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(Aus: Udo Leuscher, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 337 - 343)

Vom Stil zur Mode

Die Kunst als Vergegenständlichung des Geistigen

Der immer rascheren Umwälzung des ökonomischen Unterbaues der Gesellschaft entspricht eine immer raschere Umwälzung des ideologischen Überbaues. Entsprechend kurzlebig, in sich widersprüchlich, von neurotischen Friktionen durchsetzt, werden die Bewußtseinsinhalte. Das hat nicht nur Folgen für die individuelle Psyche und das Kollektivbewußtsein in Form der Ideologie. Besonders eindrucksvoll manifestieren sich die immer schnelleren Umbrüche im Bereich der Kunst, deren Aufgabe es ist, Bewußtseinsinhalte in allgemeingültiger Form zu vergegenständlichen.

Die Stilepochen der Romanik und Gotik währten jeweils etliche Jahrhunderte. Sie entsprachen der römisch-christlichen Religion vor und nach der kluniazensischen Reform. Die Renaissance, aus deren Lebensgefühl die protestantische Bewegung entstand, brachte es immerhin auf zwei Jahrhunderte. Das Barock, das die Gegenreformation begleitete, konnte sich etwas mehr als ein Jahrhundert behaupten. Das anschließende Rokoko, das den aufgeklärten Absolutismus prägte, währte etwa acht Jahrzehnte. Der großbürgerliche Triumphstil des Empire, zu dem der Klassizismus in seiner Endphase mutierte, begleitete nur noch die kurze Zeit der napoleonischen Herrschaft. Auch das Biedermeier als eher kleinbürgerlicher Abkömmling des Klassizismus dauerte nur noch etwa drei Jahrzehnte.

Was nunmehr folgte, waren Wiederbelebungen der vergangenen Stile. Die Neugotik war sozusagen der offiziöse Stil der Restauration nach der Revolution von 1848/49. Zumindest galt dies für Deutschland, wo die herrschende Klasse ihre Legitimität geistig wie künstlerisch im Mittelalter suchte. In Frankreich spielte der Eklektizismus des zweiten Kaiserreichs eine ähnliche Rolle. Im "Gründerstil" des Fin de siecle, den maßgeblich das Großbürgertum bestimmte, wurde dann so gut wie alles imitiert, was der Fundus der Kunstgeschichte hergab. Das Besitzbürgertum unterstrich seinen Machtanspruch durch genauso prunkvolle wie seelenlose Nachahmungen der vergangenen Stile. In dieser "kalten Pracht" nistete dasselbe falsche Bewußtsein, das den Eklektizismus in der Philosophie bestimmte, wo nach der Feststellung von Friedrich Engels die verschiedensten "Abfälle vergangener Philosophien" miteinander konkurrierten.

Parallel zur Suche nach neuer ideologischer "Gebundenheit", die ab den achtziger Jahren einsetzte, entstand erstmals wieder ein neuer, unverwechselbarer Stil. Seine Bezeichnung als "art nouveau" oder "modern style" brachte den Anspruch zum Ausdruck, dem historisierenden Stil-Mischmasch ein Ende zu bereiten und einen "neuen Stil" entgegenzusetzen. In Deutschland wurde der "Neustil", "Wellenstil" oder "Bandwurmstil" schließlich allgemein als "Jugendstil" bekannt. Die Bezeichnung war der Zeitschrift "Jugend" entlehnt, die den Stil künstlerisch und literarisch repräsentierte. Sie profitierte aber auch in einem ganz ursprünglichen Sinne vom Assoziationsgehalt des Wortes Jugend: Es war vor allem die Jugend, die im "Wandervogel" und ähnlichen Bestrebungen ihren Protest gegen die politische, ideologische und ästhetische Erstarrung der Gesellschaft vortrug. Der Jugendstil war ästhetischer Ausdruck der kleinbürgerlichen Reformgeisterei zwischen Fin de siècle und Erstem Weltkrieg.

Obwohl der Jugendstil sich praktisch aller Lebensgebiete bemächtigte, von der Architektur über die Malerei und das Mobiliar bis hin zu Literatur und Musik, war er sicher kein Stil im klassischen Sinn. Wo er sich als solcher gebärdete und in der Nachfolge von Ruskin und Morris die Erneuerung des Kunsthandwerks zelebrierte, verleugnete er seine wahre Natur: In Wirklichkeit war er der erste Stil, der seine Verbreitung wie sein Ende der massenhaften Reproduktion durch die Maschinerie des industriellen Zeitalters verdankte.

Die vorangegangene kalte Pracht des Historismus hatte das verdinglichte Bewußtsein des Besitzbürgertums nackt und schonungslos vergegenständlicht. Der Jugendstil war Ausdruck des Leidens an diesem verdinglichten Bewußtsein, ohne indessen mehr als eine Scheinlösung vorgaukeln zu können. Er vermittelte jene weihevolle Stimmung, die der Historismus in die Vergangenheit projizierte, als gegenwärtiges Lebensgefühl. Seine Vorliebe für die Fläche kam nicht von ungefähr: Mit der räumlichen Dimension wurde zugleich die Zeit und damit die Geschichte eliminiert. So wurden die Grenzen zwischen märchenhafter Vergangenheit und Gegenwart fließend. Der Jugendstil war Protest gegen die Verdinglichung des Bewußtseins in der kapitalistischen Gesellschaft. Er war aber auch zugleich das falsche Versprechen, dieser Verdinglichung durch eine aristokratische, über Raum und Zeit schwebende Geisteshaltung entrinnen zu können. Insofern repräsentierte er die Entfremdung, die der Historismus so protzig-brutal vergegenständlichte, nur auf einer höheren Ebene. Entsprach der Historismus dem Vulgärmaterialismus als der vorherrschenden Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft, so korrespondierte der Jugenstil mit der Lebensphilosophie, dem Neu-Idealismus und dem Irrationalismus. (Die zu jener Zeit entstandene Sekte der "Anthroposophen" erkor ihn sich sogar zu ihrem genuinen Baustil; noch heute weisen Bauten wie die "Waldorf-Schulen" typische Jugendstil-Elemente auf.)

Der Jugendstil war auch nach Dauer und Verlauf kein klassischer Stil mehr. Seinem Ausbruch in den Hauptstädten der industrialisierten Welt um das Jahr 1890 folgte eine epidemische Ausbreitung, zwischen 1898 und 1902 der Höhepunkt und ab etwa 1905 ein rascher Verfall (390). Der Jugendstil währte somit nicht viel länger als etwa 15 Jahre. Er war weniger ein Stil als eine Mode.

Das Wort Mode ersetzt das Wort Stil nicht zufällig. Es steht für die Ästhetik des industriellen Zeitalters, das von einer weitaus stärkeren Dynamik beherrscht wird als die handwerkliche Periode, der alle vorangegangenen Stile von der Romanik bis zum Biedermeier angehören. Im Zuge dieser beschleunigten Dynamik hat das Wort Mode selbst einen Bedeutungswandel erfahren: Ursprünglich bedeutete es soviel wie "Brauch" und "Sitte". In diesem Sinne gebrauchte es noch Schiller in seiner Ode An die Freude ("Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt . .."). Es stand somit für das Starr-Gültige, während es später genau das Gegenteil, nämlich das Unbeständig-Wechselnde, bezeichnete.

Immerhin verwies das Modische noch recht deutlich auf das Nicht-Modische, und sei es nur in der Beständigkeit des modischen Wechsels. Wer etwas als "neumodisch" abtat oder als "altmodisch" belächelte, berief sich auf eine Geschmacksrichtung von einiger Kontinuität. Der Scherbenwelt des verdinglichten Bewußtseins fehlen selbst solche kurzfristigen Bezüge. Deshalb wirkt der Begriff des Modischen heute schon wieder antiquiert. An seine Stelle tritt eine binäre Ästhetik, die mit Begriffen wie "in" und "out" der Logik des elektronischen Schaltkreises folgt.

War der Jugendstil kein Stil im klassischen Sinne mehr, so war er doch der Klassiker der ästhetischen Moden. Das nachfolgende "Art déco" hat ihn weder an Dauer noch Geschlossenheit erreicht. Statt dessen besetzten Expressionismus, Surrealismus, Dada, Kubismus, Konstruktivismus, neue Sachlichkeit oder Bauhausstil begrenzte Genres wie Malerei, Literatur, Mobiliar oder Architektur. Am radikalsten waren die Künstler des Dada, die mit der Fetischisierung von Gegenständen, Worten oder Lauten die Verdinglichung des Bewußtseins persiflierten.

Dem durchschnittlichen Zeitgenossen blieben solche ästhetischen Lösungsversuche des neurotischen Konflikts allerdings unverständlich. Schon der Jugendstil war als "entartet" geschmäht und mit Bezeichnungen wie "gereizter Regenwurm" lächerlich gemacht worden. Erst recht mußten Dada, Surrealismus, Kubismus, Konstruktivismus, die atonale Musik oder auch schon der Bauhausstil als Provokation empfunden werden. Diesen Affekt gegen die moderne Kunst machte sich Ende der zwanziger Jahre der nationalsozialistische "Kampfbund für deutsche Kultur" zunutze, wenn er den "Kulturbolschewismus" attackierte und als "Folgen eines Entseelungsvorganges, eines Loslösungsvorganges von Blut, Boden und Nation" deutete (391).

Heute dürfte die "moderne Kunst", entsprechend dem fortschreitenden Zerfall verbindlicher Bewußtseinsinhalte, weithin kaum noch als provokativ empfunden werden, sondern eher als unverständlich und belanglos. Provokativ wirkt sie erst dann, wenn der einzig verbindliche Bewußtseinsinhalt angesprochen wird, nämlich die Wahrnehmung der Welt als Ware: Daß eine Fettecke bloß deshalb Unsummen kosten soll, weil sie von Künstlerhand angebracht wurde, düpiert noch immer die ansonsten reibungslos funktionierende Umsetzung aller Werte in Mark und Pfennig. In der Tat handelt es sich bei solchen Kunstwerken zunächst um nicht viel mehr als um einen Bluff nach Art des Dada. Die Trivialität des Kunstwerks vergegenständlicht die Trivialität des verdinglichten Bewußtseins und persifliert den Warenfetischismus. Der eigentliche Witz und die Vollendung des Kunstwerks liegen darin, daß diese Vergegenständlichung vom verdinglichten Bewußtsein prompt eingeholt und mit Unsummen honoriert wird.

Dieser Streifzug durch die Kunstgeschichte erfaßte sicher nur wenige Aspekte. Er verdeutlicht aber doch eines: Der allgemeingültige Ausdruck des invididuellen Bewußtseins im Wege der Kunst ergänzt die bereits beschriebene Lösung, die der neurotische Konflikt auf ideologischem Wege erfährt. In der Praxis sind die ästhetische und die ideologische Seite kaum zu trennen. Große ideologische Entwürfe, von der Bibel bis zum Kommunistischen Manifest, sind zugleich von eindrucksvoller ästhetischer Qualität, und umgekehrt gibt es kein Kunstwerk, das sich ideologiefrei rezipieren ließe.

"Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte", schreibt Marx in seinen "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" (392). Die ästhetische Wahrnehmung hinge somit im weitesten Sinne vom Stand der Produktivkräfte ab. Sie wäre - bei allen individuellen Unterschieden - grundsätzlich eine Funktion des vergesellschafteten Bewußtseins, das dem jeweiligen historischen Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entspricht und diesen widerspiegelt.

Kunst ist ein soziales Phänomen. Eine privatime Kunst, die nur von ihrem Urheber verstanden und goutiert würde, wäre ein Widerspruch in sich. Kunst ist der Versuch, einem individuellen Bewußtsein zum allgemeingültigen Ausdruck außerhalb des Individuums zu verhelfen. Die Inspiration des Künstlers ist damit dem neurotischen Konflikt sehr nah verwandt. Freud zufolge vollzieht sich im Künstler eine "Sublimierung" des neurotischen Konflikts. Naheliegender und treffender wäre es, von einer Ästhetisierung des neurotischen Konflikts zu sprechen.

Die Spezifik der Kunst liegt darin, daß sie sich - im Sinne der Psychologie Pawlows - überwiegend des "ersten Signalsystems" der fünf Sinne bedient, während die gedanklichen Konstruktionen der Ideologie des "zweiten Signalsystems", also der Sprache und der Schrift, bedürfen. Schon das Beispiel der Lyrik zeigt allerdings, daß in der Regel beide Signalsysteme zusammenwirken. Sogar die Musik, die als die reinste und unmittelbarste Form der ästhetischen Wahrnehmung gilt, kann nicht mit spontaner Wirkung allein auf der Ebene des ersten Signalsystems rechnen. Auch da, wo dies scheinbar geschieht, wie in der Schlager-, Rock- und Popmusik, setzt sie eine spezifische Sozialisation voraus. Dem naiven Verständnis des Schlager-Hörers bereits entzogen ist die "ernste Musik", zu deren Genuß es einer Unterweisung auf der Ebene des zweiten Signalsystems bedarf, die gemeinhin als Bildung bezeichnet wird.

Ideologie und Kunst sind somit keine getrennten Sphären, sondern ergänzen und durchdringen sich gemäß der Natur der beiden Signalsysteme. Sie sind allerdings insofern gegensätzlich angelegt, als in der Ideologie das Gegenständliche vergeistigt wird, während die Kunst das Geistige vergegenständlicht. Die Vergegenständlichung des Geistigen - und sei es in der flüchtigen Gestalt einer Tonfolge - ist Voraussetzung jeder Kunst, da Bewußtseinsinhalte nur über die Vergegenständlichung sinnlich wahrgenommen und Allgemeingut werden können.

Der Künstler bedient sich bei der Vergegenständlichung des Geistigen eines gesellschaftlich sanktionierten Formenkanons. Oft steht er allerdings vor dem Problem, daß dieser etablierte und entsprechend verständliche Formenkanon nicht ausreicht, weil neue Inhalte zugleich eine neue Form erfordern. In diesem Fall ist er gezwungen, neue Formen des ästhetischen Ausdrucks zu entwickeln, die oft erst viel später allgemeines Verständnis und Anerkennung finden. Die Kunstgeschichte ist voll der tragischen Schicksale von Künstlern, die zu ihren Lebzeiten ignoriert und geschmäht wurden, weil sie den vertrauten ästhetischen Formenkanon verließen. Umgekehrt sind viele Künstler und Kunstwerke, denen die Zeitgenossen erstrangige Bedeutung beimaßen, heute so gut wie vergessen.

Nach Meinung des sowjetischen Kunsttheoretikers Kagan ist dieses "Zurückbleiben des Niveaus der Wahrnehmung hinter den neuartigen Entdeckungen der zeitgenössischen Kunst" zunächst ein psychologisches Problem und somit "in der dialektischen Entwicklung der künstlerischen Kultur unvermeidlich". Als Beispiele nennt er die Haltung der Zeitgenossen zu Rembrandt, Beethoven, Stendhal, van Gogh, Majakowski, Eisenstein, Meyerhold, Brecht und Le Corbusier. Zugleich handele es sich aber auch um eine Erscheinung von sozialer Natur, "denn allein von Faktoren sozialhistorischer Ordnung hängt es ab, ob die Überwindung des Bruchs zwischen der künstlerischen Wahrnehmung und der vorauseilenden Entwicklung des künstlerischen Schaffens schnell oder langsam, dramatisch-spannungsvoll oder reibungslos, in engen oder weiten sozialen Dimensionen verläuft".

Pflichtschuldigst - das Werk ist vor Gorbatschows "Perestroika" geschrieben - fügt der sowjetische Kunsttheoretiker an dieser Stelle hinzu, daß im Sozialismus die ständige Vervollkommnung der künstlerischen Wahrnehmungsfähigkeit der Massen möglich und notwendig sei. "Und darum kann die Tragödie des nichtanerkannten Genies, wie sie für die Kultur der kapitalistischen Gesellschaft so charakteristisch ist, keine GesetzmäBigkeit in der Entwicklung der sozialistischen künstlerischen Kultur sein." (393)

Es handelt sich hier um ein für die parteioffizielle Sprache typisches Kryptogramm. Der Klartext enthüllt sich unter Bezugnahme auf die zuvor genannten Künstler, die von ihren "Zeitgenossen" verkannt worden seien; denn es war der "Zeitgenosse" Lenin, der von Majakowskis Versen nichts hielt, und es war der "Zeitgenosse" Stalin, der Eisensteins Werk unterdrückt hat. Der Theatermann Meyerhold mußte die "Tragödie des nichtanerkannten Genies" sogar bis zur physischen Vernichtung in Stalins Lagern erleiden. Nicht minder die Schriftsteller Isaac Babel, Ossip Mandelstam, Boris Pilniak und viele andere. - Ein schwacher Trost, falls das tatsächlich "keine Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der sozialistischen künstlerischen Kultur" gewesen sein sollte.

Aber es war zumindest kein Zufall. Das folgende Kapitel soll zeigen, wie es zur Tragödie der Kunst im real existierenden Sozialismus kommen konnte.