Juli 1994

940713

ENERGIE-CHRONIK


Heftige Auseinandersetzungen um geplanten Castor-Transport nach Gorleben

Die Nachricht, daß abgebrannte Brennelemente aus dem Kernkraftwerk Philippsburg in sogenannten Castor-Behältern zur Zwischenlagerung nach Gorleben gebracht werden sollen, hat die Anti-Kernkraft-Bewegung erneut aufflammen lassen. Ab dem 9. Juli protestierten rund tausend Kernkraftgegner vor dem Zwischenlager Gorleben gegen den angekündigten Transport. Ein militanter Teil der Demonstranten errichtete Barrikaden, unterhöhlte Straßen und beschädigte Polizeifahrzeuge. Am 13. 7. beseitigten rund 800 Polizisten die Barrikaden und räumten das Hüttendorf, von dem aus die Demonstranten ihre Aktionen unternahmen. Auch danach kam es zu Ausschreitungen. So zerstörten rund 200 Kernkraftgegner am 20.7. auf dem Bahnhof Dannenberg den Schienenstrang unter der Verladeanlage für die Castor-Behälter. Ein knappes Dutzend Polizisten beobachtete das Geschehen,sah sich aber angesichts der Übermacht der Demonstranten außerstande, die Personalien der Täter festzustellen (taz, 11.7.; SZ, 12.7.; Welt, 21.7.).

Schröder sieht "Provokation" und droht mit Scheitern des Energiekonsenses

Im Zusammenhang mit den Protestaktionen kam es zum politischen Schlagabtausch zwischen Hannover und Bonn. In einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (7.7.) warf der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) dem Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) und den Energieversorgungsunternehmen vor, daß der Transport der Brennelemente angesichts ausreichender Möglichkeiten zur Zwischenlagerung in Philippsburg "völlig unnütz und überflüssig" sei. Er diene offenbar nur dazu, "Stimmung im Vorfeld der Bundestagswahl zu machen" und stelle damit eine "Provokation" dar. Am 13. 7. appellierte Schröder vor dem Presseclub Hannover an die "vernünftigen" Manager der Stromwirtschaft, die Einlagerungspläne zu stoppen. Andernfalls sei mit einem endgültigen Scheitern eines bundesweiten Energiekonsenses zu rechnen.

Töpfer wies Schröders Vorwürfe unter Hinweis auf die seit 1991 gültige Genehmigung für die Zwischenlagerung abgebrannter Brennelemente in Gorleben zurück. Die Entscheidung und die Wahl des Termins für den Transport von Philippsburg nach Gorleben sei allein Sache der Stromwirtschaft. Die Nutzung des Zwischenlagers Gorleben sei auch kein Präjudiz für das am gleichen Ort geplante Endlager (DPA, 7.7. u. 14.7.; SZ, 8.7.; Handelsblatt, 12.7.; FAZ, 12.7.).

Vorerst kein Brennelemente-Transport

Ende Juli war noch offen, wann der Castor-Transport tatsächlich erfolgen wird. Aus dem niedersächsischen Innenministerium verlautete, dies werde nicht vor dem Ende der Sommerferien bzw. erst im September der Fall sein. Das niedersächsische Umweltministerium erklärte am 21.7., daß die Prüfung der Transportprotokolle voraussichtlich zwei bis vier Wochen in Anspruch nehmen werde. Umweltministerin Monika Griefahn (SPD) bekräftigte, daß eine Zustimmung ihrer Behörde unabhängig von den formalen Prüfungen unwahrscheinlich sei, da der Transport "völlig überflüssig" sei und eine "unnötige Strahlenbelastung" darstelle (Handelsblatt, 21.7.; SZ, 22.7.).

Einwände gegen Energie-Artikelgesetz

Im Verlauf der Auseinandersetzungen kündigte Ministerpräsident Schröder eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht an, falls Bundespräsident Roman Herzog das vom Bundestag beschlossene Energie-Artikelgesetz unterschreibe. Seiner Ansicht nach bedarf das Gesetz wegen seiner atomrechtlichen Regelungen auch der Zustimmung des Bundesrats. Herzog unterzeichnete das Gesetz dennoch. Das Bundespräsidialamt erklärte dazu am 21.7., daß es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, sondern des Bundesverfassungsgerichts sei, in verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen (DPA, 21.7.; Handelsblatt, 22.7.; siehe auch 940501).

Weiterbau der PKA genehmigt

Bundesumweltminister Töpfer drohte seinerseits mit einer Klage beim Verfassungsgericht, falls die niedersächsische Landesregierung nicht bis zum 1.8. seiner Weisung nachkomme und die zweite Teilerrichtungsgenehmigung für die Pilotkonditionierungsanlage (PKA) Gorleben erlasse. Umweltministerin Monika Griefahn (SPD) beugte sich am 21.7. dem "massiven Druck aus Bonn" und erteilte die Genehmigung. Die Landesregierung halte die PKA aber weiterhin für überflüssig, "weil es in Gorleben kein Endlager geben wird" (Handelsblatt, 22.7.; Welt, 23.7.; siehe auch 940610).

Töpfer befürchtet weitere Konflikte

Bundesumweltminister Töpfer erwartet weitere Auseinandersetzungen mit der niedersächsischen Landesregierung, wenn Ende dieses Jahres mit der Rücklieferung von 5300 Kubikmetern hochradioaktiven Abfalls aus der französischen Wiederaufarbeitung begonnen wird, die in die Zwischenlager Ahaus und Gorleben gebracht werden sollen. Neue Konflikte und Verzögerungen seien ferner bei der Umrüstung der ehemaligen Schachtanlage Konrad zum Endlager für schwach- und mittelradioaktiven Abfall zu befürchten (SZ, 23.7.; FAZ, 23.7.).

Presse sieht Zusammenhänge mit bevorstehenden Bundestagswahlen

In den Kommentaren der Presse wird überwiegend die Meinung vertreten, daß der Zeitpunkt des Castor-Transports und die heftige Reaktion darauf in Verbindung mit den bevorstehenden Bundestagswahlen zu sehen sind. Die Süddeutsche Zeitung (13.7.) meint: "Die SPD will ihre (potentiellen) Wähler daran erinnern, daß sie immer noch gegen Kernenergie ist. Bundesumweltminister Klaus Töpfer kommt das nicht ungelegen. Er verweist, ganz Saubermann, auf Recht und Gesetz, fordert besorgt die Rückkehr zur Sachlichkeit und wäscht sich die Hände in Unschuld. ... Im Moment sieht es so aus, als ob die beiden Lager noch nicht einmal zu einem einigermaßen glaubwürdigen Dissens fähig sind."

Die Zeit (15.7.) empfindet Schröders Reaktion als verständlich, hält aber Bonn für den falschen Adressaten: "Die eigentlichen Scharfmacher sitzen im Badenwerk. Die Einlagerung der Brennelemente in Gorleben ist weder heute noch morgen zwingend. ... Aber offensichtlich wollen die badischen Stromversorger den niedersächsischen Ministerpräsidenten vorführen, mit der Inbetriebnahme des Zwischenlagers Gorleben ein fait accompli schaffen und Schröder zwingen, dies mit dem staatlichen Gewaltmonopol durchzusetzen."

In der Wochenpost (14.7.) heißt es: "Nicht zufällig planen die Atomwerker ihren Transport vier Monate vor der Bundestagswahl. Bis dahin soll das Zwischenlager in Betrieb sein, damit Fakten geschaffen sind, falls in Bonn eine rot-grüne Koalition regiert."

Dem Handelsblatt (12.7.) gibt die Terminierung des Castor-Transports im Wahljahr 1994 ebenfalls zu denken: "Der Zeitpunkt der umstrittenen Aktion wirft Fragen auf. ... Auch wenn Töpfer jeden Einfluß auf den Kraftwerksbetreiber bestreitet, so bleiben politische Implikationen. Die SPD hat mit dem Publikmachen der Aktion die dahinsiechende Anti-Atom-Bewegung aufgeweckt. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß genau dies ein Motiv der Genossen war, weil sie den Atomstreit mit der Kohl-Regierung für ihren Konfrontationskurs brauchen. Genauso gibt es im Lager der Union Stimmen, die die Bundestagswahl auch zu einem Votum über die Kernenergie machen wollen."