Udo Leuschner / Geschichte der FDP (62) |
17. Bundestag 2009 - 2013 |
"Gestern noch auf stolzen Rossen / Heute durch die Brust geschossen / Morgen in das kühle Grab!" – Dieses Dichterwort ließe sich einer Beschreibung jener vier Jahre voranstellen, in denen die FDP ihren Abstieg von einer 15-Prozent-Partei in die Gruft des parlamentarischen Todes auf Bundesebene vollzog. Vor allem gilt das für das Schicksal, das den Vorreiter der Partei ereilte. Schon nach einem Jahr wurde hauptsächlich er dafür verantwortlich gemacht, daß die Partei in der Wählergunst immer tiefer sank.
Zunächst schien der Parteivorsitzende, der zugleich Bundesaußenminister und Vizekanzler war, noch fest im Sattel zu sitzen. Niemand wagte es, ihm den Abwärtstrend anzulasten, der bereits mit dem Regierungsantritt begonnen hatte und sich nach dem Steuergeschenk an die Hotelbranche verstärkt fortsetzte. Dazu gab es auch keinen aktuellen Anlaß, denn Westerwelle übte sich in ungewöhnlicher Zurückhaltung, seitdem er mit seiner neuen Rolle als Außenminister beschäftigt war. So entstand bei ihm und seiner Kamarilla im Thomas-Dehler-Haus wohl der falsche Eindruck, es läge genau an dieser Zurückhaltung, daß die FDP nicht mehr wie früher wahrgenommen würde. Jedenfalls beschloß die Parteispitze als Ergebnis ihrer Ursachenforschung, daß sie endlich wieder "mehr Kante zeigen" müsse.
Westerwelle legt auch gleich los. Den willkommenen Anlaß bot im Februar 2010 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine Neuberechnung der Regelsätze für Langzeitarbeitslose verlangte. Vor allem beanstandete das Gericht, daß die besondere Situation von chronisch Kranken und andere dauerhafte Belastungen bei der Errechnung des theoretischen Existenzminimums überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Das war eine längst überfällige Korrektur. Für Westerwelle freilich trug die nun einsetzende Diskussion um eine Erhöhung der sogenannten Hartz-IV-Sätze "sozialistische Züge". In einem Gastkommentar für die Tageszeitung "Die Welt" (11.2.) lehnte er jede Erhöhung der Regelsätze ab, weil sie zu Lasten der Mittelschicht gingen. Und zu dieser "Mitte" zählten für Westerwelle offenbar alle, die in irgendeiner Weise erwerbstätig waren, auch wenn ihr Einkommen unter den Regelsätzen für Langszeitarbeitslose lag:
"Was sagt eigentlich die Kellnerin mit zwei Kindern zu Forderungen, jetzt rasch mehr für Hartz IV auszugeben? Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge. Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst. Die Mißachtung der Mitte hat System, und sie ist brandgefährlich. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."
Das war wieder der alte Westerwelle, der mit purer Demagogie auf Dummenfang ging. In diesem Fall verglich er einen Niedriglohn, der von der Zahl der Familienmitglieder überhaupt nicht beeinflußt wird, mit dem gesetzlichen Anspruch auf Grundsicherung, der selbstverständlich diesen Niedriglohn übersteigen kann und übersteigen muß, wenn mehrere Personen damit auskommen müssen. Zudem unterstellte er, daß die von ihm erfundene Kellnerin empört sein müsse, wenn die Bezüge des nicht arbeitenden Hartz-IV-Empfängers erhöht würden. Das war ebenfalls Unsinn, weil der Kellnerin die Aufstockung ihres unzureichenden Arbeitseinkommens bis zur Höhe der gesetzlichen Grundsicherung zugestanden hätte. Auch als Niedriglöhnerin hätte sie somit von einer Erhöhung der Hartz-IV-Sätze profitiert.
Drei Tage später legte Westerwelle noch nach. Im Gespräch mit dem "Deutschlandfunk" schlüpfte er erneut in die Rolle des Volkstribuns, der sich über die schmähliche Behandlung der Niedriglohnbezieher empört: "Mehr und mehr werden diejenigen, die arbeiten in Deutschland, zu den Deppen der Nation." Wer erwerbstätig sei, müsse in jedem Falle mehr haben als ein Unterstützungsempfänger. "Und wenn man das sagt und dafür kritisiert wird, dann ist das wirklich eine ziemlich sozialistische Entwicklung in dieser Republik."
Die schrillen Töne verfingen aber nicht mehr. Stattdessen hagelte es umso mehr Kritik. Die Empörung entzündete sich dabei weniger an der abstrusen Argumentation als an der Pose des Denkers und Volkserziehers, der Deutschland in "spätrömischer Dekadenz" versinken sah. Westerwelle liebte solche Posen. Noch unvergessen war, wie er auf dem FDP-Parteitag 2007 in Stuttgart sich selber zur Inkarnation der Freiheit erklärt hatte: "Hier steht die Freiheitsstatue der Berliner Republik." Das war schon damals mehr als peinlich. Man ließ es ihm aber als politische Standortbestimmung durchgehen oder zumindest als verständlichen Wutausbruch darüber,daß die neue Partei der Linken am selben Wochenende ihren Gründungsparteitag abhielt, wodurch dem Bundesparteitag der FDP die erwartete mediale Beachtung weitgehend versagt blieb.
Inzwischen war aus dem Führer einer Oppositionspartei, der stets auf Krawall gebürstet war, der Chef einer Regierungspartei sowie der Bundesaußenminister und Vizekanzler geworden. Dies schienen Westerwelle und seine Entourage nicht hinreichend bedacht zu haben, als sie den Sinkflug der FDP mit der Wiederbelebung der alten Rhetorik zu stoppen versuchten. Es ging dabei nicht nur um eine Frage der angemessenen Tonlage und des Stils. Die markigen Worte überzeugten auch frühere Anhänger nicht mehr, weil sie allzu offensichtlich davon ablenken sollten, daß es an Taten mangelte. Den besserverdienenden Kern der Klientel erboste, wie die Steuersenkungsversprechen für das Linsengericht des Hotelier-Geschenks auf die lange Bank geschoben wurden. Die Geringverdiener überzeugte Westerwelle ebenfalls nicht, wenn er davon schwadronierte, daß Erwerbstätige mehr Geld zur Verfügung haben müßten als Unterstützungsempfänger. Schließlich war es gerade die FDP, die verbissen gegen die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne kämpfte. Stattdessen wollte sie den gebührenden Abstand zwischen Erwerbs- und Unterstützungseinkommen durch Kürzung der ohnehin unzureichenden Hartz-IV-Bezüge herstellen. Wer auf diesen Leim kroch, gehörte in der Tat zu den "Deppen der Nation".
Der vermeintliche Befreiungsschlag geriet deshalb zum Rohrkrepierer. Eine Sprecherin der Bundeskanzlerin stellte sofort klar, daß der Vizekanzler sich als FDP-Vorsitzender geäußert habe und daß seine Wortwahl "sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin" sei. Der CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe ging noch deutlicher auf Distanz zum Koalitionspartner: "Dies ist nicht die Tonlage einer Volkspartei." Der SPD-Fraktionsvorsitzende Steinmeier erklärte: "Westerwelles Sätze zur sozialen Lage in Deutschland werden von Tag zu Tag unerträglicher und zynischer". Die Grünen-Vorsitzende Roth spottete: "Westerwelles kurzer Ausflug in die staatstragenden Sphären der Diplomatie ist beendet: Es tritt wieder auf: der Schreihals."
Die schallendste Ohrfeige bekam Westerwelle vom früheren CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. In einer Stellungnahme für die "Welt" (13.2.) verwies der Pensionär darauf, daß im alten Rom nicht die Sklaven und das einfache Volk versumpft waren: "Die spätrömische Dekadenz bestand darin, daß die Reichen nach ihren Freßgelagen sich in Eselsmilch gebadet haben und der Kaiser Caligula einen Esel zum Konsul ernannt hat. Insofern stimmt Westerwelles Vergleich: Vor 100 Tagen ist ein Esel Bundesaußenminister geworden."
Das konnte auch als Kritik an der Kanzlerin verstanden werden, die Geißler aber sicher nicht mit Caligula vergleichen wollte. In einem Interview, das zwei Tage später erschien, formulierte er seine Kritik deshalb so: "Auch heute baden Wohlhabende in ihrem Überfluß, während Millionen von Hartz IV und Mini-Jobs leben müssen und kaum davon leben können. Kaiser Caligula hat einen Esel zum Konsul ernannt und das Volk damit verhöhnt. Wir haben einen Esel als Außenminister, der das deutsche Volk verhöhnt."
Das saß. Aus der selbsternannten "Freiheitsstatue der Berliner Republik" war der Esel der Republik geworden. Geißlers Polemik war der grobe Keil, der auf einen groben Klotz gehörte. Im Unterschied zu Westerwelles Schimpfkanonaden trafen sie ins Herz der öffentlichen Meinung: Man konnte und wollte diesen Schreihals nicht mehr hören.
Sogar aus der FDP kam verhaltenes Murren: "Die Parteiführung ist stärker im Team gefordert", erklärte der stellvertretende Parteivorsitzende Andreas Pinkwart. "Die FDP muß mehr Gesichter in den Vordergrund stellen." Er wollte dies freilich nicht als inhaltliche Kritik an Westerwelles Äußerungen verstanden wissen. Es ging ihm um das verheerende Echo, das sie ausgelöst hatten. Als nordrhein-westfälischer Landeschef wollte er weiteren katastrophalen Solo-Auftritten vorbeugen, denn am 9. Mai standen Landtagswahlen an. Seine Forderung nach einer stärkeren Machtteilung in der Partei fand aber keine Unterstützung, weshalb er schnell wieder verstummte.
Trotzdem war der Parteichef nun angezählt. Er schien selber einzusehen, daß er in der Rolle des neoliberalen Schreihalses nicht mehr reüssieren konnte. Es folgte jedenfalls kein weiterer Auftritt dieser Art.
Daß die FDP ein Vierteljahr später in Düsseldorf wieder in den Landtag einziehen konnte, blieb ein schwacher Trost, denn die bisherige Landesregierung aus CDU und FDP wurde durch eine rot-grüne Koalition abgelöst. Dadurch verloren Union und FDP auch die Mehrheit im Bundesrat, die sie benötigt hätten, um die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Steuersenkungen durchzusetzen. Der Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte dies nicht unwillkommen gewesen sein. Schon am Tag nach der Landtagswahl – als wegen des überaus knappen Wahlergebnisses die künftige Koalition noch keineswegs feststand – erklärte sie das Lieblingsprojekt ihres Koalitionspartners für beerdigt: "Steuersenkungen werden auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar sein." Das sei auch bereits mit CSU und FDP so besprochen. Der Vizekanzler Westerwelle saß daneben und schwieg.
Das Düsseldorfer Wahlergebnis lag mit 6,7 Prozent um einen halben Prozentpunkt höher als bei den vorangegangenen Landtagswahlen. Dennoch war es ein deprimierender Mißerfolg, wenn man es mit den 14,9 Prozent verglich, die die FDP nur acht Monate zuvor bei der Bundestagswahl in Nordrhein-Westfalen erreicht hatte. Es entsprach ziemlich genau dem Wähleranhang im Bundesdurchschnitt. Im Februar, als Westerwelle erstmals wieder den "Schreihals" gegeben hatte, entschieden sich bei der regelmäßig durchgeführten "Sonntagsfrage" des ZDF-Politbarometers noch zehn Prozent für die FDP. Im Mai waren es nur noch sechs Prozent. Ab Juni wurden daraus fünf Prozent. Bei anderen Meinungsumfragen rutschte die Partei sogar schon jetzt auf drei Prozent (was beim ZDF-Politbarometer erst ab Januar 2012 der Fall war). Wenn diese Entwicklung anhielt, drohte ihr der parlamentarische Tod.
Als erster traute sich Wolfgang Gerhardt wieder hervor, den Westerwelle vor vier Jahren vom Fraktionsvorsitz verdrängt und zur Naumann-Stiftung abgeschoben hatte. Ende Mai 2010 warf er der Parteiführung vor, sie habe der Kanzlerin nicht genügend Widerstand geleistet, als diese die Steuerreform für undurchsetzbar erklärte. Zu Westerwelles Amtsführung als Außenminister bemerkte er, daß die FDP außenpolitisch "wieder stärker erkennbar" sein müsse. Allgemein riet er dem Parteichef zu "Markenpflege durch Selbstvertrauen, Klarheit und Bescheidenheit".
Beim Landesparteitag der hessischen FDP am 20. Juni 2010 beantragte der Kreisverband Limburg-Weilburg die Einberufung eines Sonderparteitags, um Westerwelle abzulösen. "Wenn das Schiff klaren Kurs auf einen Eisberg nimmt, ist selbstverständlich der Kapitän verantwortlich", erklärte der Kreisvorsitzende zur Begründung. Der Antrag fand zwar keine Mehrheit, verriet aber doch viel über die Stimmung unter den Mitgliedern. Der hessische Landesvorsitzende Uwe Hahn räumte aus diesem Anlaß gegenüber dem "Spiegel" ein: "Viele in der Partei bezweifeln, daß Westerwelle den Parteivorsitz und dem Amts des Außenministers gleichzeitig gerecht werden kann." Am 22. August bezog Hahn in einem Interview mit dem "Handelsblatt" noch deutlicher Position: Nun forderte er Westerwelle auf, sich auf sein Amt als Außenminister zu konzentrieren und Stellungnahmen zur Innenpolitik dem Generalsekretär Lindner zu überlassen.
Am 25. August verlangte erstmals ein höherer Parteifunktionär ganz unverblümt Westerwelles Verzicht auf den Parteivorsitz: "Wenn die FDP auf Bundesebene jetzt nicht die Reißleine zieht, werden Landes- und Kommunalpolitiker unter dem Bundestrend leiden und bei anstehenden Wahlen um die Früchte ihrer Arbeit vor Ort gebracht", erklärte der Generalsekretär der saarländischen FDP, Rüdiger Linsler, gegenüber der "Saarbrücker Zeitung".
Allerdings war Linsler ein ziemlich unbekannter und einflußloser FDP-Politiker, der einen der schwächsten und desolatesten Landesverbände vertrat. Hinzu distanzierte sich der saarländische Landesvorsitzende Christoph Hartmann sogleich von der Rücktrittsforderung, obwohl Linsler versicherte, er habe das Interview mit ihm abgestimmt. Der Vorstoß taugte deshalb kaum als Signal für eine Palastrevolution. Der sächsische FDP-Vorsitzende Holger Zastrow bezeichnete Linslers Äußerungen als "öffentliche Wichtigtuerei, weil man sonst nichts zu melden hat".
Bis zum Jahresende 2010 wagte es keiner der wirklich tonangebenden FDP-Politiker auf Bundes- und Landesebene, Westerwelle den Verzicht auf den Parteivorsitz abzuverlangen. "Guido Westerwelle wird die FDP auch aus der schwierigen Phase, in der wir jetzt sind, herausführen", versicherte der Generalsekretär Christian Lindner am 21. Juni nach einer Sitzung des Präsidiums. Am 27./28. Juni trafen sich Parteivorstand und Fraktion zu einer gemeinsamen Klausurtagung, um Wege aus der Krise zu finden. Westerwelle erklärte anschließend vor der Presse, daß ihn die Doppelfunktion als Parteivorsitzender und Außenminister nicht überfordere. Die Forderung nach Ämtertrennung sei auch von keinem einzigem Vorstandsmitglied erhoben worden.
Ähnlich kritiklos scheint eine dreitägige Klausurtagung verlaufen zu sein, zu der sich die 93 Mitglieder der Bundestagsfraktion am 9. September trafen. Soweit davon etwas nach außen drang, hieß es, daß keiner der Redner Unmut über den Parteivorsitzenden geäußert habe. Man sei sich vielmehr darin einig gewesen, daß eine Führungsdebatte das untauglichste Mittel sei, um das Ansehen der FDP zu verbessern.
Die Parteispitze unterschätzte indessen den Unmut an der Basis und den Leidensdruck von Landespolitikern, denen bei den noch anstehenden 13 Landtagswahlen bis zum Ende der Legislaturperiode der Verlust von Ämtern und Pfründen drohte. Schon am 22. August brachte der hessische Landesvorsitzende Uwe Hahn auf einer FDP-Klausurtagung diesen Leidensdruck zum Ausdruck, indem er den "Imageverlust" der Partei mit dem Imageverlust des Parteivorsitzenden erklärte.
Um den Unmut an der Basis einzudämmen, beschloß der Parteivorstand die Durchführung von vier Regionalkonferenzen in Siegburg, Ulm, Schwerin und Halle. Sie fanden von Mitte September bis Anfang Oktober hinter verschlossenen Türen statt, damit die Mitglieder ordentlich Dampf ablassen konnten. Es folgte eine abschließende Konferenz der Kreisvorsitzenden am 24. Oktober in Berlin. Diese war öffentlich, weil Westerwelle und Lindner wohl davon ausgingen, daß sich die Funktionäre mehr Zurückhaltung auferlegen würden. Dennoch machte die Konferenz nach dem Resumée eines Pressebeobachters deutlich, "wie tief Verunsicherung und Verbitterung in der Partei sitzen".