Udo Leuschner / Geschichte der FDP (20) |
10. Bundestag 1983 - 1986 |
Angesichts der niederschmetternden Landtagswahlergebnisse in Hessen, Bayern und Hamburg verspürte die FDP keinerlei Neigung zu Neuwahlen. Die CDU/CSU fühlte sich dagegen im Aufwind und wollte die "Wende" so bald wie möglich vom Wähler bestätigen lassen. Schon kurz nach dem Sturz des Minderheitskabinetts von Helmut Schmidt im September 1982 faßte deshalb der neue Bundeskanzler Helmut Kohl den 6. März als Wahltermin ins Auge.
Um eine vorzeitige Beendigung der vierjährigen Legislaturperiode zu erreichen, bediente sich Kohl derselben Methode wie zehn Jahre zuvor der SPD-Kanzler Willy Brandt: Am 17. Dezember 1982 stellte er im Bundestag die Vertrauensfrage und sorgte durch Stimmenthaltung der Koalitionsparteien für ein negatives Votum. Damit war er formal legitimiert, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestags vorzuschlagen. Bundespräsident Carstens kam diesem Wunsch am 7. Januar 1983 nach und setzte den 6. März als Termin für Neuwahlen an.
Bevor Kohl dem Parlament die Vertrauensfrage stellte, verabschiedete der Bundestag mit 266 gegen 210 Stimmen - also einer klaren Mehrheit - den Haushalt für das Jahr 1983. Insofern unterschied sich Kohls Vorgehen von demjenigen Brandts, dem eine klare Mehrheit im Parlament gefehlt hatte und der deshalb auch den negativen Ausgang der Vertrauensfrage allein schon durch die Stimmenthaltung der Kabinettsmitglieder herbeiführen konnte.
Wegen der rein formalen Handhabung der Vertrauensfrage klagten vier Bundestagsabgeordnete vor dem Bundesverfassungsgericht: Das Grundgesetz schreibe nun mal vier Jahre als Legislaturperiode vor, solange die Regierung über eine ausreichende Mehrheit im Parlament verfüge. Das Gericht ließ ihre Argumentation auch im Prinzip gelten: Der Artikel 68 des Grundgesetzes sei kein Freibrief für den Kanzler, zu einem beliebigen Zeitpunkt Neuwahlen herbeizuführen. Die Stellung der Vertrauensfrage sei nur gerechtfertigt bei einer gravierenden politischen Instabilität, die ein Weiterregieren unmöglich mache. Eine solche habe hier allerdings vorgelegen - so glaubten die Richter des 2. Senats mit knapper Mehrheit zu erkennen - weil der Kanzler sich auf die zerstrittene FDP nicht habe langfristig verlassen können bzw. weil er spätestens bei der Ablehnung von Neuwahlen durch den Bundespräsidenten nur noch ein "Kanzler zweiter Güte" gewesen wäre.
Zwei der klagenden Abgeordneten - Hansheinrich Schmidt und Friedhelm Rentrop - kamen nicht ganz zufällig aus der FDP. Die anderen waren der CDU-Abgeordnete Karl-Hans Lagerhausen und der ehemalige SPD-Abgeordnete Karl Hofmann, der als Fraktionsloser ebenfalls um seine Wiederwahl fürchten mußte.
Auch dem Parteivorsitzenden Genscher bangte vor dem Wahlausgang. Er rief jedenfalls die Unionswähler dazu auf, ihre Zweitstimme der FDP zu geben. Zugleich empfahl er seine Partei, die beispielsweise eine Änderung des Abtreibungsparagraphen oder des Scheidungsrechts ablehnte, als Gegengewicht zu den christdemokratischen Ultras: Mit der FDP sei eine "konservative Gegenreform" nicht zu machen.
Unfreiwillige Wahlhilfe leistete wieder Strauß: Zwischen der Union und der FDP gebe es tiefgreifende Unterschiede in der Innen-, Rechts- und Familienpolitik, erklärte der Rechtsausleger der Unionsparteien auf der traditionellen Aschermittwochs-Kundgebung der CSU in Passau. Zum Teil bestünden auch kontroverse Auffassungen in der Deutschland- und Ostpolitik. Ein paar Tage später verkündete Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), daß er sich Strauß unter allen Umständen als Außenminister wünsche. Genscher ließ seinerseits über die FDP-Generalsekretärin Adam-Schwaetzer ausrichten: "Wir wollen, daß Hans-Dietrich Genscher nach dem 6. März seine erfolgreiche Außenpolitik fortführen kann." Zimmermann stelle die Ostpolitik in Frage, Strauß die ganze Entspannungspolitik.
Am Abend des 6. März 1983 konnte die FDP-Führung aufatmen: Mit 7,0 Prozent der Stimmen verlor die Partei gegenüber den vergangenen Wahlen zwar 3,6 Prozentpunkte, lag aber immer noch deutlich über fünf Prozent und kam so mit einem blauen Auge davon. Nicht minder erfreulich war, daß es den Unionsparteien trotz eines kräftigen Zuwachses um 4,3 auf 48,8 Prozent nicht zur absoluten Mehrheit gereicht hatte. Die SPD verschlechterte sich in etwa demselben Umfang auf 38,2 Prozent, während die Grünen mit 5,6 Prozent erstmals in den Bundestag einzogen.
Strauß stichelte anschließend in einem "Spiegel"-Interview, daß die FDP nach wie vor nur über 2,5 bis 3 Prozent echte Wähler verfüge. Sie habe die Fünf-Prozent-Hürde nur mit den Zweitstimmen von Unionswählern überwunden. Nach seiner Meinung - und dieser Seitenhieb galt dem Rivalen Kohl - , "hätte die CDU energischer für die absolute Mehrheit kämpfen müssen, statt von vornherein zu signalisieren, eigentlich legen wir gar keinen so großen Wert auf die absolute Mehrheit, wir führen lieber die Koalition fort."
In Straußens Worten klang auch Verärgerung mit, daß er nicht Außenminister werden konnte. Er mußte dieses Amt weiterhin Genscher überlassen und blieb Ministerpräsident in München. Die CSU bekam dafür einen fünften Ministerposten. In einem Fernsehinterview kündigte Strauß indessen an, daß er auch von Bayern aus "ausreichenden und erfolgreichen Einfluß auf die Bundespolitik" nehmen werde.
Am 29. März 1983 wurde Helmut Kohl vom 10. Bundestag mit 271 von 486 Stimmen erneut zum Bundeskanzler gewählt. In seinem 16köpfigen Kabinett besetzte die CDU acht, die CSU fünf und die FDP drei Ministerposten. Bis auf zwei Umbesetzungen war die neue Regierung identisch mit dem alten. Im Landwirtschaftsministerium mußte Josef Ertl dem CSU-Mann Ignaz Kiechle weichen. Ansonsten stellte die FDP mit Genscher weiterhin den Außenminister und Vizekanzler, mit Lambsdorff den Wirtschaftsminister und mit Engelhard den Justizminister.
Daß Strauß sich mit der Rolle des bayerischen Ministerpräsidenten begnügen würde, war nicht zu erwarten. Es überraschte jedoch, auf welche Weise sich der CSU-Fürst wenig später auf das Gebiet der Ost- und Deutschlandpolitik begab und im angestammten Revier der FDP wilderte: Mit einer atemberaubenden Volte vom Kommunistenfresser zum Devisen-Beschaffer für die hoch verschuldete DDR (siehe folgendes Kapitel).
Im Vordergrund der innenpolitischen Auseinandersetzung stand während des 10. Bundestags die sogenannte Nachrüstung aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, die angesichts der Unergiebigkeit der Genfer Abrüstungsverhandlungen nun in greifbare Nähe rückte.
Schon im Oktober 1981 hatte in Bonn eine Friedensdemonstration mit 250.000 Teilnehmern stattgefunden. Ende des Jahres 1983 sollten die ersten von insgesamt 108 Raketen des Typs "Pershing II" stationiert werden. Der neuen Regierung, die vorbehaltlos die Raketenstationierung unterstützte, drohte somit ein "heißer Herbst". Schon die Vereidigung des Kabinetts Kohl Ende März 1983 erfolgte in Abwesenheit der 27 Grünen-Abgeordneten, die auf diese Weise gegen die Nachrüstung protestierten. Auch die SPD versuchte, sich von dem Beschluß abzusetzen, nachdem sie nicht mehr an der Regierung war und die friedensbewegten Wähler an die Grünen zu verlieren drohte.
Zur wichtigsten Tribüne der Friedensbewegung wurde der US-Stützpunkt Mutlangen bei Schwäbisch Hall, auf dem die Raketen vom Typ "Pershing II" stationiert werden sollten. Der Stützpunkt blieb monatelang von Demonstranten umlagert, die immer wieder die Zufahrten blockierten, bis sie von der Polizei festgenommen oder abgedrängt wurden. Am 1. September 1983, dem "Antikriegstag", begann eine dreitägige Blockade, an der sich zahlreiche Prominente beteiligten: So die SPD-Politiker Erhard Eppler und Oskar Lafontaine, die grünen Abgeordneten Petra Kelly und Gert Bastian, die Theologen Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer und Dorothee Sölle, die Schriftsteller Heinrich Böll und Peter Härtling sowie andere illustre Geister wie Walter Jens und Robert Jungk.
Ihren Höhepunkt erreichten die Protestwelle mit einer Aktionswoche im Oktober 1983. Zur abschließenden Kundgebung am 22. Oktober in Bonn strömten 300.000 Teilnehmer in die Bundeshauptstadt, während gleichzeitig unzählige andere Demonstranten sich an einer 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen US-Militäreinrichtungen in Stuttgart und Neu-Ulm beteiligten.
Die SPD durfte sich unter diesen Umständen beglückwünschen, nicht mehr an der Regierung zu sein und den von Helmut Schmidt intendierten Nachrüstungsbeschluß durchsetzen zu müssen. Sie hätte sonst die Spaltung der Partei riskiert, für die nun Willy Brandt als Hauptredner auf der Bonner Kundgebung sprach und die Schuld an der bevorstehenden Stationierung des "atomaren Teufelszeugs" der Verstocktheit der Genfer Abrüstungsrunde anlastete.
Die FDP konnte ihrerseits froh sein, daß sie die Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses zur Raketenstationierung in einer unionsgeführten Bundesregierung erlebte. Innerparteilich hatte sie damit noch nie sonderliche Probleme. Auf der ersten großen Kundgebung der Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 in Bonn, die noch zur Zeit der sozialliberalen Koalition stattfand und mit 250.000 Teilnehmern als die bis dahin größte Demonstration seit Bestehen der Bundesrepublik galt, hatte zwar mit William Borm ein Mitglied des FDP-Bundesvorstands gesprochen. Borm sprach aber nicht für den Bundesvorstand, sondern artikulierte allenfalls Positionen der Linksliberalen. Im Lichte der späteren Vorwürfe, Borm sei ein Agent der Stasi gewesen, könnte er sogar auf Wunsch der DDR gesprochen haben.
Am 18. November 1983 billigte der 34. FDP-Parteitag in Karlsruhe mit Dreiviertelmehrheit die bevorstehende Raketenstationierung. Am 22. November stimmte auch der Bundestag nach zweitägiger Debatte einem entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen zu, wobei die Scheidelinie zwischen Zustimmung und Ablehnung genau zwischen Regierungslager und Opposition verlief. Allerdings gab es eine Stimmenthaltung - und diese kam ausgerechnet vom FDP-Wehrexperten Olaf Feldmann, der das Risiko dieser atomaren Aufrüstung auf deutschem Boden wohl noch am ehesten beurteilen konnte.
Ein anderes Thema, das die Öffentlichkeit stark bewegte, war die bevorstehende Volkszählung. Sie war im Dezember 1981 vom Bundestag einstimmig beschlossen worden, weckte inzwischen aber Ängste vor einer "Volksaushorchung", die wohl zum größten Teil mit dem Machtwechsel in Bonn zu tun hatten. Im Unterschied zu der begründeten Angst vor der Raketenstationierung, die Deutschland zum atomaren Schlachtfeld prädestinierte, trug die Kampagne gegen die Volkszählung irrationale und hypochondrische Züge.
Zwei Wochen vor der geplanten Volkszählung am 27. April 1983 setzte das Bundesverfassungsgericht die Durchführung aus, bis über eine Verfassungsbeschwerde der Grünen entschieden sei - insofern eine naheliegende Entscheidung, als niemand ein Interesse an einer Volkszählung haben konnte, die von großen Teilen der Bevölkerung sabotiert und damit wertlos zu werden drohte. Das Gericht ließ sich denn auch zwanzig Monate Zeit, ehe es am 15. Dezember 1984 endgültig sein Urteil verkündete: Drei Absätze des Volkszählungsgesetzes - vor allem die vorgesehene Weitergabe der Daten an die Meldebehörden - wurden für verfassungswidrig erklärte. Am Fragenkatalog selbst gab es keine Abstriche. Bis zur Durchführung der Zählung vergingen nochmals mehr als zwei Jahre. Ende 1988 wußte man schließlich, daß am Stichtag 25. Mai 1987 die Bundesrepublik 61.082.800 Einwohner hatte, was gegenüber der letzten Volkszählung von 1970 einer geringfügigen Zunahme um 0,7 Prozent entsprach - aber nur dank der im Lande lebenden Ausländer, deren Zahl sich auf 4,1 Millionen nahezu verdoppelt hatte.
Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, daß dieses Ergebnis zugleich eine Schlußbilanz war und daß nur wenige Monate später die Bundesrepublik Deutschland einen Zuwachs um 17 Millionen Deutsche erleben würde.