Udo Leuschner / Geschichte der FDP (14) |
7. Bundestag 1972 - 1976 |
Am 28. Januar 1972 faßten die Ministerpräsidenten der Länder einen Beschluß, wonach schon die Mitgliedschaft in einer "verfassungsfeindlichen Organisation" ein Grund für die Nichteinstellung oder Entlassung aus dem öffentlichen Dienst sei. In einer weiteren Erklärung unterstützte der Bundeskanzler Willy Brandt den Ministerpräsidentenbeschluß und übernahm ihn weitgehend für die Personalpolitik des Bundes. Dies war die Geburtsstunde des "Radikalenerlasses".
Formal richtete sich der "Radikalenerlaß" gegen Links- und Rechtsextremisten. In Wirklichkeit zielte er aber nach links. Er war eine Reaktion auf die Polit-Sekten, die aus dem Zerfall der "außerparlamentarischen Opposition" hervorgegangen waren oder in diesem Umfeld ihre Mitglieder rekrutierten. In erster Linie sollte er die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) treffen, die bis Mitte der siebziger Jahre etwa 40.000 Mitglieder gewinnen konnte, darunter viele Lehrer und andere Angehörige des öffentlichen Dienstes.
Die DKP hatte sich erst 1968 konstituiert. Wie ihre Vorläuferin, die 1956 verbotene KPD, war sie moskauhörig und wurde insgeheim von der DDR finanziert. Die Neugründung war jedoch keineswegs illegal. Die faktische Wiederzulassung der verbotenen KPD unter neuem Namen war ein Zugeständnis der sozialliberalen Koalition im Rahmen ihrer Deutschland- und Ostpolitik und erfolgte in Abstimmung mit den Behörden. Formal gab sich die neue Partei auch durchaus demokratisch und erfüllte die Bedingungen des 1967 verabschiedeten Parteiengesetzes. Daß sie im Kern eine stalinistische Kaderpartei war, blieb selbst vielen ihrer Mitglieder verborgen.
Nebenbei erhofften sich SPD und FDP vom Radikalenerlaß klarere Konturen am linken Rand ihrer eigenen Anhängerschaft, wo ein fließender Übergang zu den Polit-Sekten bestand. So existierte bei den Jungsozialisten der SPD eine starke "Stamokap-Fraktion", deren Anhänger zur DKP tendierten. Bei den Jungdemokraten, die an der Mutterpartei FDP kaum noch ein gutes Haar ließen, gaben ebenfalls "Marxisten" und "Spontis" den Ton an.
Klimatisch begünstigt wurde der Radikalenerlaß durch die ersten Anschläge der Baader-Meinhof-Bande und sonstiger "Stadtguerillas", die aus den Reihen der neuen Linken hervorgegangen waren. In Mediendarstellungen und im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit verschmolzen diese gewalttätigen Desperados mit sonstigen "Radikalen" zu einer Einheit. Im übrigen bestand aber kein sachlicher Zusammenhang. Der Radikalenerlaß zielte vielmehr gerade auf solche Linke, die sich gesetzestreu verhielten. Er war ein staatliches Instrument zur Drangsalierung politischer Gegner, die mit anderen Mitteln nicht zu fassen waren. Er war eine Art Sondergesetzgebung ohne gesetzliche Grundlage, mit der die drei Bundestagsparteien alles ausgrenzten, was sich außerhalb ihres politischen Spektrums bewegte.
Die FDP hatte an dieser Verletzung liberaler Prinzipien maßgeblichen Anteil. So ließ sie schon am 1. Juni 1971 - ein halbes Jahr vor dem Radikalenerlaß - die Bremer Koalition mit der SPD platzen, weil sie die "permanente linksradikale Universitätspolitik" der Landesregierung nicht mittragen wollte. Aktueller Anlaß war die Berufung des Berliner PH-Professors Wilfried Gottschalch. Die FDP verlangte die Nichteinstellung des Soziologen, weil dieser sich "abwertend über unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und positiv zum Rätesystem geäußert" habe.
Als 1973 der nordrhein-westfälische Justizminister Diether Posser (SPD) den Juristen Volker Götz zum Richter auf Probe ernannte, weil außer seiner DKP-Mitgliedschaft keine "Erkenntnisse" gegen ihn vorlagen, protestierte der Koalitionspartner FDP gemeinsam mit Richterbund und Anwaltskammer. Obwohl Posser es für verfassungswidrig hielt, die Bewerbung nur wegen der Parteimitgliedschaft abzulehnen, beugte er sich dem politischen Druck des Koalitionspartners und machte die Ernennung rückgängig.
Sogar ein Linksliberaler wie der nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirsch verteidigte 1976 in einer Landtagsdebatte den Radikalenerlaß (in der abgeschwächten Form der "Einzelfallprüfung"). Es blieb Einzelgängern aus der zweiten und dritten Reihe der FDP überlassen, die Fahne des politischen Liberalismus hochzuhalten und den Radikalenerlaß als Verletzung von Grundrechten zu brandmarken. Hier wäre etwa der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Hinrich Enderlein zu nennen oder der Karlsruher Bürgermeister Ullrich Eidenmüller. Sie waren politisch keineswegs Freunde der DKP. Dennoch solidarisierten sie sich aus liberaler Empörung mit Betroffenen und unterstützten Komitees gegen die "Berufsverbote".
Der Radikalenerlaß war schon deshalb eine arge Mißgeburt, weil man damit ein Verbot der DKP und ähnlicher Organisationen nach Artikel 21 des Grundgesetzes zu umgehen versuchte, das nicht durchsetzbar oder politisch nicht opportun erschien. Noch viel schlimmer war allerdings, wie die sozialliberale Koalition und die Unionsparteien diesem Dilemma zu entkommen versuchten, indem sie verfassungsmäßige Rechte durch einen reinen Verwaltungsakt außer Kraft setzten.
In einer Bundestagsdebatte zum Thema "innere Sicherheit" am 18. Januar 1972 bot der Unionsfraktionsvorsitzende Rainer Barzel der sozialliberalen Koalition die Unterstützung seiner Partei an, falls eine Grundgesetzänderung erforderlich sei, um DKP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst auszuschließen. Aus Gründen der Praktikabilität müsse das Kriterium der Verfassungsfeindlichkeit allein an der Mitgliedschaft festgemacht werden, verlangte der Oppositionsführer.
Barzel schien immerhin noch zu ahnen, daß es hier um Grundrechte ging. Es kam aber weder zu einer Grundgesetzänderung noch überhaupt zu einer gesetzlichen Regelung. Stattdessen faßten die Ministerpräsidenten der Länder am 28. Januar 1972 den erwähnten Beschluß, der rechtlich nicht einmal die Qualität einer Verordnung hatte.
Der Skandal lag vor allem darin, daß die bloße Mitgliedschaft in einer legalen - lediglich von den Behörden als "verfasssungsfeindlich" angesehenen - Partei die Nichteinstellung oder die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst rechtfertigen sollte. Verfassungsrechtlich gesehen war das ein absolutes Unding. Denn damit wurde es praktisch dem Ermessen bzw. der Willkür der Behörden überlassen, eine ganze Reihe von verfassungsmäßigen Rechten auszuhebeln:
Artikel 3, Absatz 3 ("Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.")
Artikel 12 ("Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.")
Artikel 33, Absatz 2 ("Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.")
Artikel 21, Absatz 2 ("Über die Frage der Verfassungswidrigkeit (von Parteien) entscheidet das Bundesverfassungsgericht.")
Es mutete wie ein schlechter Witz an, daß alle diese in der Verfassung verankerten Rechte, zu deren Änderung allenfalls eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags befugt gewesen wäre, durch eine einfache Absprache der Ministerpräsidenten angetastet werden konnten.
Daß die Rechtsprechung diese verfassungswidrige Praxis auch noch absegnete, machte den Skandal komplett. Am liberalsten urteilten noch die Arbeits- und Verwaltungsgerichte der unteren Instanzen, die in vielen Fällen die "Berufsverbote" wieder aufhoben. Dagegen bestätigte das Bundesverwaltungsgericht am 23. April 1975 die Praxis des Radikalenerlasses. Pikanterweise stellte sich heraus, daß zwei der beteiligten Richter eine braune Weste hatten und damit eher selber für ein Berufsverbot prädestiniert gewesen wären: Der eine war für Deportationen während des zweiten Weltkriegs verantwortlich, der andere hatte an einem "Rassenschande"-Urteil mitgewirkt.
Die DKP hatte ihre betroffenen Mitglieder vergattert, den Rechtsweg nicht bis zum Bundesverfassungsgericht auszuschöpfen, weil sie eine höchstinstanzliche Bestätigung mit einem indirekten Verbot der Partei befürchtete. Die erste einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 betraf deshalb ein Mitglied der sogenannten K-Gruppen (KBW). Dabei hob das Gericht auf die sogenannte Einzelfallprüfung ab und verlangte Detailkorrekturen. Auf die Idee, daß der Radikalenerlaß generell verfassungswidrig sein könnte, kamen die offiziellen Hüter der Verfassung nicht. So wurde das in Artikel 21 des Grundgesetzes verankerte Parteienprivileg ausgerechnet vom Bundesverfassungsgericht aufgeweicht und neben dem verfassungsrechtlichen Begriff der "Verfassungswidrigkeit" der neu erfundene politische Kampfbegriff der "Verfassungsfeindlichkeit" legitimiert.
Die CDU/CSU-regierten Länder bohrten lustvoll in dieser Wunde, die sich die SPD selber zugefügt hatte, in dem sie den Radikalenerlaß besonders scharf handhabten. In unionsregierten Ländern mußten sogar SPD-Mitglieder mit dem Ausschluß aus dem öffentlichen Dienst rechnen, sofern sie der "Deutschen Friedens-Union", der "Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes" oder ähnlichen Organisationen angehörten, die von den Behörden als Hilfsorganisationen der DKP eingestuft wurden.
Der DKP war es ihrerseits nicht unwillkommen, daß die "Berufsverbots"-Prozesse am laufenden Band politische Märtyrer produzierten. Denn so konnte sie von der Repression in der DDR ablenken und den eigenen Anhängern demonstrieren, daß auch in der Bundesrepublik nur eine Klassenjustiz herrschte. Viele Betroffene der "Berufsverbote" hatten ohnehin recht naive Vorstellungen vom Charakter und den Zielen der Partei, der sie sich angeschlossen hatten, und ließen sich gutgläubig instrumentalisieren. Sie empfanden es schlicht als eine Frage des Gewissens und der Ehre, dem äußeren Druck standzuhalten. Einer dieser tragischen Fälle war der Postbeamte Hans Peter, den das Bundesverwaltungsgericht zur Entlassung aus dem Beamtenverhältnis samt Verlust der Pension verurteilte - gerade so, als ob der biedere Beamte, der jahrzehntelang korrekt seinen Dienst versah, mit dem Beitritt zur DKP ein schweres Verbrechen begangen hätte.
Die öffentliche Empörung blieb nicht ohne Wirkung. Daß in der DDR und im Ostblock die "Berufsverbote" propagandistisch verwertet wurden, war noch am leichtesten zu ertragen. Aber auch im westlichen Ausland regte sich Protest. Vor allem in Frankreich stieß "le berufsverbot" auf Unverständnis und Argwohn. Jenseits des Rheins galt die politische Gleichberechtigung von Kommunisten als völlig normal. Der öffentliche Dienst Frankreichs war sogar traditionell eine Domäne der Kommunisten und ihrer Gewerkschaft CGT.
Um sich politische Entlastung zu verschaffen, verabschiedete die sozialliberale Koalition im Bundestag am 24. Oktober 1975 ein Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften, das auf die sogenannte "Einzelfallprüfung" abstellte und die Parteimitgliedschaft nicht als alleiniges Kriterium für den Ausschluß vom öffentlichen Dienst gelten ließ. Die CDU/CSU legte ihrerseits einen Gesetzentwurf vor, der auf die bloße Parteimitgliedschaft abhob. Am 28. November 1975 lehnte der Bundesrat mit den Stimmen der unionsregierten Länder den Gesetzentwurf der Koalition ab. Normalerweise hätte diese Ablehnung durch die Empfehlung des Vermittlungsausschusses überwunden werden können, in dem die Regierungskoalition die Mehrheit hatte. Am 6. Februar 1976 kippte jedoch das SPD/FDP-Kabinett in Niedersachsen, womit die CDU ihr Mehrheit im Bundesrat ausbauen konnte und auch den Vermittlungsausschuß dominierte. Vor diesem Hintergrund hatte der Gesetzentwurf keine Chance mehr, nachdem der Bundesrat am 20. Februar 1976 erneut seine Zustimmung verweigerte.
Ersatzweise vereinbarten die Bundesregierung und die SPD/FDP-regierten Länder, künftig nach der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelung zu verfahren. 1979 entfiel im sozialliberal regierten Teil der Republik auch die sogenannte Regelanfrage beim "Verfassungsschutz". Die unionsregierten Länder hielten dagegen an ihrer besonders rigiden Praxis fest.
Allein bis zum 1. März 1976 wurden eine halbe Million Bewerber und Angehörige des öffentlichen Dienstes durch Anfragen beim "Verfassungsschutz" überprüft. Dabei ergaben sich in 5434 Fällen "Erkenntnisse" über Mitgliedschaften oder Aktivitäten, die von den Behörden als verfassungsfeindliche Betätigung gewertet wurden. Zur Ablehnung bzw. Entlassung kam es in 430 Fällen.
Insgesamt wurden bis 1990 rund 3,5 Millionen Bundesbürger per Anfrage beim "Verfassungsschutz" durchleuchtet. Es kam zu 11000 Berufsverbots- und 2200 Disziplinarverfahren. Am Ende wurden 1250 Bewerber aufgrund der Überprüfung abgelehnt und 265 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Nicht in Zahlen zu erfassen ist das Ausmaß an Einschüchterung, das damit einherging. Inzwischen hatte Willy Brandt den Beschluß von 1972 selber als Fehler bezeichnet. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf monierte seit 1987 den Radikalenerlaß wiederholt als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der Konvention 111, zu deren Einhaltung sich die Bundesrepublik verpflichtet hatte.
Es dauerte bis Ende 1989, ehe ein betroffenes DKP-Mitglied - die Lehrerin Dorothea Vogt - entgegen den Empfehlungen ihrer Partei doch das Bundesverfassungsgericht anrief. Die offiziellen Hüter der Verfassung stellten sich erneut ein Armutszeugnis aus, indem sie die Verfassungsbeschwerde der Lehrerin - die übrigens der SPD-Politiker und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder als Anwalt vertrat - nicht einmal zur Entscheidung annahmen. Aber damit war wenigstens der nationale Rechtsweg ausgeschöpft und so die Voraussetzung erfüllt, um den Fall vor den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu bringen. Dieser rügte im September 1995 die Entlassung der Lehrerin als Verstoß gegen die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, wie sie in Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird. Aus europäischer Sicht war damit der bundesdeutsche Radikalenerlass für rechtsungültig erklärt. Innenpolitisch hatte er sich inzwischen vor allem durch die deutsche Einigung erledigt. Was blieb, war ein düsteres Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte - und ein trauriges Kapitel der FDP, die bei dieser Nagelprobe auf ihren Liberalismus kläglich versagt hatte.