Januar 1992

920111

ENERGIE-CHRONIK


Neuer Vorstoß der EG-Kommission für Durchleitung von Strom und Gas

Trotz erheblichen Widerstandes seitens der Mitgliedsländer hält die EG-Kommission am Konzept des "Third Party Access" fest. Am 22.1. legte sie zwei Richtlinienentwürfe vor, die Großabnehmern von Strom und Gas ab Anfang 1993 den Zugang zu den Netzen anderer Mitgliedsstaaten ermöglichen soll, sofern diese Abnehmer einen Jahresverbrauch von mindestens 100 Gigawattstunden Strom bzw. 25 Millionen Kubikmeter Gas haben. Energie-Kommissar Cardoso e Cunha rechnet mit EG-weit 400 bis 500 solcher stromverbrauchenden Großkunden in den Sektoren Aluminium, Chemie, Zement und Glas. Bei Erdgas kämen Düngelmittelproduzenten und Elektrizitätswerke in Betracht. Ab 1996 soll der Zugang Dritter zu den Netzen anhand der bis dahin gewonnenen Erfahrungen bis zur vollen Liberalisierung erweitert werden. Mit diesem Konzept hat sich Cardoso e Cunha gegen seinen für Wettbewerbsfragen zuständigen Kollegen, Sir Leon Brittan, durchgesetzt, der die Durchleitung über kartellrechtliche Entscheidungen der EG-Kom-mission durchsetzen wollte. Das jetzt vorgelegte Paket bedarf allerdings noch der Zustimmung der zuständigen Minister auf ihrer nächsten Sitzung im April (VWD, 22.1.; Handelsblatt, 24.1.; FAZ, 24.1.; siehe auch 911205).

Das Handelsblatt (30.1.) kommentierte: "Bei der Belebung des Wettbewerbs in der Energiewirtschaft darf nicht das Status-quo-Denken triumphieren. Die wettbewerbsbeschränkenden Regulierungen gehören auf dem Gemeinsamen Markt allesamt auf den Prüfstand, aber unter Berücksichtigung von nationalen bzw. marktstrukturellen Unterschieden. Während in einzelnen Ländern der EG Staatsgesellschaften auf der Basis von Einfuhr-, Ausfuhr- und Transportmonopolen die Märkte der Leitungsenergien kontrollieren können, bestehen in anderen Volkswirtschaften weniger staatlich gefesselte Märkte mit privatwirtschaftlichen Anbietern. Deren Leitungsnetze sind im Konkurrenzkampf mit unternehmerischen Risiken geschaffen worden; Zugangsauflagen aus Brüssel würden daher eigentumsrechtlichen Eingriffen gleichkommen."

Die Süddeutsche Zeitung (30.1.) listete eine Reihe von Einwänden auf, welche die Erfolgs-chancen der Durchleitungspläne schwinden lassen könnten: "Der Stufenplan der EG-Kommission zur Liberalisierung der Strom- und Gas-Versorgung nützt allein großen Konzernen und benachteiligt kleine Unternehmen sowie die privaten Verbraucher. Er verschafft landesweiten Monopolen, wie der französischen EDF, enorme Wettbewerbsvorteile und gefährdet die Investitionen regionaler Strom- und Gaslieferanten, wie zum Beispiel der acht deutschen Elektrizitätsversorgungsunternehmen (EVU). Wie der Plan sich am Markt auswirkt, ist kaum zu übersehen. Das Ziel der freien Märkte erreicht er wahrscheinlich nicht. Im Gegenteil, er verursacht vermutlich zunächst einmal Bürokratie."

Die Tageszeitung (25.1.) meinte: "Profitieren von einer solchen Liberalisierung würden nicht etwa die Verbraucher. Der Vorschlag fördert das Wohl der alten Industrien in der EG - sie hatten offenbar diesmal die stärkere Lobby."