Familien" ergaben.
Gerade als sozialer Desperado verkörperte Kiehn aber auch einen moderneren Typus des Wirtschaftsmenschen als die im Pietismus und im Gefüge der Gemeinde fest verankerten Hohners. Dazu passte sein Faible für elegante Autos und ähnliche Erscheinungen des Zeitgeistes. Als ihn seine braunen Kumpane zum "Führer" der württembergischen Wirtschaft machten, erfüllte es ihn mit tiefer Genugtuung, nun mit "Herr Präsident" angeredet zu werden. Die Anrede wurde ihm so lieb und teuer, dass er nach dem Krieg in seinem Unternehmen eine Aufsichtsrat-Konstruktion erfand, die ihm weiterhin diesen Titel sicherte. Außerdem erkaufte er sich an der einschlägig bekannten Universität Innsbruck den reputierlichen Titel eines "Senators". Diese Senatoren-Eitelkeit verband ihn mit anderen Mittelständlern wie Wilhelm Kraut, dem Besitzer der Waagen-Fabrik Bizerba in Balingen, mit dem er persönlich befreundet war.
Die Machtergreifung Hitlers bedeutete den persönlichen Triumph Kiehns im Ringen um die kleinstädtische Vorherrschaft. Die Hohners mussten nun klein beigeben und sich mit ihm arrangieren. Kiehn fügte sich aber auch als siegreicher Repräsentant des NS-Systems durchaus in das, was die Verfasser als "Ortssolidarität" bezeichnen: So ließ er schon mal einen Trossinger Sozialdemokraten aus dem Konzentrationslager zurückholen und hütete sich, die Stimmungsmache einiger besonders verbiesterter NS-Musikideologen gegen die Hohnerschen Harmonikas zu unterstützen. Kiehn wusste wohl, dass ihn ein solcher Fauxpas die Sympathien der ganzen Bevölkerung gekostet hätte. Und auf die legte er allemal größeren Wert als auf die Feinheiten der NS-Ideologie, die er ohnehin nicht verstand.
Für Kiehn war der Nationalsozialismus vor allem eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung und Selbstbefriedigung, sozusagen ein äußerer und innerer Reichsparteitag zugleich. Eine Grußkarte zum Jahreswechsel 1938/39, die er mit "Heil dem Führer" an Geschäftsfreunde verschickte, zeigt ihn in markiger Unternehmer-Pose am Schreibtisch: In der linken Hand die Zigarre, in der rechten die abgenommene Brille, den Blick führermäßig-kühn in die Zukunft gerichtet. Daneben hängt deutlich sichtbar sein persönlicher Wahlspruch an der Wand: "Steh gerade oder zerbrich!"
Ein anderes Bild zeigt ihn 1936 anläßlich seiner Silberhochzeit mit Gattin im Foyer seiner Villa: Das Paar steht vor einer Hitler-Büste, die zur Feier des Tages mit Lorbeer bekränzt ist. In seltsamem Kontrast zu diesem heidnischen Hausaltar trägt die Gattin ein diamantenbesetztes Kruzifix. - Dabei waren es ausgerechnet die Kiehns, die in Trossingen die braune Neuheiden-Bewegung anführten und zum massenhaften Austritt aus der evangelischen Kirche aufriefen. Die Resonanz war allerdings so kläglich, dass Kiehn auf diesem Gebiet keine weiteren Kraftproben versuchte.
In Kiehns Trossinger Villa ging nun die Nazi-Prominenz des Reiches ein und aus. Er selber rückte in den Rang eines SS-Obersturmbannführers auf und gehörte zum exklusiven Freundeskreis des SS-Reichsführers Heinrich Himmler. Seine Tochter heiratete vor, während und nach dem Krieg gleich dreimal hohe SS-Chargen. Der alte Kämpfer wurde zum obersten Repräsentanten der württembergischen Wirtschaft bestellt, was nebenbei eine vorzügliche Gelegenheit bot, sich arisierte Betriebe jüdischer Unternehmer anzueignen. Als er sich allerdings die Ulmer Nutzfahrzeug-Firma Magirus unter den Nagel zu reißen versuchte, hörte für die eigenen Parteigenossen die Gemütlichkeit auf. Eines der spannendsten Momente in diesem Buch ist die detaillierte Beschreibung der innerparteilichen Machtkämpfe und Intrigen, in die auch Fritz Kiehn verwickelt wurde und die einen weiteren Mikrokosmos erhellt: Den Sumpf der Nazi-Partei, die das Chaos, in das sie am Ende Deutschland stürzte, schon innerparteilich vorexerziert hatte.
Schon kurz nach der Machtergreifung musste Kiehn feststellen, dass er eigentlich aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Er unterhielt nämlich besonders enge Beziehungen zu Gregor Straßer, den Hitler als Rivalen kaltstellte und 1934 im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches mit ermorden ließ. Dennoch bezweifeln die Verfasser, dass Kiehn im Sommer 1934 ein ähnliches Schicksal wie Straßer gedroht habe. Unstrittig scheint nur, dass sich der Führer der württembergischen Wirtschaft während der "Nacht der langen Messer" in voller SS-Montur im Wald versteckt hielt. Anscheinend - so die Vermutung der Verfasser - war sich Kiehn über den Ausgang des innerparteilichen Machtkampfes im unklaren und wollte erst mal von der Bildfläche verschwinden, bis der Sieger feststand.
Erneut von der Bildfläche verschwand Kiehn dann 1945, bevor ein paar rabiate Einwohner ihren Plan verwirklichen konnten, ihn in einem Saukäfig durch die Straßen zu führen. Ersatzweise musste der Leiter der Stadtwerke Spießruten laufen, der sich anschließend ob dieser Schande das Leben nahm. Die Besatzungsmächte fingen Kiehn und seine Familie allerdings bald darauf in Österreich ein, und die nächste Zeit verbrachte er als hochkarätiger NS-Bonze in einem französischen Lager.
Es konnte nicht ausbleiben, dass auch Kiehn bald wieder in Amt und Würden war, auch wenn er als so ziemlich letzter von der Besatzungsmacht entlassen wurde. Als er schließlich "entnazifiziert" wurde, fand er eine sehr gnädige Spruchkammer. Schon 1949 konnte er mit der Verlagerung seines Betriebs drohen, um Druck für seine völlige Rehabilitierung auszuüben. Er hatte sogar die Stirn, sich als eine Art Verfolgter des Nazi-Regimes zu präsentieren, indem er seine Kontakte zu Gregor Straßer sowie allerlei innerparteiliche Querelen in diesem Sinne umdeutete. Seine Zeit im französischen Internierungslager bezeichnete er nun als die Jahre, in denen er "im Konzentrationslager" gelitten habe.
Eine Distanzierung vom Nationalsozialismus war damit nicht beabsichtigt. Im Gegenteil: Es war stadtbekannt, dass Kiehn einer Vielzahl kleiner und großer Würdenträger des NS-Regimes eine Heimstatt bot. Neben ehemaligen Funktionären von NSDAP, SS und SA gehörten dazu auch Elly Beinhorn, die im "Dritten Reich" als Kunstfliegerin berühmt wurde, oder die Familie eines KZ-Arztes, der wegen verbrecherischer medizinischer Experimente an Häftlingen in Nürnberg zum Tode verurteilt und gehenkt worden war. Als der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis entlassen wurde, fand er ebenfalls bei Fritz Kiehn in Trossingen eine Bleibe. 1962 heiratete Kiehns Enkelin den Schirach-Sohn Robert. Damit war alles wieder in schönster brauner Butter: Der Sohn des Reichsjugendführers heiratete die Stieftochter des Adjutanten seines Vaters.
Im Übrigen fügten sich Kiehn und seine alten Kameraden aber ohne Aufsehen in die Nachkriegsverhältnisse, die bis zur Jugendrevolte von 1968 extrem konservativ-restaurativ geprägt waren. Er pflegte nun Kontakte zu Bonner Koalitionspolitikern und war stolz, Adenauer persönlich die Hand schütteln zu dürfen. Demonstrativ schlossen er und seine Gattin auch wieder Frieden mit der Geistlichkeit, indem sie pompös mit der Kutsche vor der Kirche vorfuhren. Die alte Rivalität zu den Hohners pflegte er nur noch behutsam, indem er etwa 1957 anlässlich des hundertjährigen Hohner-Jubiläums mit einer Spende für die nach ihm benannte Fritz-Kiehn-Sporthalle dagegenhielt. Ansonsten konzentrierte er sein Mäzenatentum vor allem auf den örtlichen Reiterverein. Für den nach ihm benannten Fritz-Kiehn-Platz stiftete er ein Pferde-Standbild, das selbstverständlich ein ehemaliger Nazi-Künstler in Bronze goss.
Man ersieht daraus, dass Fritz Kiehn am Ende seines Lebens - er starb 1980 mit 94 Jahren - doch wieder zum geachteten Mitbürger und Wohltäter seiner Gemeinde avancierte. Daran änderte auch nichts, dass er seinen Betrieb noch vor den Hohners herunterwirtschaftete, so dass 1972 eine von den Gläubigern erzwungene Sanierung erfolgte, die ihn als Unternehmer entmachtete. Wesentlichen Anteil an der Misswirtschaft hatten die alten Kameraden, die er vorzugsweise in leitenden Positionen eingestellt hatte, obwohl sie vom Geschäft nicht viel verstanden.
Einmal noch schlug Kiehn allerdings über die Stränge. Das war 1953, als er über die Freiwillige Wählervereinigung in die Kommunalpolitik einstieg und auf Anhieb die höchste Stimmenzahl erreichte - zum Entsetzen vieler seiner Wähler selber, die den dominanten Hohners eigentlich nur mal einen Denkzettel verpassen wollten. Der triumphale Einzug Kiehns in den Gemeinderat verwandelte sich aber flugs in einen hochkantigen Hinauswurf: Der Chef des Hohner-Clans schmiedete eine geschlossene Abwehrfront sämtlicher Gemeinderatsmitglieder aus FDP, CDU und SPD, die Kiehn in einer gemeinsamen Erklärung das Misstrauen aussprachen und jegliche Zusammenarbeit mit ihm ablehnten. Der Populist schäumte zwar, zog sich aber aus dem Gemeinderat zurück und verzichtete fortan auf die Rolle des Volkstribuns.
Soweit ein paar Schlaglichter aus dieser hochinteressanten politisch-sozialen Milieustudie, die man eigentlich verfilmen müsste, um sie in ihrem ganzen Detailreichtum wiederzugeben. Noch vor nicht allzulanger Zeit wäre dieses Buch politisch ziemlich brisant gewesen, weil es Hintergründe durchleuchtet, die tabuisiert waren. Heute ist es zumindest ein Leckerbissen für historisch Interessierte, und für die Kenner der örtlichen Verhältnisse liest es sich noch immer so spannend wie ein Krimi.
(PB 4/00/*leu)