Udo Leuschner / Geschichte der FDP (32) |
13. Bundestag 1994 - 1998 |
Angesichts seiner knappen Mehrheit im Bundestag mußte das neu beschlossene Bündnis von Union und FDP bei der Wahl des Bundeskanzlers mit Racheakten einzelner Koalitionsabgeordneter rechnen, die sich bei der Neuverteilung der knapper gewordenen Ämter und Pfründen übergangen fühlten. In besonderem Maße galt das für die FDP. Die neue Kabinettsliste blieb deshalb vorerst geheim und sollte erst nach der Wiederwahl Kohls zum Kanzler veröffentlicht werden. Die FDP-Fraktionsführung mahnte ihre Abgeordneten zu "strikter Disziplin" bei der Kanzlerwahl. Der Ehrenvorsitzende Graf Lambsdorff gab potentiellen Abweichlern zu bedenken, sie "würden der Partei den Todesstoß versetzen".
Am 15. Oktober 1994 wählte dann der Bundestag Helmut Kohl erneut zum Kanzler - zum fünften Mal, seitdem die FDP 1982 das sozialliberale Bündnis aufgekündigt hatte, und mit der bislang knappsten Mehrheit: Kohl bekam im ersten Wahlgang gerade eine Stimme mehr als für die absolute Mehrheit erforderlich war. Aus der Zusammensetzung des Plenums ließ sich errechnen, daß mindestens drei Abgeordnete aus dem Regierungslager gegen Kohl gestimmt hatten.
Am 15. November trat der 13. Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung im Berliner Reichstagsgebäude zusammen. Die Rolle des Alterpräsidenten und damit die Eröffnungsrede fiel dem ostdeutschen Schriftsteller Stefan Heym zu, der als Parteiloser auf der Liste der PDS kandidiert hatte. Heym hatte in der DDR zur intellektuellen Opposition gehört und war deshalb vom SED-Regime wie ein Aussätziger behandelt worden. Dasselbe widerfuhr ihm nun vor dem 13. Bundestag, vor dem er eine der besten Reden hielt, die je zur Eröffnung des Parlaments gehört wurden. Allein die Tatsache, daß ein Abgeordneter der PDS die Rolle des Alterspräsidenten ausübte, ging der CDU/CSU derart gegen den Strich, daß einige ihrer Abgeordneten mit einem Eklat oder dem Auszug aus dem Parlament drohten. Dazu kam es zwar nicht, aber die Union verweigerte Heym demonstrativ jeglichen Beifall (mit Ausnahme der neuen Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth). Ebenso schäbig verhielt sich die Bundesregierung, indem sie - entgegen aller bisherigen Übung - die Eröffnungsrede des Alterspräsidenten nicht im regierungsamtlichen "Bulletin" veröffentlichte.
Kinkel war seit dem Parteitag von Gera nur noch ein Parteivorsitzender auf Abruf. Nach weiteren Nackenschlägen bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Bremen teilte er am 18. Mai 1995 mit, daß er beim bevorstehenden Bundesparteitag vom 9. bis 11. Juni in Mainz nicht mehr kandidieren werde. Er wolle damit den Weg freimachen für einen neuen Anfang und sich künftig auf seine Ämter als Außenminister und Vizekanzler konzentrieren.
Für Kinkel war dies vermutlich die beste Lösung, denn er war im Grunde ein seriöser, tüchtiger Beamter geblieben, dem die Begabung zum mitreißenden Parteiführer fehlte. Schaumschlägerei und Macchiavellismus blieben ihm fremd. Auch den Sturz Möllemanns als nordrhein-westfälischer Landesvorsitzender betrieb Kinkel nicht als politischer Intrigant, sondern eher aus Empörung über das innerparteiliche Intrigantentum. Die Ausbootung Möllemanns und die halbherzige Vertrauensbekundung durch den Geraer Parteitag hatten ihm nur vorübergehend eine Atempause verschafft. Wenn er sich als Parteivorsitzender weiter verschlissen hätte, wäre auch seine Position im Kabinett gefährdet gewesen. Insofern trat Kinkel mit seiner Demission die Flucht nach vorn an.
Ein halbes Jahr später wäre Kinkel fast auch als Außenminister zurückgetreten. Der Anlaß war, daß er den iranischen Außenminister Velayati zu einer Islam-Konferenz in Bonn eingeladen hatte. Als Realpolitiker hielt er es für sinnlos, das fundamentalistische Regime in Teheran noch mehr in die Isolierung drängen zu wollen. Die Opposition empörte sich indessen darüber, den Außenminister eines Landes einzuladen, dessen Staatspräsident wenige Tage zuvor die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Rabin als "Strafe Gottes" bejubelt hatte. Am 10. November 1995 brachten SPD und Grüne im Bundestag einen Antrag auf Rückgängigmachung der Einladung an. Die Fraktionsspitzen von Union und FDP drängten Kinkel, vor dem Plenum eine Erklärung abzugeben, wonach er die Einladung nochmals "überdenken" werde. Kinkel lehnte dies aber ab. Bei der folgenden Abstimmung schlossen sich auch fünfzig Abgeordnete aus den Reihen der Koalition dem Oppositionsantrag an. Anschließend kam es zu einer Krisensitzung der Koalitionsparteien. Kinkel war angeblich fest zum Rücktritt entschlossen und soll nur auf Zureden des Kanzlers Helmut Kohl im Amt geblieben sein. Er selbst dementierte anschließend die Rücktrittsgerichte, zeigte sich aber "verbittert" über die große Anzahl von Abweichlern aus dem Lager der Regierungsparteien und sah die Ursache für die Abstimmungsniederlage in "Managementfehlern".
Als Anwärter auf die Nachfolge Kinkels als Parteivorsitzender meldete sich am 20. Mai 1995 der hessische Landesvorsitzende Wolfgang Gerhardt. Die hessische FDP hatte sich bei den jüngsten Landtagswahlen von 7,4 auf 7,5 Prozent verbessern können, was inmitten der katastrophalen Abstürze, welche die Partei seit über einem Jahr heimsuchten, wie ein göttliches Gnadenzeichen empfunden wurde. Gerhardt galt als Hoffnungsträger und Integrationsfigur. Schon tags darauf versicherten ihm insgesamt acht Landesverbände ihrer Unterstützung.
Aber auch Möllemann witterte eine Chance, sich erneut ins Gespräch zu bringen. Am 29. Mai kündigte der abgehalfterte Landesvorsitzende an, daß er bei der Wahl des Bundesvorsitzenden gegen Gerhardt antreten werde. Möllemann beließ es nicht dabei, der Parteiführung erneut die Schuld an der Talfahrt bei den vergangenen Wahlen zu geben. Er wagte es zugleich, die seit zwölf Jahren andauernde Bindung der FDP an die Union in Frage zu stellen. "Der Standort der Liberalen in Sachfragen muß unabhängig von Koalitionen definiert werden", erklärte Möllemann.
Mit dem Rückenwind des hessischen Wahlergebnisses machte Gerhardt mühelos das Rennen gegen Möllemann. Außerdem galt Gerhardt als Mann des Ausgleichs, der als stellvertretender Bundesvorsitzender bereits über einige Erfahrung verfügte und mit den Problemen der Parteibasis vertraut war. Daß er ähnlich farblos wirkte wie Kinkel, wurde ihm vorerst nachgesehen.
Für Gerhardt war die Wahl zum Bundesvorsitzenden auch eine Genugtuung für die bisher ärgste Schlappe seiner politischen Laufbahn: Im Februar 1994 war er bereits als Nachfolger für den zurückgetretenen Bildungsminister Rainer Ortleb gehandelt worden - bis die Fraktion sich überraschend für Karl-Hans Laermann ausgesprochen hatte.
Auch Möllemann durfte zufrieden sein, soweit er mit seiner Kandidatur den eigentlichen Zweck verfolgt hatte, sich auf den neuen Bundesvorsitzenden einzuschießen und seinen politischen Wiederaufstieg auf Landesebene vorzubereiten. Die Chancen dafür standen nicht schlecht, denn die Partei war in Nordrhein-Westfalen in einer desolaten Verfassung, nachdem sie aus dem Landtag hinausgeflogen war. Zudem gab es wachsende Unzufriedenheit mit der Amtsführung des neuen Vorsitzenden Schultz-Tornau. Auch solche Parteimitglieder, die Möllemann für einen Schaumschläger und Egomanen hielten, trauten ihm noch am ehesten zu, das auf Grund gelaufene Parteischiff wieder flott zu machen. Auf dem Landesparteitag in Hagen am 27. April 1996 war es so weit: Möllemann setzte sich in einer Stichwahl gegen Schultz-Tornau durch, nachdem er eigene Fehler eingeräumt und Besserung gelobt hatte. Knapp 17 Monate nach seinem Sturz gelangte er so wieder an die Spitze der FDP Nordrhein-Westfalens.
Symptomatisch für eine zunehmende Identitätskrise der "Liberalen" waren zwei Mitgliederbefragungen, welche die FDP innerhalb der 13. Legislaturperiode durchführte, um Entscheidungen der Parteiführung durch die Basis legitimieren zu lassen. Die eine betraf die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht, die andere den "Großen Lauschangriff".
Der Einfall, über die Abschaffung der Wehrpflicht abstimmen zu lassen, kam dem Wiesbadener Parteitag, der im Mai 1997 ein neues, stark neoliberal gefärbtes Grundsatzprogramm beschloß. In der Tat konnte man die allgemeine Wehrpflicht in Zeiten hochtechnisierter Kriegsführung für überholt halten. Auch die Grünen sahen in ihr ein "Auslaufmodell". Das eigentliche Motiv der FDP, die Bundeswehr durch eine Freiwilligenarmee zu ersetzen, dürfte allerdings mehr der neoliberale Drang zur Deregulierung staatlicher Einrichtungen und Privatisierung von Dienstleistungen gewesen sein. Innerhalb der Parteiführung unterstützte Generalsekretär Westerwelle das Vorhaben, während der Parteivorsitzende Gerhardt, Bundesaußenminister Kinkel und der Ehrenvorsitzende Genscher dagegen waren. Im August 1997 machte auch Bundeskanzler Kohl unvermißverständlich klar, daß die Union niemals eine derartige Forderung des Koalitionspartners akzeptieren würde. Zum Konflikt kam es aber erst gar nicht: Bei dem Mitgliederentscheid, dessen Ergebnis am 17. November 1997 bekanntgegeben wurde, votierte die Mehrheit für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Allerdings beteiligte sich weniger als ein Fünftel der Mitglieder an der Abstimmung. Für einen bindenden Auftrag an die Parteiführung hätte es mindestens ein Drittel sein müssen.
Wesentlich stärker war das Mitgliederinteresse bei der vorangegangenen Abstimmung über den "Großen Lauschangriff", deren Ergebnis am 15. Dezember 1995 verkündet wurde: Von den 80.305 Parteimitgliedern beteiligten sich genau 43,09 Prozent. Und von denen votierten wiederum nahezu 64 Prozent für den Lauschangriff.
Im Unterschied zur Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht rührte dieses Abstimmungsergebnis an die liberale Substanz der FDP, denn der Große Lauschangriff bedeutete eine wesentliche Einschränkung des in Artikel 13 Grundgesetz verankerten Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Die geplante Gesetzesnovelle erlaubte den Einsatz "technischer Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen", sofern der Verdacht auf eine schwere Straftat vorliegt und das Abhören des Privatbereichs durch richterliche Anordnung sanktioniert wird. Mit der Billigung dieser Grundgesetzeinschränkung setzte sich in der FDP ebenfalls der Neoliberalismus mit seiner Ideologie vom starken Staat durch.
Die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hielt dagegen an der altliberalen Auffassung fest, daß im Zweifelsfall die Bürgerrechte Vorrang haben und einem möglichen Mißbrauch staatlicher Gewalt vorgebeugt werden muß. Auch Burkhard Hirsch hatte sich gegen den Großen Lauschangriff ausgesprochen. Nach Bekanntwerden das Mitgliederentscheids trat Leutheusser-Schnarrenberger als Justizministerin und Hirsch als innenpolitischer Sprecher der Fraktion zurück.
Die linksliberale Justizministerin war den Tränen nahe, als sie ihren Rücktritt verkündete und das Ergebnis des Mitgliederentscheids als Indiz für einen Richtungswechsel in der Partei wertete: Wer den Schutz des Bürgers durch den Staat wichtiger nehme als den Schutz des Bürgers vor dem Staat, der gebe im schlimmsten Fall den Liberalismus auf. Innerhalb der Partei herrsche ein "politisches Bündnis der Unbeweglichkeit, das dem organisierten Liberalismus seine Existenzberechtigung entzieht".
Am 17. Januar 1996 wurde Edzard Schmidt-Jortzig als neuer Bundesjustizminister vereidigt und übernahm als farbloser Nachfolger die Amtsgeschäfte von Leutheusser-Schnarrenberger. Zwei Jahre später billigte der Bundestag den Großen Lauschangriff mit den Stimmen der Unionsparteien und des größten Teils von FDP und SPD. Geschlossen mit Nein stimmten lediglich die Grünen und die PDS. Anschließend kam es noch zu Auseinandersetzungen darüber, welche Berufsgruppen aufgrund ihres strafprozeßrechtlich verankerten Zeugnisverweigerungsrechts von den staatlichen Abhörpraktiken ausgenommen werden müßten. Dabei stimmten am 5. März 1998 im Bundestag neun FDP-Abgeordnete gemeinsam mit SPD und Grünen für eine Ausweitung des Abhörverbots auf Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten und andere Berufsgruppen. Es waren so unterschiedliche Politiker wie Leutheusser-Schnarrenberger, Genscher, Lambsdorff, Schwaetzer und Möllemann.
In Anbetracht der desolaten Haushaltslage hatte die neoliberal gewendete FDP keine Probleme, im September 1996 einem Sparpaket zuzustimmen, das die Lohnfortzahlung bei Krankheit einschränkte, den Kündigungsschutz lockerte, das Rentenalter für Frauen heraufsetzte und Abstriche an der Gesundheitsfürsorge machte. Dagegen tat sie sich sehr schwer damit, die versprochenen Steuersenkungen durchzusetzen. Der einzige Erfolg auf diesem Gebiet, die Abschaffung der Vermögenssteuer zum 1. Januar 1997, wurde nur durch eine Absprache zwischen Union und SPD ermöglicht (denn auch die rot-grüne Opposition war inzwischen vom neoliberalen Virus infiziert worden). Da für die Vermögenssteuer hohe Freibeträge galten, kam deren Abschaffung ausschließlich den Reichen zugute. Den Ländern entstanden dadurch Einnahmeausfälle von rund neun Milliarden Mark.
Im Oktober 1996 gelang es der FDP nur mühsam, die Union von einer erneuten Erhöhung der Mineralölsteuer abzuhalten. Den vorläufigen Verzicht erkaufte sie mit dem Zugeständnis, eine Senkung des sogenannten Solidaritätszuschlags um ein Jahr auf Anfang 1998 zu verschieben - gerade noch rechtzeitig vor den nächsten Bundestagswahlen. Ein Jahr später einigte man sich auf die Höhe der Absenkung: Der Solidaritätszuschlag sollte fortan nur noch 5,5 statt 7,5 Prozent betragen. Dafür beschloß der Bundestag im Dezember 1997 die weitere Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Punkt auf nunmehr 16 Prozent ab Anfang Januar 1998 - eine steuerliche Mehrbelastung, welche die gleichzeitig in Kraft tretende Erleichterung des Solidaritätszuschlags mehr als wettmachte.
Obwohl sie ihre Steuersenkungs-Versprechen nicht verwirklichen konnte, erhob die FDP auf ihrem Wahlparteitag am 19. April 1998 in Berlin erneut die Forderung nach steuerlichen Entlastungen. Für die Hoch- und Besserverdienenden sollte der Steuersatz von 53 auf 35 Prozent abgesenkt werden. Zugleich zeigte sie demonstrativ auch ein Herz für die Armen, indem sie Einkommen bis zu 13.000 Mark jährlich ganz von der Steuer befreien wollte. Davon konnte freilich sowieso kaum jemand leben - mit oder ohne Besteuerung.
Die Arbeitslosigkeit erreichte unter der fünften Regierung Kohl einen neuen Höchststand: Im Februar 1997 wurden 4,6 Millionen Arbeitslose registriert, womit die Erwerbslosenquote auf 12,2 Prozent stieg (in den alten Bundesländern betrug sie 10,6 und in den neuen 18,7 Prozent). Als Allheilmittel empfahl die FDP auch hier Steuersenkungen, die angeblich die Schaffung neuer Arbeitsplätze bewirken würden.