Udo Leuschner / Geschichte der FDP (6) |
4. Bundestag 1961 - 1965 |
Bei den Bundestagswahlen am 17. September 1961 erzielte die FDP mit 12,7 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis. Sie bekam 67 Sitze im Bundestag, die Union 242 und die SPD 190. Es gab nur noch diese drei Parteien im Parlament. Der langjährige Trabant der CDU, die schwarz-weiß-rote DP, war inzwischen zerfallen bzw. in der CDU aufgegangen. Die FDP besaß damit eine hervorragende Position bei den Koalitionsverhandlungen. Rechnerisch hätte sie sogar mit der erstarkten SPD koalieren können, die nun die ersten Früchte ihres 1959 beschlossenen "Godesberger Programms" erntete. Aber das blieb reine Arithmetik. Die SPD erklärte sich sowieso für eine Allparteien-Regierung, aus der auch leicht eine Große Koalition mit der CDU/CSU hätte werden können.
Die CDU/CSU hatte starke Einbußen erlitten. Die kurz vor den Wahlen erfolgte Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 markierte das vorläufige Scheitern von Adenauers Deutschlandpolitik, soweit sie aus dem illusionären Versprechen bestand, die Westintegration der Bundesrepublik mit einer friedlichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vereinbaren zu können. Außerdem hatte sich Adenauer in den Tagen des Mauerbaues sehr ungeschickt verhalten und damit den alten Argwohn bestärkt, ihm sei an dem "heidnischen" Mitteldeutschland samt Berlin ohnehin nichts gelegen.
Das Hauptproblem bei den Koalitionsverhandlungen war, daß der 86jährige Adenauer noch immer nicht abtreten wollte. Die FDP hatte im Wahlkampf versprochen, sich an keiner Regierung unter Adenauer zu beteiligen. Der Bundesvorstand bekräftigte diese Haltung nochmals kurz nach den Wahlen. Adenauer bestand indessen darauf, auch die neue Regierung zu bilden. Sein einziges Zugeständnis war, keine vollen vier Jahre an der Spitze der künftigen Koalitionsregierung zu stehen. Aber auf einen Termin für den Rücktritt wollte er sich von den Freien Demokraten auch nicht festlegen lassen.
Der Bundeshauptausschuß der FDP beschloß am 21. Oktober 1961 mit 60 gegen 37 Stimmen, diese Kröte zu schlucken. Die FDP bekam so zum erstenmal das Odium einer "Umfaller"-Partei. Die stellvertretenden Parteivorsitzenden Oswald Kohut (Hessen) und Heinrich Schneider (Saar) legten aus Protest ihre Ämter nieder, weil sie mit der Kanzlerschaft Adenauers nicht einverstanden waren.
Anschließend gab es noch Geplänkel, weil Adenauer die Koalitionsvereinbarungen als reines FDP-Papier bezeichnete und vor allem die personellen Wünsche der FDP im Bereich des Außenministeriums ablehnte. Der Konflikt endete mit dem Rücktritt des Außenministers Heinrich von Brentano. Das Außenministerium blieb jedoch in CDU-Hand und wurde im neuen Kabinett mit Gerhard Schröder besetzt.
In der neuen Regierung, die Adenauer am 14. November 1961 vorstellte, besetzte die FDP fünf von 20 Ministerposten: Wolfgang Stammberger (Justiz), Heinz Starke (Finanzen), Wolfgang Mischnick (Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte), Hans Lenz (Schatzministerium) und Walter Scheel (wirtschaftliche Zusammenarbeit). Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wurde wieder zum Vizekanzler ernannt und damit von Adenauer - wenn auch widerwillig und nur unter dem Druck aus den Unionsparteien - als Nachfolger akzeptiert.
Die "Spiegel"-Affäre, die im Oktober 1962 ins Rollen kam und es verdient, in einem eigenen Kapitel dargestellt zu werden, rüttelte die Koalition heftig durcheinander. Zwischendurch liebäugelte die CDU/CSU sogar mit der SPD als Koalitionspartner und holte die alten Pläne zur Vernichtung der FDP durch Manipulierung des Wahlrechts wieder aus der Schublade. Noch vor Jahresende rauften sich die alten Partner dann aber doch wieder zusammen. Der umstrittene Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) mußte gehen. Ansonsten war die neue Koalitionsregierung aber weitgehend mit der alten identisch: Neue FDP-Kabinettsmitglieder waren Ewald Bucher, der als Justizminister Wolfgang Stammberger ersetzte, und Rolf Dahlgrün, der anstelle von Heinz Starke das Finanzministerium übernahm. Hans Lenz wechselte vom Schatzministerium ins neue Ressort Wissenschaft und Forschung.
Auf dem 14. Bundesparteitag der FDP Anfang Juli 1963 in München erklärte der Vorsitzende Erich Mende mit Blick auf Strauß: "Die FDP wird keiner Regierung angehören und keine Persönlichkeit akzeptieren, der nicht die Grundsätze und das Wesen des Rechtsstaates, der Moral und der Prinzipien freiheitlicher Ordnung wesentlich höher stehen als die bloße Macht".
Als Nachfolger des überraschend verstorbenen Wolfgang Döring, der noch in der "Spiegel"-Debatte des Bundestags im November 1962 eine leidenschaftliche Rede gehalten hatte, wurde Willi Weyer zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Weyer hatte wie Döring 1956 zu den Düsseldorfer "Jungtürken" gezählt. In seiner Rede vor dem Bundesparteitag ging er auch auf die jüngste Fühlungnahme zwischen CDU und SPD ein. Die beiden großen Parteien hätten damit selber klargemacht, daß es nicht um eine grundsätzliche Alternative zwischen "schwarz" und "rot" gehe, wobei der FDP nur die Wahl bleibe, sich der einen oder der anderen Seite anzuschließen. "Die Fragestellung der Zukunft wird daher nicht mehr lauten: Mit wem geht die FDP?, sondern: Welche der drei Parteien finden sich zur Zusammenarbeit in der Regierung zusammen..."
Am 15. Oktober 1963 war es endlich so weit: Adenauer trat als Bundeskanzler zurück, und am folgenden Tag wählte der Bundestag den bisherigen Wirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig Erhard zum neuen Regierungschef. Der neue Regierungschef präsentierte sogleich sein Kabinett, in dem die FDP wie zuvor fünf Ministerposten innehatte. Auch die Namen und die Ressorts der Minister blieben weitgehend dieselben. Neu ins Kabinett rückte allerdings Erich Mende als Vizekanzler und Minister für gesamtdeutsche Fragen. Dafür schied Wolfgang Mischnick aus. Hans Lenz wechselte zurück ins Schatzministerium. Den Posten Mendes als Fraktionsvorsitzender der FDP übernahm Knut von Kühlmann-Stumm.
Mende versuchte sich in seinem neuen Amt gleich zu profilieren, indem er der DDR eine Ausweitung der Kredite im Rahmen des Interzonenhandels anbot. Allerdings verlangte er als "Zeichen des guten Willens" Erleichterungen im innerdeutschen Verkehr. Die SED wies das Ansinnen des "frischgebackenen" Ministers in rüdem Ton zurück, weil sie darin wohl eher die Infragestellung der laufenden Verhandlungen über ein neues Interzonenhandels-Abkommen und der inzwischen selbstverständlich gewordenen Überziehungskredite sah (der Handel zwischen beiden deutschen Staaten wurde ausschließlich auf Verrechnungsbasis zwischen den beiden Zentralbanken abgewickelt, wobei die DDR zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihre Bezüge aus dem Westen mit entsprechenden Lieferungen zu kompensieren).
Die Erleichterungen im innerdeutschen Verkehr bahnten sich sowieso an: Zur Jahreswende 1963/64 durften die Westberliner erstmals wieder seit dem Mauerbau ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßte dieses erste Passierscheinabkommen. Schon im September folgte eine weitere Vereinbarung, die Besuchtszeiträume bis Pfingsten 1965 einschloß.
Die DDR nutzte nun allerdings die Besucherströme, um kräftig abzusahnen: Kaum war das zweite Passierscheinabkommen angelaufen, verpflichtete sie die Besucher aus dem Westen zum Zwangsumtausch von D-Mark gegen minderwertige DDR-Mark. Mende widerrief deshalb die in Aussicht genommene Aufstockung der Interzonenhandelskredite um 500 Millionen Mark: "Wir wollten für eine solche Konzession nur adäquate menschliche Erleichterungen erreichen", erklärte er am 28. November vor der Landesversammlung der bayerischen FDP in Ingolstadt. "Aber man kann doch nicht von uns verlangen, daß wir nach der Einführung des Zwangsumtauschs noch eine halbe Milliarde Mark nach Ostberlin werfen."
Am 18. Januar 1964 meldete sich Thomas Dehler in der "Augsburger Allgemeinen" zu Wort. Er mahnte erneut, sich in Fragen der deutschen Einheit doch gleich an die richtige Adresse zu wenden und Moskau die notwendigen außenpolitischen Konzessionen zu machen: "Wir werden niemals zur Überwindung der deutschen Spaltung kommen, wenn die deutschen Teile in die gegensätzlichen Militärblöcke eingegliedert bleiben. Die wesentliche Grundlage für eine neue Ordnung im mitteleuropäischen Raum muß ein weitgespannter Sicherheitsvertrag sein, der Deutschland gegen jedwede Aggression durch das Bündnis mit den vier Siegermächten abdeckt. Diese Regelung müßte in einem Friedensvertrag erfolgen, in dem gleichzeitig der Weg zur deutschen Wiedervereinigung eröffnet wird."
Auf dem 15. Bundesparteitag Anfang Juni 1964 in Duisburg sprach sich Mende ebenfalls für eine "durchgreifende Verbesserung" der Beziehungen zur Sowjetunion aus: Die Wiedervereinigung Deutschlands sei nun mal nicht gegen Moskau erreichbar. Allerdings sei sie auch nicht gegen den Westen erreichbar. Sie setze den Brückenschlag zwischen West und Ost und die Einigung Europas voraus.
Mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen warb Mende auch bei Anhängern der Unionsparteien um Stimmen für die FDP: Bis zum Herbst 1965 müsse man die Wähler darüber aufklären, "daß man erst recht FDP wählen muß, wenn Professor Erhard an der Spitze dieser Regierung bleiben und kein Übergangskanzler gewesen sein soll; daß man erst recht FDP wählen muß, wenn Schröder seine beweglichere Außenpolitik weiterführen und nicht einem CSU-Abgeordneten Platz machen soll; daß man schließlich erst recht FDP wählen muß, um die gegen Erhard und Schröder gerichtete Opposition in der eigenen Partei in Schach zu halten!"
Der Parteitag bestätigte Mende mit großer Mehrheit im Amt des Vorsitzenden. Stellvertreter wurden Willi Weyer, Ewald Bucher und Wolfgang Mischnick. Das Amt des Bundesschatzmeisters übernahm wieder Hans Wolfgang Rubin.
Mende teilte auf dem Duisburger Parteitag ferner einen einstimmigen Beschluß des Bundesvorstands mit, wonach die FDP dem Bundespräsidenten Heinrich Lübke auch bei dessen geplanter Wiederwahl ihre Stimmen verweigern werde. Als Gegenkandidat sei Bundesjustizminister Ewald Bucher nominiert worden. Kurz davor war Lübke sowohl von der CDU/CSU als auch von der SPD für eine zweite Amtszeit aufgestellt worden. - Von der SPD aus gutem Grund, denn der leicht vertrottelte Lückenbüßer für Adenauers fehlgeschlagene Bundespräsidenten-Ambitionen hatte sich bei der Koalitionskrise des Jahres 1962 als warmer Befürworter einer Großen Koalition erwiesen. Bei so breiter Unterstützung schaffte Lübke - anders als 1959 - seine Wiederwahl am 1. Juli 1964 auf Anhieb. Immerhin konnte sein Gegenkandidat Bucher, wie seinerzeit schon Max Becker, mehr Stimmen auf sich vereinigen als der Zahl der FDP-Wahlmänner entsprach.
Auf dem folgenden Bundesparteitag Ende März 1965 in Frankfurt umriß Mende nochmals die Positionen der Partei in der Ostpolitik. Er stellte klar, daß die westlichen Alliierten kein Interesse an einer Veränderung der Oder-Neiße-Grenze hätten, obwohl Bonn diese Gebiete noch immer für Deutschland reklamierte. Erneut plädierte er für eine Verbesserung der Beziehungen zu Osteuropa und Ostberlin. Im Rahmen von "gesamtdeutschen technischen Kommissionen" sollten Fragen des Personenverkehrs, des Handels, des Kulturaustauschs und des Sportverkehrs "im geteilten Deutschland" beraten werden - von zwei deutschen Staaten zu reden war noch immer so tabu wie die Aufgabe des Bonner Alleinvertretungsanspruchs auf außenpolitischem Gebiet. Immerhin wollte Mende die "Hallstein-Doktrin" nicht mehr gegenüber den Staaten im sowjetischen Einflußbereich und im übrigen nicht "starr und automatisch" angewendet wissen. Er handelte sich damit den Widerspruch Eugen Gerstenmaiers ein, der wenige Tage später auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf verlangte, die Hallstein-Doktrin müsse "auch weiterhin mit Entschiedenheit gehandhabt werden".
Während sich die FDP relativ erfolgreich als Wegbereiterin einer neuen Ostpolitik präsentierte, überzeugte sie in der Rolle der Hüterin von Recht und Verfassung weniger. Es fing damit an, daß der standhafte Wolfgang Stammberger, der durch seinen Rücktritt als Bundesjustizminister den ersten Bremsklotz gegen die amoklaufende Justiz in der "Spiegel"-Affäre gesetzt hatte, am 3. Juni 1964 seinen Austritt aus der FDP erklärte. Zugleich gab Stammberger seine Absicht bekannt, der SPD beizutreten. Seinen Parteiwechsel begründete er damit, daß sich ein Wiederaufstieg von Franz Josef Strauß nur durch die SPD verhindern lasse - ein tragischer Irrtum, wie sich bald herausstellen würde.
Am 25. März 1965 votierte die FDP-Fraktion geschlossen gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord, mit der die weitere Verfolgung von Massenmorden an den Juden und ähnlicher Nazi-Verbrechen ermöglicht werden sollte. Der gemeinsam von Union und SPD getragene Gesetzentwurf unterbrach die Verjährung für den Zeitraum vom 8. Mai 1945 bis Ende 1949, in dem es keine eigenständige deutsche Gerichtsbarkeit gab. Das war insofern eine recht formale Konstruktion, als es auch nach der Gründung der Bundesrepublik so gut wie keine Verfolgung von Nazi-Verbrechen gegeben hatte. Man hatte die braune Vergangenheit derart gründlich unter den Teppich gekehrt, daß selbst Massenmörder noch immer frei herumliefen. Die Aussetzung der Verjährung garantierte keineswegs, daß ihnen endlich der Prozeß gemacht würde, verhinderte aber wenigstens den Skandal, daß sie sich ungestraft zu ihren Taten bekennen konnten. Da mußte es wie Hohn wirken, wenn die FDP nun rechtsstaatliche Gründe ins Feld führte und sogar Thomas Dehler, der nun wirklich keine braune Weste hatte, sich vehement gegen die Aussetzung der Verjährung von Nazi-Verbrechen aussprach.
Wie Liebedienerei vor der alten Klientel der braunen Parteigenossen konnte es auch wirken, als Bundesjustizminister Ewald Bucher nach der Verabschiedung des Gesetzes seinen Rücktritt erklärte, weil er es nicht unterzeichnen wollte. Die FDP setzte noch eins drauf, indem sie sich außerstande sah, einen Nachfolger zu benennen, da alle in derselben Situation wie Bucher seien. Kanzler Erhard ernannte ersatzweise den CDU-Abgeordneten Karl Weber zum neuen Bundesjustizminister.
Nicht so skrupulös war die FDP hinsichtlich der Notstandsgesetze, von denen weithin befürchtet wurde, daß sie der Exekutive eine Art neues Ermächtigungsgesetz in die Hand geben würden. Im Juni 1965 setzte sie gemeinsam mit der CDU/CSU die Verabschiedung der sogenannten einfachen Notstandsgesetze durch. Daß es nicht auch zur Verabschiedung des verfassungsändernden Kerns der Notstandsgesetzgebung kam, lag allein am Widerstand der SPD, ohne deren Zustimmung die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zu erlangen war. Mit der SPD stimmten die FDP-Abgeordneten Oswald Kohut und Heinrich Schneider gegen die Notstandsverfassung. Aber auch die SPD taktierte in dieser Frage nur: Sie war längst entschlossen, sich ihre Zustimmung für eine Große Koalition mit der CDU/CSU abkaufen zu lassen.
Gerade von der FDP hätte man in dieser Frage mehr Sensibilität erwarten dürfen, zumal ihr Vorläufer, die DDP bzw. Deutsche Staatspartei, 1933 das Ermächtigungsgesetz für Hitler gebilligt hatte. Zwei der Abgeordneten, die damals im Reichstag für Hitlers Ermächtigungsgesetz die Hand gehoben hatten - nämlich Theodor Heuss und Reinhold Maier - wurden sogar zu Galionsfiguren der FDP.