Udo Leuschner / Geschichte der FDP (35) |
14. Bundestag 1998 - 2002 |
Die Bundestagswahlen am 27. September 1998 beendeten die seit Oktober 1982 andauernde Koalition der FDP mit den Unionsparteien: Zwar kam die FDP mit 6,2 Prozent erneut in den Bundestag - 0,7 Prozent weniger als 1994. Die CDU/CSU verlor jedoch 6,2 Prozent und errang nur noch 35,2 Prozent der Stimmen. Sogar die erfolgsgewohnte CSU verfehlte in Bayern erstmals seit fünfzig Jahren die absolute Mehrheit.
Die Union erhielt damit die Quittung für ihre Unfähigkeit, Helmut Kohl rechtzeitig durch einen überzeugenderen Kanzlerkandidaten wie Wolfgang Schäuble zu ersetzen. Der selbsternannte "Enkel Adenauers" hatte seinem Vorbild auch in der Halsstarrigkeit nachgeeifert, mit der er an seinen Ämtern festhielt. In den langen Jahren seiner Herrschaft hatte er die CDU derart unter seine Kontrolle gebracht, daß der Partei die Kraft zur Erneuerung fehlte und sie gewissermaßen sehenden Auges in die Wahlniederlage steuerte.
Dagegen legte die SPD um 4,5 Prozent auf 40,9 Prozent zu. Die Grünen erlitten nur leichte Einbußen von 7,3 auf 6,7 Prozent. Als vierte Partei zog mit 5,1 Prozent erneut die PDS in den Bundestag ein.
Das Wahlergebnis bescherte SPD und Grünen insgesamt eine satte Mehrheit von 345 Sitzen im Bundestag gegenüber 324 Sitzen aller anderen Fraktionen. Es konnte als klarer Auftrag zur Bildung einer rot-grünen Koalition gewertet werden, zumal die 36 Abgeordneten der PDS im Zweifelsfall eher dem rot-grünen Lager als der neuen Opposition aus Union und FDP zuzurechnen waren.
Damit begann für die FDP die dritte und bisher längste Phase, in der sie nicht an einer Bundesregierung beteiligt war. Erschwerend kam hinzu, daß sie zu Beginn der 14. Legislaturperiode nur noch in vier der 16 Bundesländer über Landtagsabgeordnete verfügte. Am Kabinettstisch saß sie lediglich in Stuttgart und Mainz. Da sie wie keine andere Partei auf die Vertretung in Parlament und Regierung als Lebenselixier angewiesen war, geriet sie in eine äußerst bedrohliche Situation. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch zum Teil die nun einsetzende Wandlung zu einer postmodernistisch-populistisch angehauchten Klamauk- und Spaßpartei. Die "putzmuntere" Oppositionspolitik, die Generalsekretär Westerwelle nach Bekanntwerden des Wahlausgangs ankündigte, wies bereits in diese Richtung.
Die liberale Substanz der Partei war unterdessen noch dünner geworden. In den sechzehn Jahren seit Beendigung der sozialliberalen Koalition hielt die Riege um Genscher und Lambsdorff, die seinerzeit die "Wende" durchsetzte, die Partei in ähnlicher Weise im Griff wie Kohl die Union. Die letzten verbliebenen Linksliberalen wie Burkhard Hirsch, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder Hildegard Hamm-Brücher waren marginalisiert worden. Aus Sicht der Parteiführung konnte es nur darum gehen, die Phase der Opposition so schnell wie möglich zu beenden und die Koalition mit der Union fortzusetzen. Eher gingen "vier Kamele durch ein Nadelöhr", als daß es eine Verbindung der FDP mit Rot-Grün gebe, erklärte der bisherige Außenminister Klaus Kinkel - angesichts des klaren Wahlergebnisses eine völlig überflüssige und die politische Position der FDP eher schwächende Bemerkung.
Es gab auch andere FDP-Politiker, die nichts von der Fixierung auf die Union hielten. Aber ihr einflußreichster Vertreter war ausgerechnet der wendig-windige Jürgen Möllemann, dem es wieder gelungen war, die Führung des Landesverbands Nordrhein-Westfalen zu übernehmen.
Auf dem 50. Bundesparteitag vom 28. bis 30. Mai 1999 in Bremen traten die unterschiedlichen Auffassungen zutage: Der Parteivorsitzende Wolfgang Gerhardt erklärte, die FDP sei nicht gewillt, sich für die Sozialdemokraten als Reservepartner eine fehlgeleiteten Politik bereitzuhalten. Möllemann dagegen unterstrich, daß CDU und SPD gleichweit von Positionen der FDP entfernt seien. In diesem Zusammenhang rühmte Möllemann die Erfolge der Mainzer SPD/FDP-Koalition und gab zu verstehen, daß ihm ein ähnliches Modell für die Ablösung der rot-grünen Koalition in Düsseldorf vorschwebe.
Der Bremer Bundesparteitag wählte Wolfgang Gerhardt mit 84,9 Prozent der Delegiertenstimmen für zwei weitere Jahre zum Vorsitzenden. Stellvertreter wurden die Landesvorsitzenden Rainer Brüderle (Rheinland-Pfalz), Cornelia Pieper (Sachsen-Anhalt) und Walter Döring (Baden-Württemberg). Guido Westerwelle wurde mit 84,8 Prozent der Stimmen als Generalsekretär bestätigt. Möllemann zog mit 68,52 Prozent der Stimmen als Beisitzer wieder in den Bundesvorstand ein, nachdem er noch vor zwei Jahren mit seiner Bewerbung um dieses Amt gescheitert war.
Von der "Partei der Besserverdienenden" war inzwischen keine Rede mehr. Demonstrativ entdeckte die Parteiführung sogar den Facharbeiter, um das Image einer "Zahnärzte-Partei" endlich loszuwerden: Unternehmer und Facharbeiter hielten die Wirtschaft in Gang, tönte der Finanzexperte Hermann Otto Solms in einer Aussprache des Bundestags zur Steuerpolitik am 13. November 1999. Auf dem Bremer Bundesparteitag warnte Guido Westerwelle davor, den Begriff sozial den "Umverteilern" zu überlassen: Die FDP sei eine Arbeitnehmerpartei, deren Politikern man es nicht verdenken könne, wenn sie als "soziale Demokraten ... die Schwachen vor den Faulen schützen wollen".
Diese rabulistischen Bemühungen zahlten sich
aber vorerst nicht aus. Die Talfahrt der Partei setzte sich bei den Landtagswahlen
zunächst fast ungebremst fort, wie aus der folgenden Übersicht
hervorgeht:
Bundesland | Wahltermin | FDP-Ergebnis
in Prozent |
Veränderung |
Hessen | 07. 02. 1999 | 5,1 | - 2,3 |
Bremen | 06. 06. 1999 | 2,52 | - 0,85 |
Saarland | 05. 09. 1999 | 2,6 | + 0,5 |
Brandenburg | 05. 09. 1999 | 1,86 | - 0,34 |
Thüringen | 12. 09. 1999 | 1,1 | - 2,1 |
Sachsen | 19. 09. 1999 | 1,1 | - 0,6 |
Berlin | 10. 10. 1999 | 2,2 | - 0,3 |
Schleswig-Holstein | 27. 02. 2000 | 7,6 | + 1,9 |
Nordrhein-Westfalen | 14. 05. 2000 | 9,8 | + 5,8 |
Baden-Württemberg | 25. 03. 2001 | 8,1 | - 1,5 |
Rheinland-Pfalz | 25. 03. 2001 | 7,8 | - 1,1 |
Hamburg | 23. 09. 2001 | 5,1 | + 1,6 |
Berlin | 21. 10. 2001 | 9,9 | + 7,7 |
Sachsen-Anhalt | 21. 04. 2002 | 13,1 | + 7,1 |
Bei den ersten sieben von insgesamt vierzehn Landtagswahlen während der 14. Legislaturperiode erlitt die FDP also durchweg weitere Verluste, wenn man von einem unbedeutenden Zugewinn im Saarland absieht. Etwas versüßt wurden diese bitteren Pillen lediglich durch den Umstand, daß sie in Hessen - wo sie fast unter die Fünf-Prozent-Hürde gerutscht wäre - nun endlich mit der CDU koalieren und die rot-grüne Regierung ablösen konnte.
In dieser immer schwierigeren Situation kam der FDP unverhofft der Spenden-Skandal zu Hilfe, der im November 1999 die CDU zu erschüttern begann und vor allem das Ansehen des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl schwer beschädigte. Am Jahresende leitete die Bonner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Kohl wegen Verdachts der Untreue zu Lasten der CDU ein. Es war absehbar, daß sich viele "bürgerliche" Wähler indigniert von der CDU abwenden und ihre Stimme der FDP geben würden, deren Verwicklung in die Flick-Affäre schon einige Zeit zurücklag und fast wie eine läßliche Sünde erscheinen mochte, wenn man sie mit dem jetzt aufgedeckten Sumpf an schwarzen Kassen und Bestechungsgeldern verglich.
Von dieser Verlagerung der Wählergunst profitierten als erste zwei Landesverbände, in denen scharfe Kritiker des von Wolfgang Gerhardt geleiteten Bundesvorstands den Ton angaben, nämlich Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Schon Wochen vor den Landtagswahlen am 27. Februar 2000 rechnete der Kieler Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kubicki - gestützt auf Umfrageergebnisse - fest damit, daß seine Partei mindestens 7,5 Prozent erringen werde. Zugleich kündigte er seinen Rücktritt an, falls die FDP nicht mehr als die kümmerlichen 5,7 Prozent von 1996 erzielen werde.
"Wenn es schief geht, dann implodiert die FDP", erklärte Kubicki mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Es werde sicher nicht schief gehen, fügte er hinzu, aber das bedeute noch lange nicht, auf "einen großen Wechsel in der Bundesführung" hoffen zu dürfen. "Wir werden erleben, daß dann der Bundesvorsitzende Wolfgang Gerhardt sich auf dem Bundesparteitag hinstellt und sagt: 'Seht, liebe Delegierte, meine Politik hat es gebracht, daß die FDP jetzt aus dem Tal des Jammers herausgekommen ist.' Und dann werden alle applaudieren und den Bundesvorsitzenden bis zum Jahr 2002 in der Führung belassen."
Am Wahlabend konnte Kubicki dann - gemeinsam mit seinem aus Düsseldorf angereisten Freund Möllemann - den vorhergesehenen Erfolg feiern und weitere Spitzen gegen den Bundesvorstand loswerden. Die schleswig-holsteinische FDP habe ein Signal für die gesamte Partei gesetzt: "Man kann auch wieder Wahlen gewinnen, aus eigener Kraft - wenn man das will."
Elf Wochen später - am 14. Mai 2000 - gelang der FDP in Nordrhein-Westfalen ein noch triumphalerer Erfolg, indem sie ihren Stimmenanteil von 4,0 auf 9,8 Prozent mehr als verdoppelte. Dieses Ergebnis durfte sich Jürgen Möllemann ans Revers heften. Während die FDP in Kiel weiterhin in der Opposition bleiben mußte, konnte sie sich in Düsseldorf sogar Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung machen. Möllemann kleidete sein Koalitionsangebot in die Aufforderung an die SPD, sich zu entscheiden, ob sie weiterhin mit den "bremsenden Grünen" oder mit einem "Turbo" regieren wolle. Und sogar Wolfgang Gerhardt wollte den Turbo Möllemann nicht stoppen: Die CDU sei "ältlich" geworden, befand der Parteivorsitzende. Außerdem habe sich die FDP nie als "Reclam-Ausgabe" der Christdemokraten gesehen.
Ministerpräsident Wolfgang Clement hörte solches Liebeswerben gern, da es ihm zumindest eine Handhabe bot, die widerspenstigen Grünen zu disziplinieren. Clement und der SPD-Landesvorsitzende Franz Müntefering ließen am 22. Mai verlauten, daß sie eine Koalition mit der FDP nicht ausschlössen. Aber schon sechs Tage später hatten die Grünen angesichts der ausgepackten "Folterwerkzeuge" (Bärbel Höhn) kapituliert und sich mit der SPD auf die Fortsetzung der Koalition verständigt. Drei Wochen später stimmten auch die Landesparteitage zu. Möllemann blieb nur noch übrig, das Ja der Grünen zum weiteren Bündnis mit der SPD als "Sterbeurkunde" der Öko-Partei zu verunken und ein frühzeitiges Ende der Koalition zu prophezeien.
Möllemann war seit diesem Wahlerfolg aber wieder obenauf, die Zeit seiner innerparteilichen Quarantäne endgültig beendet. Er konnte nun sogar zielbewußt zur Demontage des Parteivorsitzenden Gerhardt übergehen, wobei er sich mit dem Generalsekretär Guido Westerwelle diskret die Bälle zuspielte.
Gerhardts Autorität war inzwischen durch einen Konflikt mit seinem eigenen Landesverband weiter geschwächt worden. Die Bundes-FDP hatte sich am 9. Februar 2000 vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) distanziert, nachdem dieser zugeben mußte, in der Parteispendenaffäre wissentlich falsche Angaben über die Herkunft von Geldern gemacht zu haben. Für Gerhardt hing der weitere Verbleib der FDP in der Landesregierung von der Glaubwürdigkeit des Ministerpräsidenten ab, was auf eine Rücktrittsforderung hinauslief. Dahinter stand wohl die Überlegung, daß es für die FDP in der aktuellen Situation wichtig sei, sich gegenüber der skandalgeschüttelten CDU als Partei mit relativ sauberen Händen darzustellen.
Die hessische FDP-Chefin Ruth Wagner, die 1995 als Nachfolgerin Gerhardts die Führung des Landesverbands übernommen hatte, sah dies aber anders: Sie dachte nicht daran, ihre eben erst errungene Position als Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst und Stellvertreterin des Ministerpräsidenten wieder aufzugeben. Sie verbat sich die Einmischung des Bundesvorstands und berief eine Sondersitzung des Landesvorstands ein. Dabei stimmten 15 Mitglieder für die Fortsetzung der Koalition mit Koch. Eine Minderheit von sieben Vorstandsmitgliedern sowie die (nicht stimmberechtigten) Kreisvorsitzenden sprach sich allerdings für die Ablösung Kochs aus.
Eine zweite Runde dieser Auseinandersetzung endete für Gerhardt ebenfalls mit einer Niederlage: Ein Sonderparteitag der hessischen FDP am 4. März 2000 versagte ihm mit 166 gegen 132 Stimmen die Unterstützung, nachdem er die Delegierten aufgefordert hatte, das weitere Verbleiben der FDP in der Koalition von Kochs Rücktritt abhängig zu machen. Es war absehbar, daß eine solche Forderung auf Neuwahlen hinauslaufen würde. Dazu verspürte die hessische FDP, die vor einem Jahr ihrem parlamentarischen Tod mit 5,1 Prozent knapp entronnen war, aber verständlicherweise keine Lust.
Schließlich verlor der FDP-Vorsitzende auch noch die dritte Runde: Als in der zweiten Jahreshälfte neue Vorwürfe gegen Koch im Zusammenhang mit der Spendenaffäre auftauchten, glaubte Gerhardt endlich Oberwasser zu haben und bezeichnete die hessische CDU als Belastung für die Landespolitik. Die FDP-Landtagsfraktion folgte aber wiederum keineswegs der vom Bundesvorstand vorgegebenen Linie, sondern wies am 12. September 2000 gemeinsam mit der CDU einen Mißtrauensantrag der rot-grünen Oppositition gegen den umstrittenen Ministerpräsidenten zurück.