PresseBLICK-Rezensionen | Stromwirtschaft |
Alle Wirtschaftsbereiche - auch und besonders die Stromwirtschaft - sind Teil eines gesellschaftlichen Umfeldes, das in stetiger Veränderung begriffen ist und dessen Veränderungen sie sich anpassen müssen, um überleben zu können. Dies ist der Grundgedanke des vorliegenden Buches. Der Autor hat sich speziell vorgenommen, die Abhängigkeit der schweizerischen Stromwirtschaft vom gesellschaftlichen Umfeld zu untersuchen und die Voraussetzungen eines für diese Branche maßgeschneiderten "Umfeldinformations-Systems" (UIS) zu ergründen.
Das Buch ist aus einer Dissertation entstanden. Der Autor spricht seinen besonderen Dank den Professoren Kneschaurek und Vester aus, die seine akademischen Lehrer waren und auf die er sich im Text und im Literaturnachweis auch am häufigsten beruft. Der bekanntere der beiden Mentoren, Frédéric Vester, hat ein Geleitwort beigesteuert und findet darin lobende Worte für die Arbeit des Schülers: Seine Vorschläge bildeten für die schweizerische Stromwirtschaft die Voraussetzung dafür, "sich ohne Gefahr aus der diagnostizierten Erstarrung zu lösen".
Die schweizerische Stromwirtschaft ist wie die deutsche auf drei Ebenen angesiedelt: Mit sechs "Überlandzentralen" an der Spitze, einer größeren Zahl regionaler Versorgungsunternehmen auf der mittleren Ebene und einer Vielzahl kommunaler Endversorger. Die technisch-wirtschaftlichen Aufgaben sind auf diesen drei Ebenen - ähnlich wie in Deutschland - schwerpunktmäßig verteilt, aber nicht scharf abgegrenzt. Last not least sind auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in beiden Ländern recht ähnlich. Da der eingangs erwähnte Grundgedanke des Werks zweifellos richtig ist, könnte also der Blick über die Grenze lohnend sein.
Der Leser wird sich freilich auf eine recht abstrakte, trockene Lektüre gefaßt machen müssen, die ihre Abkunft von einer Dissertation nicht verleugnen kann. Beim Lesen fällt einem unwillkürlich das bekannte Bonmot über Psychologen ein, "die das, was jedermann weiß, in einer Sprache sagen, die keiner versteht". Was sich aus den kybernetisch verklausulierten Ausführungen des Autors herausdestillieren läßt, ist nämlich auch nicht mehr als das, was sehr oft als Kritik an der Stromwirtschaft zu hören ist: Sie bleibe dem Wachstums-Denken verhaftet, sei in die Großtechnologie vernarrt, leide unter Betriebsblindheit und ignoriere überhaupt beharrlich die Zeichen der Zeit. Praktische Hinweise für die Verbesserung der "Umfeldinformation" sind der Lektüre nicht zu entnehmen.
Der Autor bescheinigt der Branche eine "tendenziell innovationsfeindliche Haltung". Angesichts des aufgebrochenen Dissenses zu großen Teilen der Öffentlichkeit - in der Schweiz ist neben der Kernenergie neuerdings auch die traditionell bedeutsame Wasserkraft umstritten - versuche sie zwar, die Versäumnisse durch verstärkte Kommunikation mit der Öffentlichkeit nachzuholen. Dieses Bemühen erschöpfe sich jedoch in Image-Pflege und ändere aus Sicht der Kritiker wenig an der "inakzeptablen Grundeinstellung".
Nach Ansicht des Autors verletzt die Branche "mehrere Grundregeln erfolgreicher Organisationsformen der lebenden Natur". Zum Beispiel werde die Regel verletzt, daß die negative Rückkopplung über die positive Rückkopplung dominieren muß: "Die das Wachstum fördernden Mechanismen werden in keinem Fall durch übergeordnete Regelkreise innerhalb des betrachteten Systems in ihrer Entfaltung gehemmt, so daß damit zu rechnen ist, daß sie erst durch ein Wirksamwerden von Mechanismen außerhalb des hier betrachteten Untersuchungsfeldes zum Stillstand gebracht werden können (so z.B. durch ökologische Katastrophen oder gesellschaftliche Umbrüche). Dies könnte allerdings gleichbedeutend sein mit der Zerstörung des Systems an sich."
Der Autor beruft sich bei seinen Erkenntnissen auf Interview-Gespräche mit Vertretern der Branche sowie eine "Blitzumfrage zum Stand der Technik in der Energiebedarfsprognose", die er an die schweizerischen EVU verschickt hat. Das Ganze klingt also zunächst nach hochwissenschaftlicher Bestätigung altbekannter Kritik an der Stromwirtschaft. Der empirische Unterbau der Studie macht indessen einen schwachbrüstigen Eindruck. Den kybernetischen Verallgemeinerungen fehlt es an konkret-anschaulicher Substanz. Es bleibt für den Leser undurchsichtig und nicht nachvollziehbar, wie der Autor zu seinen Thesen gelangt. Es entsteht deshalb leicht der Eindruck, hier würden vorgefaßte Meinungen im Gewand einer kybernetischen Studie vorgetragen.
Das heißt nicht, daß eine Branche wie die Stromwirtschaft kein taugliches Objekt für kybernetische Überlegungen sei. Das Instrumentarium der Kybernetik ist fast so universell anwendbar wie es mathematische Formeln sind. Aber genau darin liegt die Tücke: Mit beiden läßt sich, bei formaler Korrektheit, allerlei Unsinn anstellen. Das klassische Beispiel ist jener Prognostiker, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer einfachen mathematischen Formel errechnete, wann London im Mist der Pferdefuhrwerke ersticken werde. Noch größeren Unwägbarkeiten sieht sich der Kybernetiker gegenüber, wenn er ökonomische Prozesse oder andere komplexe Sachverhalte untersucht. Die Komplexität der Zusammenhänge zwingt da zu Vereinfachungen und Interpolationen, die zu unterschiedlichen oder sogar konträren Ergebnissen führen können. Die Steuer-, Regelungs- und Rückkopplungsprozesse werden zunehmend unübersichtlich und unkalkulierbar. Daran ändern das schönste kybernetische Modell, das ausgefeilteste Szenario und die detaillierteste Matrix nichts. Am Ende macht es dann gar keinen so großen Unterschied mehr, ob jemand die Veränderung des gesellschaftlichen Umfelds bloß intuitiv einschätzt oder im Lichte der Kybernetik ein "Umfeldinformations-System" auszuarbeiten beginnt. Wer sich auf den gesunden Menschenverstand verläßt und einfach eine Lösung probiert, kommt womöglich sogar schneller und effektiver ans Ziel als der Kybernetiker, der "heuristisch" vorgeht, Konzepte der "iterativen Annäherung" bemüht oder von "trial and error" spricht.
Der Autor scheint sich der Einsicht, daß sein Werk der Stromwirtschaft keine praktische Hilfe bietet, selber nicht ganz verschließen zu können. Jedenfalls schreibt er: "Die Tiefe des kommunikativen Grabens zwischen Prognostikern und den Anwenden von Prognosen in Wirtschaft und Politik im Sinne dieser Ausführungen läßt sich daran erkennen, daß beide Seiten auch über eine spezifische Fachliteratur zu diesem Thema verfügen, welche das Problem aus einer tendenziell einseitigen Perspektive erörtern."
(PB 1/93/*leu)