Juni 1995 |
950602 |
ENERGIE-CHRONIK |
Nach vierwöchigen zähen Koalitionsverhandlungen haben sich in Nordrhein-Westfalen die SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf einen Kompromiß geeinigt, der die geplante Erschließung des Braunkohletagebaues Garzweiler II als größte Hürde für die Bildung einer gemeinsamen Regierung aus dem Weg räumt. Danach wird der von Rheinbraun einzureichende Rahmenbetriebsplan erst genehmigt, wenn der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof über mehrere Klagen gegen das Projekt entschieden hat. Solange wird es auch keine Umsiedlungen geben. Ferner "erwartet" die Landesregierung, daß das Abbauunternehmen Rheinbraun den Rahmenbetriebsplan zunächst auf ein Drittel des insgesamt 48 Quadratkilometer großen Gebiets beschränkt. Die weitere Erschließung von Garzweiler II soll unter Berücksichtigung des Energiebedarfs und der Umweltverträglichkeit erfolgen. Nach Ansicht des SPD-Verhandlungsführers Wolfgang Clement könnte mit den ersten Umsiedlungen noch vor der Jahrtausendwende und im Jahr 2006 mit dem Kohleabbau begonnen werden. Nach Auffassung der Grünen ist dagegen mit Umsiedlungen nicht vor dem Jahr 2000 zu rechnen (SZ, 29.6.; Handelsblatt, 30.6.; siehe auch 950314).
Der Rheinbraun-Vorstandsvorsitzende Dieter Henning bezeichnete den Kompromiß als "nicht akzeptabel". Die vorgesehene Beschränkung bedeute eine nicht hinnehmbare Mengenbegrenzung und Beeinträchtigung der Wirtschaftlichkeit. Das Unternehmen werde an dem Projekt Garzweiler II in der vorgesehenen Form festhalten und die noch erforderlichen Genehmigungsverfahren auf der Basis des am 1. April rechtskräftig gewordenen Braunkohlenplans einleiten (Handelsblatt, 29.6., FAZ, 30.6.).
Die Rheinbraun-Mutter RWE Energie verwies darauf, daß sie mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung ein 20-Milliarden-Programm für den Neubau moderner Braunkohlekraftwerke sowie für die Entwicklung effizienterer Verstromungstechniken vereinbart hat. Diesem Programm werde durch die nunmehr getroffene Koalitionsvereinbarung die Basis entzogen. Das Unternehmen werde jetzt prüfen müssen, "welche Konsequenzen für Investitionspläne im rheinischen Revier zu ziehen sind".
Der IG Bergbau-Vorsitzende Hans Berger sprach von einem Unglückstag für den Industriestandort Nordrhein-Westfalen. Zugleich forderte er eine landesweite Mitgliederbefragung der SPD. Es genüge nicht, darüber - wie vorgesehen - auf einem Sonderparteitag in Hagen abzustimmen. Auf einer Versammlung in Gustorf wurde der SPD-Fraktionschef Klaus Matthiesen von wütenden Bergleuten mit einem Pfeifkonzert und "Judas! Judas!"-Rufen empfangen (Handelsblatt, 30.6., taz, 30.6.).
Nach Meinung der Süddeutschen Zeitung (29.6.) ist der zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vereinbarte Kompromiß zu Garzweiler "so kunstvoll verklausuliert, daß sich zwei im Prinzip völlig gegensätzliche Behauptungen damit gleichermaßen schlecht begründen lassen: für die Grünen, sie hätten den Ausstieg aus diesem fossilen Mammutprojekt zumindest eingeleitet; und für die SPD, daß der Einstieg nicht verbaut worden sei, sondern sich nur etwas verzögere."
Die tageszeitung (30.6.) wertet den Kompromiß als Beispiel dafür, wie Grüne und SPD trotz aller Differenzen in einer rot-grünen Koalition zueinander finden können: "Hier liegt jetzt eine Grundlage vor, auf der die unverzichtbare ëEnergiewendeí vorangebracht werden kann. Ein fortschrittlicher Kompromiß, der einerseits Raum schafft für einen ernsthaften Suchprozeß und andererseits radikale Brüche vermeidet."
Während in Düsseldorf die zähen Verhandlungen über Garzweiler II andauerten, sprach sich überraschend Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) für einen Verzicht auf die Erschließung des neuen Braunkohletagebaues aus. In einem Interview mit der vor allem in den neuen Bundesländern verbreiteten Zeitschrift Super Illu erklärte sie, das Projekt sei ökologisch bedenklich und zerstöre acht Dörfer. Es sei grotesk, daß im Osten "mit Milliardenaufwand aus dem Steuertopf Braunkohlegruben schließen müssen, während im westdeutschen Garzweiler gleichzeitig ein 48 Quadratkilometer großes Braunkohleloch aufgerissen werden soll". "Angela Merkel übt den Schulterschluß mit den Grünen, um die SPD kritisieren zu können", bemerkte dazu die tageszeitung (6.6).