Udo Leuschner / Geschichte der FDP (28) |
12. Bundestag 1991 - 1994 |
Am 2. Dezember 1990 fanden die ersten gesamtdeutschen Wahlen nach dem zweiten Weltkrieg statt. Für die Regierungskoalition, die noch bis zum Herbst 1989 ihre Abwahl befürchten mußte, wurden sie zu einem großartigen Erfolg. Vor allem in den fünf neuen Bundesländern erzielten CDU und FDP traumhafte Ergebnisse. Aber auch in Westdeutschland profitierten sie von der Begeisterung über die deutsche Einheit, die zwei Monate zuvor formell vollzogen worden war. Nur in Bayern mußte die Union einen Rückgang von 55,1 auf 51,9 Prozent hinnehmen. Diesen Dämpfer für die CSU vermerkten die beiden anderen Koalitionspartner aber eher mit Genugtuung. Besonders die FDP freute sich diebisch darüber, nun über deutlich mehr Abgeordnete zu verfügen als die CSU.
Mit 11,0 Prozent erzielte die FDP ihr bestes Wahlergebnis seit 1961 (12,7 Prozent) und das drittbeste seit 1949 (11,9 Prozent). Noch besser war ihr Abschneiden mit 13,4 Prozent in den neuen Bundesländern. In Halle konnte sie sogar ein Direktmandat erringen, was ihr seit 1957 nicht mehr gelungen war. Der Erfolg wurde allgemein der Popularität von Hans-Dietrich Genscher zugeschrieben, der in der Nähe von Halle geboren und in der Stadt aufgewachsen war. Er hatte aber sicher auch damit zu tun, daß die beiden Blockparteien LDPD und NDPD, die inzwischen in der FDP aufgegangen waren, in keiner anderen Stadt der DDR so viele Mitglieder besaßen wie in Halle.
Für die Oppositionsparteien waren die Bundestagswahlen dagegen eine große Enttäuschung. Während die CDU mit 36,7 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 1957 erzielte, erlitt die SPD mit 33,5 Prozent ihre schlimmste Wahlniederlage seit 1957. Die Wähler scheinen es dem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine verübelt zu haben, daß er wissen wollte, wie die Regierung die deutsche Einheit zu finanzieren gedenke. Da war das Wahlprogramm der CDU, das jede Steuererhöhung zur Finanzierung der Einheit ausschloß, schon mehr nach dem Geschmack der Mehrheit. Die FDP hatte auf den CDU-Schelmen anderthalbe gesetzt, indem sie kategorisch jede Art von Steuererhöhung ablehnte. Vor allem wollte sie keine "Neidsteuer für Besserverdienende" dulden.
Noch schlimmer als der SPD erging es den Grünen (West), die nur in den alten Bundesländern kandidiert hatten und hier mit 3,9 Prozent unterhalb der Hürde für den Bundestag blieben. Dagegen kam die Allianz aus "Bündnis 90" und Grünen (Ost) in den neuen Bundesländern auf 5,9 Prozent und konnte acht Abgeordneten in den ersten gesamtdeutschen Bundestag entsenden.
Dank der Einteilung in zwei Wahlgebiete gelangte auch die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) mit 17 Abgeordneten in den Bundestag, obwohl die 9,9 Prozent, die sie in den ostdeutschen Ländern errang, bundesweit nur 2,4 Prozent entsprochen hätten. Mit der Nachfolgerin der SED zog zum zweitenmal eine neue Kraft in den Bundestag ein. Das Spektrum des Parlaments, das von 1961 bis 1983 nur aus CDU/CSU, SPD und FDP bestanden hatte, umfaßte nun mit Grünen und PDS fünf politische Lager.
Bei den Koalitionsverhandlungen bestand die FDP zunächst darauf, die ostdeutschen Länder zu einem Niedrigsteuergebiet zu machen. "Ohne Niedrigsteuergebiet keine Kanzlerwahl", erklärte der Parteivorsitzende Lambsdorff. Bald ging es aber nur noch darum, wie man die Belastungen durch die deutsche Einheit am besten kaschieren könne. Da beide Parteien Steuerhöhungen ausgeschlossen hatten - die CDU allerdings nur solche zur Finanzierung der Einheit - verfiel man auf Auswege wie die Erhöhung der Telefongebühren oder Autobahn-Vignetten. Am Ende einigte man sich auf Abstriche im Sozialbereich.
Am 17. Januar 1991 wurde Helmut Kohl zum vierten Mal vom Bundestag zum Kanzler gewählt. Wie 1987 stimmten auch dieses Mal nicht alle Koalitionsabgeordneten für ihn, aber die Zahl der Dissidenten war deutlich geringer. Das neue Kabinett umfaßte 19 Minister, von denen fünf der FDP angehörten: Hans-Dietrich Genscher übernahm wieder das Außenministerium, das er inzwischen seit fast 17 Jahren innehatte. Anstelle des amtsmüden Helmut Haussmann rückte Jürgen Möllemann auf den Stuhl des Wirtschaftsministers. Sein Nachfolger als Bildungsminister wurde der Ostdeutsche Rainer Ortleb. Das Justizministerium übernahm der parteilose Klaus Kinkel, der noch im selben Monat der FDP beitrat. Als neues Ressort kam das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hinzu, das Irmgard Adam-Schwaetzer leiten durfte. Irmgard Schwaetzer - so nannte sie sich ab September 1991 - war bisher unter Genscher Staatsministerin im Auswärtigen Amt gewesen und außerdem stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende.
Als die vierte Regierung Kohl am 14. Februar 1991 den ersten gesamtdeutschen Haushaltsentwurf vorlegte, belief sich dessen Gesamtsumme auf rund 400 Milliarden Mark. Das waren 125 Milliarden mehr, als der Haushaltsentwurf für das Jahr 1988 vorgesehen hatte. Aber es war immer noch viel zu wenig, wie sich bald herausstellen sollte. Die Voraussage eines selbsttragenden Aufschwungs in der ehemaligen DDR erwies sich nun als Wahlpropaganda. Anstelle "blühender Landschaften", wie sie Helmut Kohl 1990 im ostdeutschen Wahlkampf versprochen hatte, bestimmten industrieller Niedergang und extrem hohe Arbeitslosigkeit die Landschaft der fünf neuen Bundesländer.
Angesichts des finanziellen Desasters gab die FDP am 18. Februar ihren Widerstand gegen Steuererhöhungen auf. In einer Bundestagsdebatte am 21. Februar versuchte die Regierungskoalition den geordneten Rückzug von ihren unhaltbaren Wahlversprechungen, indem sie unvorhersehbare Belastungen durch die Golfkrise und die Entwicklung in Osteuropa in den Vordergrund rückte. Lambsdorff räumte einen "Irrtum in Teilbereichen" ein.
Am 26. Februar vereinbarte die Koalition ein umfangreiches Paket an Steuererhöhungen, die bereits zum 1. Juli in Kraft treten und insgesamt 46 Milliarden Mark erbringen sollte. Der dickste Batzen war die Einführung eines Zuschlags von 7,5 Prozent auf die Einkommen- und Körperschaftssteuer, der als "Solidaritätszuschlag" bezeichnet wurde und zunächst auf ein Jahr befristet war. Weitere Milliarden sollte eine kräftige Erhöhung der Mineralölsteuer erbringen. Außerdem wurden die Versicherungs- und Tabaksteuer erhöht.
SPD-Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel nannte die Steuerbeschlüsse das "größte und unverfrorenste Täuschungsmanöver seit Beginn der Bundesrepublik". Sogar die ansonsten regierungsfreundliche "Bild-Zeitung" empörte sich über die "Steuerlüge": Sie erschien am 27. Februar mit einem um neunzig Grad gekippten Kohl-Bild auf der Titelseite und der Schlagzeile "Der Umfaller".
Dabei war der eigentliche Umfaller die FDP, die im Wahlkampf noch nachdrücklicher als die Union jede Art von Steuererhöhungen abgelehnt hatte. Im Unterschied zu 1961, als ihr der Bruch eines Wahlversprechens über viele Jahre den Ruch der "Umfaller"-Partei eingebracht hatte, entstand ihr aus den Steuerbeschlüssen von 1991 aber kein größerer Image-Schaden. Es gelang ihr sogar bald, sich wieder als Hüter der Staatsfinanzen darzustellen: So kritisierte Lambsdorff den Bundeskanzler, als dieser am 10. Mai in Schkopau weilte und die Erhaltung der dortigen Buna-Werke versprach: Eine Garantie für die Erhaltung einer Chemieregion könne von niemandem gegeben werden. Am 8. Juli mahnte Lambsdorff die Bundesregierung zu einer dringenden Umkehr in ihrer Geldpolitik, weil die Folgekosten der deutschen Einheit auf mehr als 150 Milliarden Mark jährlich zu veranschlagen seien.
Auf dem 42. Bundesparteitag der FDP, der vom 1. bis 3. November 1991 in Suhl stattfand, wurde Lambsdorff erneut zum Parteivorsitzenden gewählt. Er hatte keinen Gegenkandidaten, bekam aber nur 433 von 660 Delegierten-Stimmen. Stellvertreter wurden Irmgard Schwaetzer, Rainer Ortleb und der hessische Landesvorsitzende Wolfgang Gerhardt. Das Amt des Generalsekretärs übernahm das ehemalige LDPD-Mitglied Uwe Lühr, dem es in Halle gelungen war, der FDP erstmals seit 33 Jahren zu einem Direktmandat im Bundestag zu verhelfen. Lühr trat die Nachfolge von Cornelia Schmalz-Jacobsen an.
Am 27. April 1992 gab Hans-Dietrich Genscher seinen Rückzug vom Amt des Bundesaußenministers bekannt. Er hatte insgesamt fast 23 Jahre ununterbrochen dem Bundeskabinett angehört, zuerst als Innenminister (von 1969 bis 1974) und danach als Außenminister. Mit 65 Jahren und zwei Herzinfarkten konnte er gute Gründe für seinen Entschluß geltend machen.
Um die Nachfolge Genschers als Bundesaußenminister entbrannte ein heftiger Streit innerhalb der Parteiführung: Noch am selben Tag, an dem Genscher seinen Entschluß bekanntgab, nominierte der Parteivorstand die Wohnungsbauministerin Irmgard Schwaetzer, die zuvor Staatsministerin im Auswärtigen Amt gewesen war. Die Bundestagsfraktion der FDP widersetzte sich jedoch dem Beschluß des Parteivorstandes. Sie befürwortete stattdessen die Ernennung des bisherigen Justizministers Klaus Kinkel, der erst im Januar 1991 der FDP beigetreten war und noch bei der Vorstellung des neuen Kabinetts als "parteilos" gegolten hatte. Treibende Kraft bei dem Konflikt zwischen Parteivorstand und Fraktion war der Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann, der die Nachfolge Genschers als Vizekanzler antreten wollte und darüber hinaus den Parteivorsitz anvisierte. Bei einer Kampfabstimmung innerhalb der Fraktion sprach sich nur eine Minderheit der Abgeordneten für Schwaetzer aus, die ihre Enttäuschung nicht verhehlen konnte und Möllemann als "intrigantes Schwein" beschimpfte.
Am 18. Mai erhielt Genscher aus der Hand des Bundespräsidenten seine Entlassungsurkunde. Zugleich wurde Klaus Kinkel neuer Bundesaußenminister. Die Nachfolge Kinkels als Justizminister übernahm die bis dahin weitgehend unbekannte Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie hatte sich innerhalb der Fraktion gegen Burkhard Hirsch durchgesetzt, der wie sie dem linksliberalen Flügel zugerechnet wurde. Der Quertreiber Möllemann durfte Vizekanzler werden - zum Entsetzen des CSU-Vorsitzenden und Bundesfinanzministers Theo Waigel, der es als "Zumutung" empfand, unter einem derart wendig-windigen Vizekanzler dem Bundeskabinett anzugehören.
Möllemann konnte sich seiner neuen Würde nicht lange erfreuen. Schon sieben Monate später stolperte er über die "Briefbogenaffäre", die ihn als Wirtschaftsminister wie als Vizekanzler unmöglich machte. Er hatte sich als Minister für einen angeheirateten Cousin ins Zeug gelegt, indem er dessen Geschäftsidee - Plastik-Chips für Einkaufswagen - in Schreiben an sieben Einzelhandelsketten als "pfiffiges Produkt" anpries. Dummerweise leugnete er auch noch, die Briefe eigenhändig unterschrieben zu haben. Zunächst schob er die Schuld auf einen Mitarbeiter, der Briefbögen des Ministeriums mit seiner Blanko-Unterschrift verschickt habe. Dann berief er sich darauf, daß er die Briefe zusammen mit vielen anderen in einer Unterschriftenmappe ohne näheres Hinsehen abgezeichnet hätte. Die Kritik verschärfte sich, als bekannt wurde, daß Möllemann in seinem Wahlkreis Warendorf für die weitere Zulassung eines "Wunderheilers" als Heilpraktiker interveniert hatte, dem die Ausübung der "Heilkunde durch Handauflegen" vom Gesundheitsamt untersagt worden war. Auch in der FDP wurden diese Vorwürfe als sehr peinlich empfunden. So erklärte Hildegard Hamm-Brücher in einem Zeitungsinterview, daß Möllemann nach ihrem Verständnis von Stil und Anstand zurücktreten müsse. Kanzler Kohl forderte den Wirtschaftsminister, der auf Urlaub in der Dominikanischen Republik weilte, zu einer sofortigen und umfassenden Berichterstattung auf. Darauf gab Möllemann am 3. Januar 1993 seinen Rücktritt bekannt, um - wie er sagte - sein Amt, die Partei und seine Familie nicht länger zu belasten. Grundsätzlich sehe er aber keinen Anlaß zur Demission. Die anfängliche Leugnung seiner Urheberschaft an den Briefen erklärte er mit Arbeitsüberlastung.
"Er war in diesem Amt schon vorher unmöglich, und daß er es gegen alle Vernunft bekommen hatte, führte nur dazu, daß alsbald vom Wirtschaftsministerium kaum noch die Rede war", kommentierte die "Süddeutsche Zeitung" den Rücktritt. "Die Welt" zeigte sich ebenfalls erleichtert: "Der Rücktritt Möllemanns befreit die Republik von einem Alptraum."
Die Lücke, die Möllemann offenbar nicht hinterlassen hatte, füllte Günter Rexrodt, der am 22. Januar 1993 als neuer Wirtschaftsminister vereidigt wurde. Der 51jährige promovierte Betriebswirt hatte sich bereits 1991 vergeblich gegen Möllemann um dieses Amt beworben, um dann mit dem Posten eines Vorstands der Berliner Treuhandanstalt vorlieb zu nehmen. Von 1985 bis 1989 war er Finanzsenator in Berlin. Den Posten des Vizekanzlers, der durch Möllemanns Rücktritt ebenfalls frei geworden war, bekam nun Bundesaußenminister Klaus Kinkel.
Zuvor gab es allerdings noch eine Auseinandersetzung mit dem Bundeskanzler, weil Rexrodt nach seiner Nominierung durch Parteivorstand und Fraktion auf einer Pressekonferenz betont hatte, daß der Kanzler dieses Votum nur noch "zur Kenntnis zu nehmen und zu bestätigen" habe. Helmut Kohl empfand diese Äußerung als "inakzeptabel" und verwies auf Artikel 64 des Grundgesetzes, wonach die Minister vom Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernannt werden. In der Tat war es nicht selbstverständlich, daß die FDP beide Ämter wieder besetzen konnte. Es hatte Kohl vielmehr einige Mühe gekostet, diesbezügliche Begehrlichkeiten aus der Union zurückzuweisen.
Seine Ambitionen auf den Bundesvorsitz der FDP mußte Möllemann natürlich auch abschreiben. Auf dem 44. Bundesparteitag vom 11. bis 13. Juni 1993 in Münster wurde Klaus Kinkel als einziger Bewerber mit 545 von 619 Stimmen zum Nachfolger von Otto Graf Lambsdorff gewählt, der nicht mehr kandidierte. Neuer Generalsekretär wurde Werner Hoyer, der bisherige parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion.
Kinkel, der erst im Januar 1991 in die FDP eingetreten war, überbot mit dieser Blitzkarriere alle bisherigen "Senkrechtstarter": Binnen 18 Monaten hatte er es zum Parteivorsitzenden gebracht. Aber das nahm nicht weiter wunder, nachdem er es bereits geschafft hatte, als Minister mit FDP-Ticket an die Spitze des Auswärtigen Amtes zu gelangen, noch bevor er überhaupt FDP-Mitglied war.
Anfang Februar 1994 erklärte Rainer Ortleb seinen Rücktritt vom Amt des Bundesbildungsministers sowie vom Landesvorsitz der FDP in Mecklenburg-Vorpommern. Er gab gesundheitliche Gründe für diesen Entschluß an. In den drei Jahren seiner Amtszeit hatte der Ostdeutsche allerdings auch keine besonders glückliche Hand als Bildungspolitiker gehabt. Mit seiner Entscheidung, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) nicht zu erhöhen und mit einem zusätzlichen Leistungsnachweis zu koppeln, hatte er zehntausende von Studenten und Schülern zu Protestdemonstrationen auf die Straße getrieben. Nachfolger Ortlebs wurde der bisherige forschungspolitische Sprecher der FDP, Karl-Hans Laermann.
Im Oktober 1993 nominierten die Unionsparteien den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann als Nachfolger für den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der bereits zwei Amtsperioden hinter sich hatte und deshalb bei der bevorstehenden Bundespräsidenten-Wahl am 23. Mai 1994 nicht erneut antreten konnte. Die Nominierung war mit dem Koalitionspartner nicht abgesprochen worden, obwohl die Union in der Bundesversammlung nicht über die absolute Mehrheit verfügte. Die FDP stellte deshalb mit der 72jährigen Hildegard Hamm-Brücher eine eigene Kandidatin auf. Für die SPD trat der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau an. Als unabhängiger Bewerber kandidierte der frühere ostdeutsche Bürgerrechtler Jens Reich.
Heitmann galt als Kandidat von Helmut Kohls Gnaden. Richard von Weizsäcker soll ihn als "unbescholtenen, konturenarmen Nischen-Ossi" charakterisiert haben. Hildegard Hamm-Brücher war für die FDP nur eine Ersatzlösung, nachdem Hans-Dietrich Genscher, der bei allen Parteien die besten Chancen gehabt hätte, eine Kandidatur abgelehnt hatte. Der SPD-Kandidat Rau ("Bruder Johannes") war in seiner pastoralen Art auch nicht jedermanns Geschmack. So erklärt es sich wohl, daß die Jugendorganisationen der rivalisierenden Parteien - Junge Union, Jungsozialisten und Junge Liberale - in bisher beispielloser Weise auf Distanz zu ihren Müttern gingen, indem sie in einem gemeinsamen Appell den unabhängigen Liberalen Jens Reich unterstützten.
Heitmann weckte dann allerdings sogar bei Kohl Zweifel an seiner Eignung, als er den EG-Vertrag von Maastricht als "von oben verordnet" bezeichnete, "die Mutterschaft wieder ins Zentrum der Gesellschaft rücken" wollte oder die Hauptursache der Wohnungsnot in einer "unkontrollierten Asylantenschwemme" sah. Nach kurzer, heftiger Mediendebatte über diese und andere Zitate gab Heitmann am 25. November 1993 den Rücktritt von der Kandidatur bekannt. Ersatzweise einigte sich die Union auf den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, der dann am 23. Mai 1994 tatsächlich zum Bundespräsidenten gewählt wurde.
Allerdings klappte Herzogs Wahl erst im dritten Anlauf, da er die in den ersten beiden Wahlgängen erforderliche absolute Mehrheit nicht erreichte. Mit den Stimmen der FDP hätte auch Rau zum Staatsoberhaupt gewählt werden können. Ein solches Signal für einen Koalitionswechsel wollte die FDP-Führung aber nicht. Als versöhnliche Geste gegenüber dem Koalitionspartner beschloß sie außerdem, daß Hamm-Brücher - entgegen ihrem eigenen Wunsch - im dritten Wahlgang zugunsten Herzogs verzichten sollte. So wurde der Unionschrist Herzog am Ende doch noch mit absoluter Mehrheit gewählt, obwohl er sie im dritten Wahlgang nicht mehr benötigt hätte.
Der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping warf der FDP anschließend vor, sie habe sich mit ihrem Stimmverhalten "als eigenständige Kraft verabschiedet". Kanzler Kohl nannte die Sozialdemokraten "einmal mehr schlechte Verlierer".
Schon am 11. April 1994 hatte sich der Bundesvorstand für die Fortsetzung der Koalition mit der CDU/CSU nach den Bundestagswahlen ausgesprochen. Die Wahl Herzogs zum Bundespräsidenten war vor diesem Hintergrund zu sehen. Auf einem Bundesparteitag vom 3. bis 5. Juni in Rostock sprach sich die FDP auch öffentlich für die Fortsetzung des Bündnisses mit der Union aus. Von den 662 Delegierten stimmten nur 36 gegen die Beschlußvorlage des Bundesvorstands.