PresseBLICK-Rezensionen | Stromwirtschaft |
In diesem Monat überraschte die Handelskette ProMarkt mit dem Angebot, jedermann den Strombezug für 29,5 Pfennig pro Kilowattstunde zu ermöglichen. Als Lieferant und neuer Vertragspartner der Tarifkunden wurde eine bislang völlig unbekannte Gesellschaft genannt. Wie diese ihr Versprechen einlösen will, blieb vorerst schleierhaft. Es gibt nämlich noch keine praktikable Durchleitungs-Regelung für Kleinverbraucher, die sich ihren Stromlieferanten im Supermarkt aussuchen. Vielleicht wurde die Werbekampagne bereits im Vorgriff auf die derzeit verhandelte Revision der Verbändevereinbarung zur Durchleitung und die geplante Einführung synthetischer Lastprofile für Haushaltstarifkunden gestartet. Vielleicht spekulieren die Urheber sogar auf eine Beeinflussung der neuen Regelungen in ihrem Sinne, indem sie zunächst einmal ein Heer von wechselbereiten Kunden rekrutieren. Aber auch dann blieben noch etliche Fragen und Risiken zu Lasten des Kunden ungeklärt. Die Öffentlichkeitsarbeiter der EVU waren deshalb gut beraten, wenn sie auf unklare Punkte des Angebots verwiesen und beispielsweise in Anzeigen davor warnten, nicht jeden Frosch zu küssen, der angeblich ein verwunschener Prinz ist...
Wie dem auch sei: Offensichtlich erreicht der liberalisierte Strommarkt die Haushalte und andere Kleinverbraucher wesentlich schneller, als dies zunächst der Fall zu sein schien. Zunächst waren es nur die Großverbraucher, die sich über ein kontinuierliches Sinken der Strompreise freuen durften. Inzwischen hört man immer häufiger auch von Preissenkungen für Tarifkunden. Beispielsweise reagierten etliche Stromversorger auf das erwähnte Angebot der Promarkt-Kette, indem sie ihren Kunden einen zumindest genauso günstigen Tarif in Aussicht stellten.
Der liberalisierte Strom-Markt funktioniert also. Er legt sogar ein viel schnelleres Tempo vor, als man dies noch vor einem Jahr - je nach Standpunkt - befürchtet oder gehofft hatte. Das überkommene Gefüge der deutschen Stromwirtschaft bröckelt allenthalben. Um im Wettbewerb mithalten zu können, wird auf allen Ebenen rationalisiert, kooperiert und fusioniert. Das ehemals kommode Nebeneinander der Stromversorger ist scharfem Wettbewerb gewichen, der teilweise schon wie ein Hauen und Stechen anmutet.
Wichtigstes Element dieses Wettbewerbs ist der "verhandelte Netzzugang" nach Paragraph sechs des neuen Energiewirtschaftsgesetzes, der die Betreiber von Stromversorgungsnetzen zur "Durchleitung" verpflichtet. Ohne dieses Instrument bliebe die Aufhebung der kartellrechtlichen Ausnahmeregelung für die geschlossenen Versorgungsgebiete der EVU vorerst ziemlich wirkungslos, da Konkurrenten nur in Ausnahmefällen in der Lage wären, eigene Leitungen zu bauen, um Kunden im angestammten Revier eines EVU zu versorgen. Der Netzbetrieb stellt nun mal - anders als die Erzeugung und der Handel mit Strom - ein natürliches Monopol dar.
Es ist gar nicht so einfach, dieses natürliche Monopol des Netzbetriebs zu überlisten und dadurch den Wettbewerb zu ermöglichen. Zum Glück braucht sich damit nur ein kleiner Kreis von Fachleuten herumzuschlagen. Den Kunden, der z.B. beim ProMarkt den Stromversorger wechselt, lassen diese Fragen kalt. Andernfalls lägen in den Schaufenstern der Buchhandlungen längst Bestseller mit Titeln wie "Tausend Tips und Tricks zur Durchleitung" oder "Hilfe, mein Stromversorger beruft sich auf mangelnde Netz-Kapazität!".
Das heißt nun allerdings nicht, daß für den kleinen Kreis von Betroffenen alles klar wäre. Wie groß der Bedarf an Rat und (Über-)Lebenshilfe im liberalisierten Strom-Markt ist, zeigen zum Beispiel die Seminar-Angebote, die altgedienten Stromern alle paar Wochen auf den Schreibtisch flattern und ihnen versprechen, sie für einen vierstelligen Teilnehmerbeitrag mit den Finessen der Durchleitung oder des Stromhandels vertraut zu machen.
Eher dünn ist dagegen das Literatur-Angebot zu Fragen der Durchleitung und des Stromhandels. Oder um es positiv auszudrücken: Auch hier funktioniert der Markt, indem er eine auflagenmäßig belanglose Randgruppe so gut wie ignoriert. Wer nach Literatur zur Durchleitung sucht, muß sich mit wissenschaftlichen Gutachten, Dissertationen und ähnlich schwer verdaulicher Kost begnügen.
In diesem bescheidenen Rahmen erzielte das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln (EWI) geradezu einen Bestseller, als es 1997 die Studie "Durchleitungsbedingungen für Strom und Gas" als Band 51 seiner Schriftenreihe herausbrachte. Die Auflage von 400 Exemplaren war bald vergriffen und mußte durch eine Neuauflage in derselben Höhe ergänzt werden.
Die Studie wurde bereits im Juli 1997 vorgelegt. Es handelt sich um ein Gutachten für das hessische Umweltministerium, das aus berufenem Munde wissen wollte, was da eigentlich auf die Stromwirtschaft und die Aufsichtsbehörden zukommt. Damals war bereits die Strommarktrichtlinie der EU beschlossen und vom Europäischen Parlament bestätigt worden, welche die sukzessive Öffnung der nationalen Strommärkte vorschreibt. Es fehlte aber noch die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, die bis Februar 1999 vorgeschrieben war. In Deutschland erfolgte diese Umsetzung bereits ein Jahr früher durch das neue Energiewirtschaftsgesetz und ging mit einer völligen Liberalisierung noch erheblich über die Brüsseler Anforderungen hinaus.
Da seit Fertigstellung der Studie inzwischen zwei Jahre vergangen sind, wird der Leser das neue Energiewirtschaftsgesetz darin vergebens suchen. Die derzeit gültige Durchleitungsregelung konnte ebenfalls nur näherungsweise (auf der Grundlage der Vorstellungen der VDEW-Arbeitsgruppe "Durchleitungsentgelte" vom Oktober 1996) berücksichtigt werden. Dennoch wird, wer grundsätzlich an Fragen der Durchleitung interessiert ist, dieser Studie vielleicht gerade deshalb einen gewissen Reiz abgewinnen können: Vor dem teilweise noch unklaren Hintergrund der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht behandelt sie die möglichen Durchleitungsbedingungen für Strom und Gas um einiges grundsätzlicher als dies bei einer bloßen Erläuterung schon feststehender Regelungen der Fall sein würde. Zum Beispiel werden verschiedene Möglichkeiten zur Preisbildung für Durchleitungsentgelte erörtert: Komplizierte Lastfluß-Berechnungen werden ebenso durchgespielt wie andere Methoden, die eine weniger exakte, dafür aber einfachere Berechnung des Durchleitungsentgelts ermöglichen.
Die Studie erläutert zunächst die ordnungsrechtlichen Rahmenbedingungen, wie sie seinerzeit durch die neuen EU-Richtlinien, das alte deutsche Energierecht und durch das höchstrichterliche Urteil im Streit um die Gas-Durchleitung für die Papierfabrik Weißenborn gegeben waren. Es folgt eine grundsätzliche Charakterisierung der Märkte für die leitungsgebundenen Energieträger Strom und Gas. Die Autoren erläutern die technischen Voraussetzungen der Durchleitung und unterscheiden davon die Durchleitung als kommerzielle Transaktion, deren Akteure von diesen technischen Voraussetzungen so wenig wie nur möglich behelligt sein wollen. Das Kernstück bildet mit fast neunzig Seiten die Darlegung von verschiedenen ökonomischen Konzepten für Zugangs- und Entgeltregelungen. Sehr ausführlich werden auch die Netzzugangsbedingungen und Netznutzungspreise in den USA, England und Norwegen beschrieben, wo die Liberalisierung der Märkte für Strom bzw. Gas bereits weiter fortgeschritten war.
Die Studie verdeutlicht unter anderem die Bedeutung des "Unbundlings" für die Entflechtung des gordischen Knotens, den bisher die vertikal strukturierte Stromwirtschaft und das natürliche Monopol des Netzbetriebs darstellten: In der Minimalanforderung, wie sie das neue Energiewirtschaftsgesetz enthält, bedeutet Unbundling die Einführung getrennter Rechnungslegung für die Bereiche Übertragung und Verteilung. In der Praxis gingen schon jetzt viele Energieversorger über diese Mindestanforderung hinaus, indem sie ihre bisher vertikale Struktur auflösten und rechtlich eigenständige Gesellschaften für Netzbetrieb, Kraftwerke, Vertrieb und andere Geschäftsbereiche gründeten.
Das Unbundling schafft die Voraussetzungen dafür, daß sich die Kosten des Netzbetriebs überhaupt ermitteln und einem Konkurrenten, der die Durchleitung begehrt, einigermaßen objektiv in Rechnung stellen lassen. Zum Beispiel müssen nun auch Systemdienstleistungen wie Frequenzhaltung, Spannungshaltung und Blindleistung, die früher wie selbstverständlich von den Kraftwerken erbracht wurden, genau berechnet und von den Kosten des eigentlichen Strombezugs getrennt werden. Im Prinzip kann nun sogar eine Systemdienstleistung wie die Blindleistung von einem anderen Anbieter als dem Stromlieferanten gekauft werden. Oder sie wird für den Umfang einer vereinbarten Durchleitung vom Durchleiter gestellt, was die Rechnung des Netzbetreibers entsprechend verringert.
Die Studie verdeutlicht andererseits aber auch, daß es illusorisch wäre, die effektiven Kosten einer Durchleitung tatsächlich bis auf den letzten Pfennig berechnen zu wollen. Das beginnt schon damit, daß etwa die Systemdienstleistungen der Übertragungsnetzbetreiber nur im Viertelstunden-Takt gemessen werden. Es ist meistens auch unmöglich, exakt zu berechnen, in welchem Ausmaß eine Durchleitung bestimmte Netzabschnitte belastet, da sich der Stromfluß innerhalb des Netzes gemäß dem Kirchhoffschen Gesetz verzweigt. Hinzu kommt, daß sich entgegengerichtete Lastflüsse kompensieren, so daß z.B. eine Durchleitung von A nach B die Leitungskapazität nicht einengt, wenn gleichzeitig eine Durchleitung gleichen Umfangs von B nach A erfolgt. Last not least steigen mit dem Rechenaufwand die Transaktionskosten, was die Durchleitung entsprechend verteuert und den erwünschten Wettbewerb behindert. Ein gewichtiges Argument für möglichst pauschalierte und standardisierte Berechnungsverfahren ist schließlich die notwendige Transparenz für Außenstehende: Zum Beispiel ist ein Rechnungsbestandteil wie der "Gleichzeitigkeitsfaktor" allenfalls für den Netzbetreiber begrifflich nachvollziehbar und anhand interner Daten überprüfbar. Der Stromhandel braucht dagegen die schnelle Vergleichbarkeit von Stromangeboten, ohne erst umständlich ermitteln zu müssen, wie hoch die jeweiligen Durchleitungskosten sind. Das gilt in noch stärkerem Maße, wenn demnächst die Strombörse in Frankfurt eröffnet, die den Stromhandel institutionalisieren und noch stärker standardisieren wird.
Zur Vermeidung der hohen Transaktionskosten, die eine möglichst genaue Berechnung individueller Durchleitungsfälle erfordert, empfehlen die Verfasser der Studie grundsätzlich den "Briefmarkentarif", der sich aus der Division der gesamten Netzkosten durch die Menge der übertragenen Last ergibt. Wer noch nicht weiß, wie man so eine Berechnung durchführt oder welche Vor- und Nachteile der Briefmarkentarif hat, findet das Prozedere hier auf mehreren Seiten sehr gut beschrieben.
(PB Juni 1999/*leu)