PresseBLICK-Rezensionen | Stromwirtschaft |
Energiewirtschaftler und -techniker schätzen seit vielen Jahren das "Handbuch Kernenergie" von Hans Michaelis. Es entstand einst aus dem Buch "Kernenergie", das 1977 in der Reihe dtv wissenschaft erschien. Zu dieser Zeit vollzog sich in der öffentlichen Meinung der Umschwung von einer fast euphorischen Bejahung der Kernenergie zu einer zunehmend ablehnenden Haltung, wobei anfangs relativ kleine Probleme wie die Erwärmung von Flüssen oder die Nebelschwaden von Kühltürmen im Vordergrund standen. Erst nach dem Reaktorunfall von Harrisburg im März 1979 überwog die Sorge wegen eines möglichen Störfalls mit der Freisetzung radioaktiver Stoffe. Michaelis hat sich den neu auftauchenden Fragen zu stellen versucht, als er sein Buch zu einem zweibändigen "Handbuch der Kernenergie" erweiterte, das 1982 wiederum in der Reihe dtv wissenschaft herauskam. 1986 folgte eine aktualisierte Fassung, die im Econ-Verlag erschien. Sie berücksichtigte auch das bislang schwerste Reaktorunglück, das sich just in diesem Jahr in Tschernobyl ereignet hatte. Inzwischen war das Handbuch zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk geworden. Um so mehr wurde von vielen bedauert, daß es über viele Jahre hinweg keine Aktualisierung mehr erlebte - gerade so, als würde sich im Schicksal dieses Buches die gebrochene Dynamik der Kernenergie widerspiegeln.
Mit der nunmehr vorliegenden, vierten und vollständig überarbeiteten Ausgabe wird wiederum der Versuch gemacht, die Problematik der Kernenergie in ihrer Gesamtheit darzustellen: physikalisch-technisch, rohstoff-, energie- und industriewirtschaftlich, binnen- und außenwirtschaftlich, unter Umwelt- und Sicherheitsaspekten sowie auch hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen. Außerdem werden auf gut einem Viertel der insgesamt 890 Seiten Fragen behandelt, die mit der Kernenergie unmittelbar nichts zu tun haben. So wird, wie schon in der vorigen Ausgabe, auch ein ausgiebiger Seitenblick auf Stand und Möglichkeiten der erneuerbaren Energien geworfen. Die Herausgeber leiten daraus den im Untertitel formulierten Anspruch ab, nicht nur ein Handbuch der Kernenergie anzubieten, sondern darüber hinaus mit einem "Kompendium der Energiewirtschaft und Energiepolitik" dienen zu können.
Vor allem die Umwälzungen im Osten und die deutsche Wiedervereinigung haben die Kernenergie-Landschaft nachhaltig verändert. Das Handbuch schließt in der aktualisierten Fassung viele Informationslücken, die von 1986 bis 1995 entstanden sind. Die Darstellung des Ablaufs der Katastrophe von Tschernobyl wurde bewußt nochmals in voller Breite aus der Auflage von 1986 übernommen. Sie wird an anderer Stelle ergänzt durch einen Blick auf die Folgen, wie sie sich aus der Distanz von neun Jahren erkennen lassen.
Die Aktualisierung ist von über 60 namhaften Autoren der verschiedensten Fachrichtungen besorgt worden. Der inzwischen 81jährige Hans Michaelis hat sich auf die Rolle des Herausgebers zurückgezogen. Als Mitherausgeber steht ihm der 62jährige Carsten Salander zur Seite. Salander ist ebenfalls ein ausgewiesener Kernenergie-Experte. Unter anderem war er von 1974 bis 1977 für die Kernkraftwerke der PreussenElektra zuständig. Anschließend wurde er Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK).
In ihrem gemeinsamen Vorwort geben die Herausgeber der Hoffnung Ausdruck, daß es ihnen gelungen sei, ein möglichst geschlossenes und widerspruchsfreies Bild von Lage und Entwicklungsmöglichkeiten der Kernenergie zu zeichnen - "zumal die Geschichte der Kernenergie nach Meinung der Herausgeber noch nicht zu Ende geschrieben ist".
(PB 1/96/*leu)