Udo Leuschner / Geschichte der FDP (11)

6. Bundestag 1969 - 1972


Patt im Bundestag

Die CDU/CSU verhebt sich beim Sturz der Regierung, worauf diese Neuwahlen herbeiführt

Auf dem 22. Bundesparteitag, der vom 25. bis 27. Oktober 1971 in Freiburg stattfand, präsentierte sich die FDP als linksliberal runderneuerte Partei, die solchen Ballast wie Zoglmann und Mende endgültig losgeworden war. Die Erneuerung fand ihren programmatischen Ausdruck in den "Freiburger Thesen", die der Parteitag als künftige Richtschnur für die FDP verabschiedete. Darin wurde der Liberalismus als "Träger und Erbe der demokratischen Revolution" und der bürgerlichen Aufklärung begriffen, also als politische Freiheitsbewegung im weitesten Sinne. Der moderne Liberalismus müsse nicht nur demokratisch, sondern auch sozial sein. Aus diesen politischen Prinzipien wurden praktische Konsequenzen für die Eigentumsordnung (Teil I), für die Vermögensbildung (Teil II), für die Mitbestimmung (Teil III) und für die Umweltpolitik (Teil IV) als den wichtigsten Bereichen der Gesellschaftspolitik abgeleitet.

Flach und Maihofer werden zu Vordenkern der Partei

Die Freiburger Thesen trugen die Handschrift des "Frankfurter Rundschau"-Redakteurs Karl-Hermann Flach und des Rechtsprofessors Werner Maihofer. Flach hatte zuvor eine "Streitschrift" mit dem Titel "Noch eine Chance für die Liberalen" veröffentlicht, die sich im wesentlichen mit dem Inhalt der Freiburger Thesen deckte, aber manches noch pointierter ausführte. So schrieb er etwa: "Die Auffassung, daß Liberalismus und Privateigentum an Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte." Oder: "Die Frage der besitzrechtlichen Organisation der Produktion ist für den Liberalen keine Glaubensfrage, sondern eine Frage nüchterner Zweckmäßigkeit."

Werner Maihofer gehörte ebenfalls seit Jahren zu den linksliberalen Vordenkern. So hatte er sich schon früh in der "Humanistischen Union" engagiert, die 1961 als überparteiliche liberale Bürgervereinigung gegründet wurde. Die "Humanistische Union" artikulierte das bildungsbürgerliche Unbehagen am klerikalen Mief der Adenauer-Ära. Insoweit kann sie als Vorbote der späteren außerparlamentarischen Opposition gelten. Sie artikulierte aber auch das Unbehagen der Linksliberalen an der Mende-FDP und half so, die 1968 einsetzende Wandlung der FDP vorzubereiten.

Karl-Hermann Flach übernimmt das Amt des Generalsekretärs

Krönender Abschluß des Freiburger Parteitags war die einmütige Wahl von Karl-Hermann Flach zum Generalsekretär der FDP (mit 345 gegen 1 Stimme bei 2 Enthaltungen). Den Posten des Generalsekretärs gab es bis dahin nicht. Er war gewissermaßen für Flach maßgeschneidert worden.

Der 1929 geborene Karl-Hermann Flach hatte 1947 beim LDP-Blatt "Norddeutsche Zeitung" in Schwerin seine journalistische Laufbahn begonnen und sich der Liberaldemokratischen Partei der Ostzone angeschlossen. Nachdem die Sowjets ihre Repressalien gegenüber der LDP verschärften, war er 1949 in den Westen gewechselt. Ab 1954 betätigte er sich in der FDP und wurde 1959 als Nachfolger von Werner Stephan deren Bundesgeschäftsführer. Es war jene Zeit, als die FDP gegen Adenauer aufbegehrte und lieber in die Opposition ging, als weiterhin die Rolle eines gefügigen Vasallen der Unionsparteien zu spielen. Der Erfolg der FDP bei den Bundestagswahlen 1961 war auch das Verdienst ihres Geschäftsführers Flach. Die Partei ließ sich dann jedoch - entgegen ihrem Wahlversprechen - erneut auf ein Regierungsbündnis mit Adenauer als Kanzler ein. Die treibende Kraft bei diesem "Umfall" war Erich Mende, der seit 1960 als Parteivorsitzender amtierte. Für einen echten Liberalen wie Flach, der unter Thomas Dehler der FDP beigetreten war und unter Reinhold Maier die Bundesgeschäftsführung übernommen hatte, bedeutete der Ritterkreuz-Träger Mende das Ende aller Hoffnungen auf eine wirklich liberale FDP. Enttäuscht zog er sich 1962 wieder in den Journalismus zurück. Das Amt des FDP-Bundesgeschäftsführers übernahm nun Hans-Dietrich Genscher, der zugleich Geschäftsführer der Bundestagsfraktion war. Bereits die "Spiegel-Affäre" am Ende des Jahres 1962 kommentierte Flach als Journalist der "Frankfurter Rundschau", für die er dann von 1964 bis 1971 als stellvertretender Chefredakteur amtierte.

Mit den Worten "Hiermit melde ich mich aus der Reserve in den aktiven Dienst der FDP zurück" hatte sich Flach den Delegierten des Freiburger Parteitags vorgestellt. Seine Wahl zum Generalsekretär unterstrich die Abkehr von der Mende-FDP. Den erneuten Rechtsschwenk der Partei erlebte Flach nicht mehr. Am 25. August 1973 erlag er einem Gehirnschlag - ein schwerer Verlust für die FDP, deren Generalsekretäre seitdem von wesentlich bescheidenerem geistigen Format waren und der es nie mehr gelungen ist, mit programmatischen Äußerungen solche Beachtung zu finden wie mit den Freiburger Thesen.

Bündnis mit der SPD bekräftigt

Der Freiburger Parteitag bekannte sich zur Fortsetzung der Regierungskoalition mit der SPD auch nach den nächsten Bundestagswahlen und stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit der CDU/CSU. Walter Scheel warf der Union vor, die Niederlage von 1969 noch immer nicht akzeptiert zu haben: "Sie ist immer noch reformunfähig. Sie vertagt ununterbrochen ihre Probleme. Ihr Unfähigkeit zur Selbstanalyse und Selbstkritik schlägt in wilde Aggression nach außen um. Die CDU/CSU ist der Unruhestifter in diesem Land. Sie sucht den Krach und die Konfrontation."

In dieselbe Kerbe hieb der designierte Generalsekretär Karl-Hermann Flach: "Die CDU/CSU war ihren Partnern gegenüber noch nie fair. Sie hat eine kleinere Partei nach der anderen umarmt, erdrückt und verspeist, und ist ganz böse, daß wir das nicht auch mit uns machen ließen..."

Die Union rechnet sich Chancen für den Sturz der Regierung aus

Die CDU/CSU war in der Tat noch immer nicht bereit, sich mit der Rolle der Opposition abzufinden. Die Ergebnisse der Landtagswahlen am 23. April 1972 in Baden-Württemberg bestärkten sie in dieser Haltung: Dort hatte die NPD, die zuletzt mit 9,8 Prozent der Stimmen in den Landtag eingezogen war, auf eine erneute Kandidatur verzichtet, um - so die Begründung - die Mehrheit der Union im Bundesrat gegen die Ostverträge zu sichern. Dank dieser Schützenhilfe konnte die CDU ihren Stimmenanteil von 44,2 auf 52,9 Prozent erhöhen und die absolute Mehrheit erreichen. Die SPD verbesserte sich von 29,0 auf 37,6 Prozent. Dieser Stimmengewinn ging allerdings zu Lasten der FDP, die von 14,4 auf 8,9 Prozent abrutschte. Zudem verlor die FDP im Wahlkreis Crailsheim ihr letztes Direktmandat.

Berauscht von dem triumphalen Wahlergebnis in Baden-Württemberg, das sie letzten Endes den Neonazis zu verdanken hatte, brachte die Union noch am 24. April 1972 im Bundestag ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler Willy Brandt ein, um die sozialliberale Koalition zu stürzen. Neuer Kanzler sollte ihr Fraktionsvorsitzender Rainer Barzel werden.

Strauß empört sich über "Volksfront" - Schiller kontert mit "Harzburger Front"

Mit dieser reinen Fixierung auf parlamentarische Machtverhältnisse unterschätzte die Union jedoch den Stimmungswandel, der sich inzwischen unter dem Einfluß der außerparlamentarischen Opposition in der Öffentlichkeit vollzogen hatte. Es kam nun nämlich bundesweit zu zahlreichen spontanen Streiks und Protestdemonstrationen. Neben allerlei Gruppen und Grüppchen des linken Spektrums hatten daran die Gewerkschaften maßgeblichen Anteil, die aus ihrer Sympathie für die Regierung keinen Hehl machten. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß empörte sich darüber in der Haushaltsdebatte des Bundestags am 26. April und warnte die Koalition vor "Aktionen mit Volksfronttendenz". Bundeswirtschafts- und finanzminister Karl Schiller zahlte Strauß mit gleicher Münze heim, indem er die für den nächsten Tag anstehende Abstimmung über das konstruktive Mißtrauensvotum als eine Abstimmung darüber bezeichnete, "ob diese Bundesrepublik Deutschland sich auf dem direkten Marsch in die Harzburger Front befindet". Dieser Vergleich mit einem Rechtsbündnis, das Hitler den Weg bereitet hatte, löste bei der CDU/CSU so heftige Tumulte aus, daß die Debatte abgebrochen werden mußte.

Die knappe Mehrheit der Koalition bröckelt immer stärker

Die Union rechnete mit einem Erfolg des konstruktiven Mißtrauensvotums, weil die ohnehin schwache Mehrheit der sozialliberalen Koalition inzwischen durch etliche Aus- und Übertritte weiter geschmälert worden war. Schon im Oktober 1970 waren die FDP-Abgeordneten Mende, Zoglmann und Starke ins Lager der Union übergewechselt. Im Februar 1972 hatte der Vertriebenenfunktionär Herbert Hupka aus Protest gegen die Ostverträge die SPD-Fraktion verlassen. Zudem gab es Anhaltspunkte dafür, daß die Union gezielte Abwerbung betrieb. Es war somit zu befürchten, daß mit Pfründen oder Geld bestochene Volksvertreter das Lager wechselten. Als am 23. April der Abgeordnete Wilhelm Helms seinen Austritt aus der FDP mitteilte, schien die Mehrheit für den Sturz der Regierung gesichert.

In der Debatte, die am 27. April der Abstimmung vorausging, warf Scheel der Union vor, auf Überläufer zu setzen: "Was hier gespielt werden soll, ist ein schäbiges Spiel. Sie hoffen auf Mitglieder dieses Hauses, deren Nervenkraft und Charakterstärke nicht ausreichen, in einer schweren Stunde zu ihrer Partei zu stehen oder ihr Mandat zurückzugeben."

Pathetisch rühmte Scheel die bisherigen Leistungen der FDP und der sozialliberalen Koalition: "Diese kleine und mutige, gescholtene und geschlagene, häufig für tot erklärte und immer wieder aufgestandene Freie Demokratische Partei hat mehr für das Wohl dieser Republik bewirkt als ihrer zahlenmäßigen Stärke zuzutrauen war."

Mißtrauensvotum scheitert an korrupten Unions-Abgeordneten

Zum Glück für die Koalition gab es auf Seiten der CDU/CSU noch mehr Volksvertreter, bei denen "Nervenkraft und Charakterstärke" nicht sonderlich stark entwickelt waren. Jedenfalls scheiterte das konstruktive Mißtrauensvotum entgegen allen Erwartungen. Der Mißtrauensantrag erhielt nur 247 Stimmen bei zehn Nein-Stimmen und drei Enthaltungen. Für die Annahme wären 249 Stimmen erforderlich gewesen. Obwohl die Abstimmung geheim gewesen war, stand sogleich fest, daß mindestens ein Unionsabgordneter gegen Barzel gestimmt haben mußte; denn die SPD-Fraktion war - mit Ausnahme des Abgeordneten Günther Müller - geschlossen auf ihren Plätzen geblieben, und von der FDP hatte sich nur ein Teil der Abgeordneten an der Abstimmung beteiligt. Vierzehn Monate später bekannte der CDU-Abgeordnete Julius Steiner, gegen Barzel und für Brandt gestimmt zu haben. Er habe dafür vom SPD-Abgeordneten Karl Wienand 50.000 Mark bekommen. Der Wehner-Vertraute Wienand bestritt dies, räumte jedoch später ein, insgesamt vier andere Unionsabgeordnete gekauft zu haben. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR stellte sich heraus, daß Steiner die genannte Geldsumme von der "Stasi" bekommen hatte, weil offenbar auch die DDR daran interessiert war, das Mißtrauensvotum scheitern zu lassen.

Das Weiterregieren fiel unter diesen Umständen schwer. Das zeigte sich schon am folgenden Tag, als der Haushalt der Bundesregierung keine Mehrheit erhielt. Durch den Ausschluß des SPD-Abgeordneten Günther Müller, der entgegen der Fraktionsanweisung an der Abstimmung teilgenommen und vermutlich für Barzel gestimmt hatte, verminderte sich die Zahl der Koalitionsabgeordneten auf 248. Sie betrug damit genau die Hälfte der voll stimmberechtigten Abgeordneten. Bald darauf schieden auch die Abgeordneten Gerhard Kienbaum und Knut von Kühlmann-Stumm aus der FDP-Fraktion aus. Dies änderte aber am Zahlenverhältnis nichts, weil sie ihr Mandat an nachrückende FDP-Politiker abgaben.

Die Ostverträge werden dennoch ratifiziert

Mit dem konstruktiven Mißtrauensvotum hatte die Union der anstehenden Ratifizierung der Ostverträge durch den Bundestag zuvorkommen wollen. Natürlich hätte sie ebenso die Ratifizierung im Bundestag verhindern können. Dies traute sie sich aber nicht, weil der außenpolitische Scherbenhaufen zu groß gewesen und letzten Endes ihr angelastet worden wäre. Stattdessen wollte sie nach dem Sturz der Regierung Brandt-Scheel die Ostverträge selber neu verhandeln und sich mit der Gloriole des Vertragsabschlusses schmücken. Nach außen hin erweckte sie freilich den Eindruck, als ob die Ostverträge generell Teufelswerk seien und in jedem Fall verhindert werden müßten.

Nachdem dieses Kalkül nicht aufgegangen war, fand sich die Union zu einem Kompromiß bereit: Durch eine gemeinsame Entschließung aller Fraktionen, die der Bundestag am 17. Mai 1972 verabschiedete, wurde der Inhalt der Ostverträge mit einigen Kautelen wie hinsichtlich des "Selbstbestimmungsrechts" versehen. Als Gegenleistung übte die CDU/CSU Enthaltung bei der anschließenden Abstimmung. So konnten die Ostverträge trotz der Patt-Situation mit jeweils 248 Stimmen der sozialliberalen Koalition ratifiziert werden. Nur eine kleine Minderheit von 10 bzw. 17 Abgeordneten votierte mit Nein gegen den Moskauer bzw. Warschauer Vertrag. Darunter befand sich neben Mende und Zoglmann auch Kühlmann-Stumm, der aus Protest gegen den Moskauer Vertrag die FDP verließ.

Die sozialliberale Koalition führt Neuwahlen herbei

Um aus der Patt-Situation herauszukommen, beschloß die sozialliberale Koalition, Neuwahlen herbeizuführen. Am 22. September 1972 stellte Bundeskanzler Willy Brandt im Bundestag den Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen. Die 248 Abgeordneten der CDU/CSU verweigerten dies erwartungsgemäß. Da die Kabinettsmitglieder beschlossen hatten, nicht an der Abstimmung teilzunehmen, überwogen die Nein-Stimmen. Bundespräsident Heinemann löste daraufhin noch am selben Tag den 6. Bundestag auf und setzte für den 19. November Neuwahlen an.

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