PresseBLICK-Rezensionen | Stromwirtschaft |
In der deutschen Energiewirtschaft herrscht Aufbruchs- und Abschiedsstimmung zugleich. Das neue Energierecht, das seit 29. April in Kraft ist, setzt neue Rahmenbedingungen. Die geschlossenen Versorgungsgebiete, die durch Demarkationsverträge und exlusive Konzessionsverträge geschützt wurden, gehören der Vergangenheit an. Stromlieferanten brauchen über keine eigenen Leitungen mehr zu verfügen, um mit einem Kunden handelseinig zu werden. Es genügt, wenn die technischen Voraussetzungen für die "Durchleitung" des Stroms zum Kunden gegeben sind. Der damit ermöglichte Wettbewerb dürfte die Stromwirtschaft der Bundesrepublik binnen weniger Jahre stärker verändern als in den Jahrzehnten zuvor.
Rechtzeitig zum Abschied von den alten Verhältnissen veröffentlicht das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität Köln (EWI) die vorliegende Untersuchung, die ein gestochen scharfes Panorama der deutschen Energielandschaft bei Inkrafttreten der Liberalisierung bietet. Das voluminöse Werk aktualisiert und erweitert eine Studie, die 1977 unter demselben Titel erschien. Als Autoren zeichnen gemeinsam, in alphabetischer Reihenfolge, Peter Drasdo, Jens Drillisch, Ingo Hensing, Martin Kreuzberg, Peter Kreuzberg, Alexander Nolden, Jens Perner, Christoph Riechmann, Walter Schulz, Thomas Schuppe und Frank Starrmann. Daß zwischen beiden Studien über zwanzig Jahre liegen, merkt man auch daran, daß keiner der elf Autoren an der Vorgänger-Studie mitgewirkt hat.
Auftraggeber war, wie schon bei der ersten Studie, das Bundeswirtschaftsministerium: Man wünschte sich dort 1995 eine aktuelle Bestandsaufnahme von Formen und Intensität des Wettbewerbs in der deutschen Energiewirtschaft. Ferner ging es um eine Bewertung der Situation unter wettbewerbs- und energiepolitischen Gesichtspunkten, um eine Abschätzung der weiteren Entwicklung auf den Energiemärkten und das Aufzeigen von Chancen sowie möglichen Fehlentwicklungen. Schließlich sollten auch noch die Ziele Umweltschutz und Versorgungssicherheit explizit berücksichtigt werden.
Das Ergebnis ist von erheblichem Gewicht: Mit 582 Seiten im Großformat DIN A 4 bringt der Band 1,6 Kilo auf die Waage. Der Preis von 248 DM dürfte manchen Geldbeutel sogar über Gebühr belasten. Dabei handelt es sich nur um eine Kurzfassung. Die ausführliche Version für das Bundeswirtschaftsministerium hat 1600 Seiten. Hinzu kommen zwei Zwischenberichte, die dem Auftraggeber bereits 1996 zugingen.
Speziell mit der Stromwirtschaft befaßt sich etwa ein Viertel der Seiten. Aber auch der übrige Text weist etliche Bezüge zur Elektrizitätswirtschaft auf. Dafür sorgen schon die engen Verbindungen zwischen Stromerzeugung und Braunkohlenbergbau (vertikale Integration) und das Engagement von Stromunternehmen in der Gaswirtschaft (konglomerate Integration), das sich nach Feststellung der Autoren in der jüngsten Vergangenheit deutlich verstärkt hat. Ferner ist dem Entsorgungsmarkt für Kernenergie ein eigener Abschnitt gewidmet.
Die Autoren stützen sich auf die vorhandenen Daten, wie sie von der VDEW, sonstigen Verbänden oder amtlichen Stellen ermittelt wurden. Insofern bietet das Werk für den, der die einschlägigen Statistiken kennt, keine überraschenden Einsichten. Sie haben dieses Datenmaterial aber so aufbereitet und zum Teil durch eigene Berechnungen ergänzt, wie es der Zielsetzung ihrer Untersuchung entsprach. Vor allem haben sie sich nicht damit begnügt, die Marktanteile der rechtlich selbständigen Unternehmen zu untersuchen, sondern haben sich in den Dschungel der vielfältigen kapitalmäßigen Verflechtungen zwischen diesen Unternehmen gestürzt und beispielsweise die faktischen Marktanteile einzelner Verbundunternehmen aufgrund deren Beteiligungen an Gemeinschaftskraftwerken, anderen Verbundunternehmen, Regionalversorgern oder Stadtwerken durchgerechnet.
Sie gelangten so zu dem Ergebnis, daß die Konzentration der Stromerzeugung in den letzten zwanzig Jahren deutlich zugenommen hat. Während die Vorgängerstudie für die acht Verbundunternehmen im Jahre 1974 einen Anteil von 68 Prozent an der gesamten Bruttostromerzeugung ermittelte, ergibt die erneute Durchrechnung der Kapitalbeteiligungen für die neun Verbundunternehmen des Jahres 1994 einen Anteil von knapp über 80 Prozent. Allein die Konzerne RWE und Veba vereinigten mehr als die Hälfte der öffentlichen Stromerzeugung auf sich. Drittgrößter Stromerzeuger war der Viag-Konzern mit einem Anteil von über 10 Prozent. Die Stromerzeugung des ostdeutschen Verbundunternehmens Veag schrumpft dagegen unter Berücksichtigung der Kapitalverhältnisse gegen null.
Marktmacht gründet sich aber nicht nur auf Stromerzeugung. Gerade im Zeichen der Liberalisierung ist auch die Verfügung über Transport- und Verteilungsnetze von großer Bedeutung. Wie aus der Studie hervorgeht, betrug die Länge aller Leitungen der öffentlichen Stromversorgung 1995 in Deutschland 1 535 174 Kilometer. Davon entfielen auf Kabel 1 019 980 Kilometer (66 %) und auf Freileitungen 515 194 Kilometer (33 %). Den größten Anteil an den Leitungslängen hatten die Nieder- und Mittelspannungskabel (zusammen 65 %). Damit wird deutlich, daß der überwiegende Teil der in Deutschland installierten Leitungskapazität der Stromverteilung dient. Auf Hoch- und Höchstspannungsleitungen entfallen nur rund 7,5 Prozent der gesamten Leitungslänge. Unter Berücksichtigung von Kapitalbeteiligungen befinden sie sich zu über 80 % im Besitz der Verbundunternehmen. Allein RWE und Veba verfügen über knapp die Hälfte der Hoch- und Höchstspannungsleitungen.
In der jüngeren Vergangenheit hätten sich durch Beteiligungen und Zusammenschlüsse bedeutende Veränderungen in der Unternehmensstruktur auf dem deutschen Stromerzeugungsmarkt ergeben: So schlossen sich EVS und Badenwerk zusammen, die Stuttgarter Stadtwerke fusionierten mit den Neckarwerken, das Bayernwerk sicherte sich die Mehrheit an den Isar-Amperwerken und in Berlin übernahm ein Konsortium auswärtiger Energieunternehmen die Bewag. Mit Ausnahme der Stadtwerke München seien mittlerweile alle großen Stromerzeuger mehr oder weniger intensiv durch Beteiligungen miteinander verflochten.
Auch auf der Verbraucherseite stellen die Autoren eine deutliche Konzentration fest: So würden die Tarifkunden zwar zahlenmäßig rund 99 Prozent der Verbraucher repräsentieren, aber nur 41 Prozent der Nachfrage auf sich vereinen. Betrachte man das restliche Prozent der Sondervertragskunden, so seien innerhalb dieses Segments 99 Prozent für nur 45 Prozent der Nachfrage verantwortlich. Oder anders gesagt: Bei den Sonderverträgen entfällt mehr als die Hälfte der Stromabgabe auf ein Prozent der Kunden.
Um die Konzentration in einem Wirtschaftsbereich grafisch darzustellen, bedienen sich die Statistiker gern der sogenannten Lorenz-Kurve, die z.B. angibt, wieviel Prozent der Unternehmen (Abszisse) wieviel Prozent der Umsätze (Ordinate) auf sich vereinigen. Die Abweichung der Lorenz-Kurve von der Winkelhalbierenden des Koordinatensystems (Zustand der Parität) in Richtung der Abszisse veranschaulicht dabei das Ausmaß der Konzentration. Der vorliegende Band enthält neben einer Vielzahl anderer Diagramme und Tabellen zwei solcher Lorenz-Kurven. Die eine zeigt die Konzentration bei der Netto-Stromerzeugung: Hier hängt die Kurve sackartig unter der Winkelhalbierenden durch und schließt erst ab der 90-Prozent-Marke wieder zu ihr auf. Die Ausbuchtung verläuft für das Jahr 1994 noch deutlich ausgeprägter als für das Jahr 1970. Das andere Diagramm veranschaulicht die Konzentration auf der Nachfrageseite: Hier verläuft die Lorenz-Kurve sowohl für die Tarifkunden als auch für die Sondervertragskunden mit nur etwa der halben Steigung und fast geradlinig unterhalb der Winkelhalbierenden, ehe sie dann am Ende der Abszisse, bei 99 Prozent, fast senkrecht nach oben schießt.
In welcher Weise die Liberalisierung des Strommarkts diese Konzentrations-Kurven verändern wird, steht vorläufig dahin. Als sicher gilt, daß viele Stromversorger verschwinden werden. Die Lorenz-Kurve erfaßt aber nur die relative Konzentration bzw. die Ungleichheit zwischen den Marktanteilen einer gegebenen Anzahl von Marktteilnehmern. Dagegen widerspiegelt sie nicht den Grad der absoluten Konzentration, der durch die Verringerung der Zahl der Marktteilnehmer entsteht.
Zu bedenken ist ferner, daß zwischen Konzentration und Wettbewerb ein ziemlich vertracktes Verhältnis besteht: Sie sind zwar tendenziell feindliche Brüder, graben sich aber nicht automatisch das Wasser ab. Konzentration kann aus volkswirtschaftlicher Sicht sogar erwünscht sein, wenn dadurch die unternehmerische Leistungskraft gestärkt und die gesamtwirtschaftliche Produktivität erhöht wird. Sie wird erst dann bedenklich, wenn sie zu marktbeherrschenden Stellungen und damit zu einer Ausschaltung des Wettbewerbs führt.
Die Autoren enthalten sich präziser Prognosen zur künftigen Entwicklung der deutschen Energiewirtschaft. Sie geben aber klar zu erkennen, daß sie - durchaus in Übereinstimmung mit der seit Jahrzehnten vertretenen Position ihres Instituts - die Liberalisierung der Energiewirtschaft unterstützen. Beispielsweise halten sie nichts von dem Argument, daß die Aufhebung der geschützten Versorgungsgebiete zum "Rosinenpicken" führe, indem fremde Anbieter dem bisher zuständigen Versorger die Großkunden abwerben und ihm nur noch das undankbare Geschäft der flächendeckenden Versorgung von Tarifkunden überlassen. Tatsächlich bewirke der Verlust eines Großkunden an einen Konkurrenten vor allem Netzkosten, die nicht abgebaut werden könnten. Aber gerade die Netzkapazität bleibe ja weiterhin erhalten, da das Netz von dem neuen Lieferanten für die Durchleitung zu dem gewonnenen Kunden in Anspruch genommen wird und die Kosten durch das Durchleitungsentgelt gedeckt werden. Der Verlust von Kunden beeinträchtige somit nicht das Netzgeschäft, sondern das Erzeugungs- und/oder Handelsgeschäft. Dies sei aber "Teil des normalen Wettbewerbs".
Eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs sehen die Autoren hingegen, wenn eingesessene Versorgungsunternehmen weiterhin verpflichtet werden, im öffentlichen Interesse bestimmte Aufgaben wie die Förderung der Stromerzeugung aus regenerativen Energienquellen wahrzunehmen, während Wettbewerber dieser Verpflichtung nicht oder in geringerem Maße unterliegen. Hier könne die wettbewerbskonforme Lösung nur darin bestehen, "die Finanzierungslast von den Unternehmen, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind, zu nehmen, und diese Aufgaben stattdessen durch die öffentliche Hand oder die Gesamtheit der Nutzer finanzieren zu lassen." - Also eine klare Absage an das Stromeinspeisungsgesetz, das erst vor kurzem zusammen mit dem Energiewirtschaftsgesetz novelliert worden ist.
Insgesamt dürfte die vorliegende Studie eher für den akademisch Interessierten als für den Praktiker der Energiewirtschaft nützlich sein. Ihr bleibender Wert besteht darin, daß sie kurz vor Inkrafttreten der Liberalisierung nochmals eine umfassende Bestandsaufnahme der deutschen Energiewirtschaft vorgenommen hat. Sie liefert damit gute Vergleichsmaßstäbe für die künftige Entwicklung von Konzentration und Wettbewerb in diesem Bereich. Daneben kann sie mit zahlreichen Fakten, Tabellen und Diagrammen auch als Nachschlagwerk zum gegenwärtigen Zustand der Energiewirtschaft dienen, solange sich dieser noch nicht allzuweit vom Zeitpunkt der Erhebung entfernt hat.
(PB Juli 1998/*leu)