Udo Leuschner / Geschichte der FDP (49)

15. Bundestag 2002 - 2005


Das Gespenst der Großen Koalition

Durch die neue Linkspartei schwinden der FDP schlagartig die Aussichten auf Regierungsbeteiligung

"Die FDP ist komplett charakterlos geworden, und von den Grünen erwarten sich die Leute auch nichts mehr", beschrieb der 80jährige Politologe Wilhelm Hennis im Juni 2004 den Zustand jener beiden Parteien, denen man früher noch am ehesten zugetraut hätte, liberales Ideengut zu vertreten.

Noch schlimmer hatte es aber die Sozialdemokratie erwischt, die sich vor 140 Jahren vom bürgerlichen Liberalismus abspaltete, weil dieser die "soziale Frage" links liegen ließ. Unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder erlebte die SPD in der zweiten rot-grünen Regierungsperiode einen beispiellosen Niedergang. Sowohl Wähler als auch Mitglieder kamen ihr in Massen abhanden. Der Grund dafür waren die neoliberalen "Reformen", mit denen Schröder die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher machte. - Auf diese platt anmutende Formel läßt sich in der Tat die Substanz von Schröders Sozial- und Wirtschaftspolitik bringen, die er natürlich nicht selbst entworfen hatte, sondern vom herrschenden neoliberalen Zeitgeist bezog.

"Hartz IV" und andere Zumutungen

Das Wahlvolk hatte zunächst mit erstaunlicher Langmut zugesehen, wie die rot-grüne Koalition den Druck auf Arbeitslose und Einkommensschwache verstärkte, weil die hergebrachten sozialen Sicherungssyteme angeblich die Entstehung neuer Arbeitsplätze verhinderten. Wesentlichen Anteil an dieser Langmut hatten die Medien, die dem Publikum weismachten, es gäbe keine Alternative zu diesen zwar sehr harten, aber leider notwendigen Maßnahmen. Generell huldigten fast alle Medien der neoliberalen Ideologie und erzeugten in diesem Punkt eine Uniformität des öffentlichen Diskurses, die an den Klerikalismus der fünfziger Jahre erinnerte.

Zum Beispiel wurde zur Sanierung der Rentenversicherung sogar die Anhebung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahren propagiert, obwohl schon Vierzigjährige allein wegen ihres Alters zunehmend Schwierigkeiten hatten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Dabei rührte das Grundproblem der Rentenversicherung nicht vom Beitragsrückgang durch Arbeitslosigkeit und Geburtenschwund, wie immer wieder behauptet wurde, sondern von den Lasten der Wiedervereinigung und anderen von Staats wegen verfügten Aderlässen. Die Arbeitslosen- und die Krankenversicherung waren ebenfalls durch politische Vorgaben in einen kläglichen Zustand gebracht worden. Für die neoliberalen Dr. Eisenbarts war dies freilich nur der willkommene Anlaß, um nun als angeblich einzig wirksames Rezept die Privatisierung auch der sozialen Sicherungssysteme zu verlangen.

Die umstrittenste "Reform" war die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für alle Personen, die halbwegs als erwerbsfähig gelten konnten. Sie wurde mit anderen Einschnitten ins soziale Netz von Peter Hartz entworfen, der als Personalvorstand bei VW seit langem ein Freund Schröders war und für ihn nun praktisch die Vorstellungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie in Regierungspolitik umsetzte. "Hartz IV", wie die geläufige Kurzbezeichnung dieses Gesetzes lautete, koppelte die Gewährung eines Existenzminimums an äußerst harte Auflagen wie den Umzug in kleinere Wohnungen, die Anrechnung des Einkommens von Lebenspartnern oder die Aufzehrung von Rücklagen für die Altersvorsorge.

Der Namensgeber des "Hartz IV"-Gesetzes ließ unterdessen in seinem persönlichen Verantwortungsbereich beim VW-Konzern fünfstellige Summen für Luxusreisen und Prostituierte abzeichnen. Als der Korruptionsskandal aufflog, mußte Peter Hartz im Juli 2005 zurücktreten - selbstverständlich mit einem "goldenen Handschlag" von mehreren Millionen Euro. Die "Bild-Zeitung" veröffentlichte ein Foto, das den Schröder-Freund mit einer Prostituierten zeigte, die er mehrfach aus Brasilien hatte einfliegen lassen, damit sie ihm auf Auslandsreisen Gesellschaft leiste.

Schröder will sich einen passablen Abgang verschaffen

Unter diesen Umständen ging es mit der SPD, die ihre Existenz seit jeher auf das Versprechen sozialer Gerechtigkeit gründete, erst langsam und dann immer schneller abwärts. Zum Beispiel war ihr Stimmenanteil im wichtigsten Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo sie 1985 mit 52,1 Prozent die absolute Mehrheit erringen konnte, bei den folgenden drei Wahlen kontinuierlich auf 42,8 Prozent gesunken. Soweit sie noch Ministerpräsidenten stellen konnte, gelang ihr dies nur mit Hilfe der Grünen (Nordrhein-Westfalen), der FDP (Rheinland-Pfalz), der CDU (Brandenburg und Bremen) und der PDS (Berlin und Mecklenburg-Vorpommern). Außerdem konnte sie in Schleswig-Holstein und Sachsen als Juniorpartner der CDU mitregieren, so daß es auf Landesebene bereits vier Große Koalitionen gab.

Es war allgemein erwartet worden, daß die SPD bei den Landtagswahlen am 14. Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen noch weiter und noch kräftiger absacken würde. Insofern war es überhaupt keine Überraschung, daß sie nur noch 37,1 Prozent bekam, während die CDU mit 44,8 Prozent zum ersten Mal seit 1975 wieder stärkste Partei wurde und mit Hilfe der FDP die Regierung übernahm. Allgemeine Überraschung löste aber aus, daß der Bundeskanzler Schröder dieses Wahlergebnis zum Anlaß - besser gesagt: zum Vorwand - nahm, um vorzeitige Bundestagswahlen für den Herbst des Jahres anzukündigen.

Offenbar trat der routinierte Selbstdarsteller Schröder damit die Flucht nach vorn an, um sich einen einigermaßen passablen Abgang zu verschaffen, bevor die turnusmäßigen Bundestagswahlen im Herbst 2006 ihm ein noch verheerenderes Ergebnis bescheren würden. Denn Schröders "Reformen" hatten auf der ganzen Linie versagt. Sie hatten nicht nur keinen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht, sondern die Arbeitslosenzahlen noch weiter ansteigen lassen. Und offensichtlich glaubte er selber nicht mehr daran, daß sich das bis zum Herbst 2006 noch ändern könnte.

Offiziell begründete Schröder sein Verhalten freilich mit der angeblichen Absicht, die Regierungsmehrheit für seine "Reformpolitik" durch Neuwahlen festigen zu wollen. Das war in mehrfacher Hinsicht eine absurde Begründung. Zum einen konnte er die knappe Regierungsmehrheit, die er tatsächlich besaß und mit deren Hilfe die Koalition bis zuletzt noch zahlreiche Gesetze verabschiedete, durch Neuwahlen nur verlieren. Zum anderen wurde die Unionsmehrheit im Bundesrat, die der rot-grünen Koalition tatsächlich die Gesetzgebung erschwerte, durch das Ergebnis von Bundestagswahlen überhaupt nicht beeinflusst.

Um die vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode zu erreichen, bediente sich Schröder desselben Tricks, den schon die Bundeskanzler Willy Brandt (1972) und Helmut Kohl (1982) angewendet hatten, indem sie ohne zwingenden Grund im Bundestag die Vertrauensfrage stellten. Bei der von Schröder beantragten Abstimmung am 1. Juli 2005 enthielten sich alle Regierungsmitglieder mit Parlamentsmandat sowie zahlreiche weitere Abgeordnete von SPD und Grünen der Stimme. Aufgrund der Nein-Stimmen der Opposition kam so ein Misstrauensvotum zustand, das Schröder formal berechtigte, beim Bundespräsidenten Auflösung des Bundestags und vorzeitige Neuwahlen zu beantragen. Bundespräsident Horst Köhler machte das verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Spiel mit, indem er am 21. Juli Neuwahlen für den 18. September ansetzte.

Bündnis von WASG und PDS sprengt das etablierte Vier-Parteien-System

Unmittelbar nach Schröders Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen schien alles noch auf einen klaren Wahlsieg von Union und FDP hinauszulaufen. In der FDP freute man sich insgeheim schon auf die zu erwartenden Ministerposten und sonstigen Pfründen. Eine andere Konstellation als eine starke Schwächung von Rot-Grün und eine erhebliche Stärkung von Schwarz-Gelb war nicht in Sicht. Der PDS traute man allenfalls zu, die Fünf-Prozent-Hürde wieder zu überwinden. Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war zwar zum erstenmal die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) als politische Opposition zum neoliberalen Grundkurs sämtlicher Bundestagsparteien angetreten und hatte aus dem Stand 2,2 Prozent erreicht. Aber sie schien kaum Chancen zu haben, in den Bundestag zu kommen.

Die WASG war von enttäuschten Sozialdemokraten aus dem Umfeld der Gewerkschaften mit Blick auf die Bundestagswahlen im Herbst 2006 gegründet worden und befand sich gerade erst im Aufbau. Es fehlten ihr Geld, Organisation und mediales Echo. Wie andere Neugründungen zog sie auch etliche Sektierer an und war deshalb zusätzlich mit internen Auseinandersetzungen belastet.

Mit ihrem Minimalkonsens, die "soziale Marktwirtschaft" einzufordern, war die WASG grundsätzlich für ein breites Spektrum unzufriedener Bürger wählbar und erfüllte zudem eine hygienische Funktion, indem sie Protestwähler von neonazistischen Parteien abzog. Auch Linksliberale konnten sich in ihr aufgehoben fühlen. Zur FDP, die sich am ungehemmtesten von allen Parteien zum marktradikalen Umbau der Gesellschaft bekannte, stand sie allerdings in schärfstem Gegensatz. Insofern brauchte die FDP keinerlei Befürchtungen zu haben, die neue Partei könne ihr Wähler abspenstig machen.

Die Gefahr für die FDP kam von woanders her: Die WASG verwandelte sich nämlich fast schlagartig im Sommer 2005 von einer Randpartei zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die das etablierte Vier-Parteien-System um eine fünfte Partei erweiterte und bei den bevorstehenden Bundestagswahlen sogar Grüne und FDP zu überrunden drohte. Plötzlich stand damit das Gespenst einer Großen Koalition aus Union und SPD im Raum, die sowohl die neue Partei als auch FDP und Grüne in die parlamentarische Opposition verweisen würde.

Lafontaine und Gysi kandidieren gemeinsam für die "Linkspartei"

Das Kunststück dieser fast schlagartigen Verwandlung vollbrachte der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der sich bereits Anfang 1999 mit Gerhard Schröder wegen dessen neoliberaler Politik überworfen hatte und sowohl als Bundesfinanzminister wie auch als SPD-Vorsitzender zurückgetreten war. Lafontaine ließ am 24. Mai 2005 verlauten, daß er bereit wäre, der WASG beizutreten, um dann gemeinsam mit Gregor Gysi von der PDS als Spitzenkandidat einer neuen Linkspartei anzutreten. Faktisch handelte es sich um eine Erpressung der WASG, deren Mitglieder zwar für eine punktuelle politische Zusammenarbeit mit der PDS zu haben waren, aber mehrheitlich ein Bündnis mit der PDS ablehnten.

Die PDS hatte bis dahin in den alten Bundesländern nie Fuß fassen können. Neben ihrer Vergangenheit als "Sozialistische Einheits-Partei" (SED) der DDR lag dies auch daran, daß sie im Westen zu einem guten Teil ehemalige DKP-Mitglieder und Linkssektierer anzog, die weder den Wählern noch der PDS-Zentrale in Berlin geheuer waren. Der Coup von Lafontaine, die WASG als authentisch westdeutsche Protestpartei mit der PDS als einer in Ostdeutschland überaus starken Regionalpartei zusammenzuführen, durchbrach diese Isolation. Nach einigem Hin und Her einigten sich die Realpolitiker beider Seiten auf eine pragmatische Lösung, die den sozialstaatlichen Charakter der WASG und die damit verbundene Glaubwürdigkeit im Westen mit der Organisationsstärke und den finanziellen Mitteln der PDS verband: Aus Zeit-, Geld- und Organisationsgründen sollte die WASG nicht selber zur Bundestagswahl antreten , sondern ihre Spitzenkandidaten auf der Liste der PDS antreten lassen, die sich gleichzeitig in "Linkspartei" bzw. "Die Linke" umbenannte. Zumindest im Westen durfte die WASG davon ausgehen, daß die Kandidatenlisten - über die ausschließlich die PDS-Mitglieder zu entscheiden hatten - einigermaßen gleichmäßig besetzt waren und prominente WASG-Kandidaten im Zweifelsfall den Vorrang vor unbekannten PDS-Mitgliedern bekamen. Um die ostdeutschen Wähler nicht allzusehr zu irritieren, konnte der alte Parteiname PDS der neuen Bezeichnung Linkspartei hinzugefügt werden.

Alle Parteien packen ihre neoliberalen Folterwerkzeuge wieder ein - bis auf die FDP

Schon durch ihre bloße Präsenz bewirkte die neue Linkspartei im Vorfeld der Bundestagswahlen, daß keine der großen Parteien sich noch traute, krass neoliberale Rezepte vorzulegen. Zum Teil wurden die Wahlprogramme sogar wieder geändert, weil die neoliberalen Folterwerkzeuge allzu deutlich daraus hervorlugten. Auch die Grünen entdeckten plötzlich wieder ihre soziale Verantwortung. Nur die FDP glaubte, der Rolle des neoliberalen Wadenbeißers weiterhin treu bleiben zu müssen und damit unter den neuen Umständen sogar reüssieren zu können.

Die CSU fühlte sich deshalb zur Mahnung an die Schwesterpartei CDU veranlasst, keine FDP-Positionen zu übernehmen und den Sozialstaat zu erhalten. "Der Neoliberalismus dieser Art hat keine Zukunft", erklärte der bayerische Landtagspräsident Alois Glück als Vorsitzender der CSU-Grundsatzkommission am 9. Juli in der "Süddeutschen Zeitung". Auch unter den Führungskräften der Wirtschaft habe die FDP mit ihren Positionen nur eine Minderheit hinter sich.

"Selbst die CDU versucht in Ostdeutschland inzwischen, die Linkspartei in der Arbeitsmarktpolitik verbal zu überholen", klagte seinerseits FDP-Generalsekretär Dirk Niebel am 25. Juli in der "Berliner Zeitung". Die Unionsparteien täuschten sich aber, wenn sie auf eine Große Koalition spekulierten: "Wer heute von einer Großen Koalition träumt, wacht womöglich morgen mit einer Linkskoalition auf." Entgegen ihren jetzigen Beteuerungen würden sich SPD und Grüne wahrscheinlich auf eine Koalition mit der Linkspartei einlassen, sobald es rechnerisch zur Mehrheit reiche.

Unverdrossen meinte Niebel, die FDP werde von der neuen Linkspartei sogar profitieren können: " Die FDP kann ein enorm gutes Ergebnis kriegen, weil sich die anderen Parteien nach links öffnen und in der Mitte der Gesellschaft Platz für uns lassen. ... Wir sind das deutlichste Kontrastprogramm zur Linkspartei."

Es klang ein bißchen wie das Pfeifen im Walde.

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