April 2023 |
230405 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Bundesregierung hat sich gegenüber der EU-Kommission dafür ausgesprochen, in das nächste Sanktionspaket gegen Russland auch die Nuklearindustrie aufzunehmen und die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu beenden. Man müsse sich in allen EU-Ländern von Russland weiter unabhängig machen, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck der Deutschen Presse-Agentur am 15. April. Es sei nicht zu rechtfertigen, dass dieser Bereich noch immer ausgeklammert werde. "Die Nukleartechnologie ist ein extrem sensibler Bereich, und Russland kann hier nicht mehr als verlässlicher Partner betrachtet werden", betonte er. Den betroffenen EU-Staaten müssten zwar Übergangsfristen eingeräumt werden. Es sei aber wichtig, "dass wir anfangen und auch in diesem Bereich ein entschlossenes Vorgehen nicht scheuen".
Tatsächlich kooperieren sieben EU-Staaten weiterhin mit dem Staatskonzern Rosatom, der in Russland sowohl für die Herstellung von Atomwaffen als auch für die nukleare Stromerzeugung zuständig ist. Aus historischen Gründen sind das vor allem die fünf Länder Bulgarien, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn, die einst zum sowjetischen Machtbereich gehörten. Aber auch Frankreich und Finnland unterhalten seit vielen Jahren enge Beziehungen zum russischen Nuklearkomplex, um ihre Kernkraftwerke mit Brennstäben zu versorgen oder radioaktive Abfälle loszuwerden (siehe Hintergrund, April 2022).
Die Kernkraftwerke der ehemaligen Ostblock-Länder sind deshalb bis heute bei der Versorgung mit Brennstäben oder auch bei der Durchführung von Wartungsarbeiten auf Russland angewiesen. Hinzu kommen zwei Reaktoren sowjetischer Bauart in Finnland. Wie aus einem von fünf atomkritischen Organisationen erarbeiteten Faktenblatt (PDF) hervorgeht, sind damit insgesamt 18 Reaktoren in der EU zu 100 Prozent von russischen Brennelementen abhängig:
Trotz des Angriffskriegs gegen die Ukraine und eines Flugverbots für russische Maschinen im Luftraum der EU durfte deshalb am 1. März eine russische Transportmaschine in der Slowakei mit einer Sondergenehmigung landen, um die beiden slowakischen Atomkraftwerke mit neuen Brennelementen zu versorgen. Kurz darauf erhielt Ungarn ebenfalls Brennelemente aus Russland. Vier der fünf ehemaligen Sowjet-Satelliten bemühen sich inzwischen um eine Verringerung dieser Abhängigkeit. Dagegen ging der Putin-Freund Orban in Ungarn auf klaren Gegenkurs und erhöhte diese Abhängigkeit noch, indem er im August 2022 den Baubeginn für zwei weitere russische Reaktoren am Standort Paks bekanntgab, deren Errichtung 2014 mit Rosatom vereinbart wurde. Über ein Darlehen von 10 Milliarden Euro finanzieren die Russen auch größtenteils die Baukosten, während Ungarn die restlichen 2,5 Milliarden übernimmt.
Im Jahr 2020 bezog die EU nach Angaben von Euratom 20,2 Prozent des Urans aus Russland. Weitere 19,1 Prozent kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan. Auch die jetzt abgeschalteten deutschen Atomkraftwerke wurden hauptsächlich mit Uran aus Russland und Kasachstan betrieben. In der Schweiz beziehen sogar zwei der drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke das Uran für Brennelemente direkt vom russischen Staatskonzern Rosatom.
Selbst in Deutschland hat Rosatom noch einen Fuß in der Tür, obwohl die insgesamt sieben ostdeutschen Reaktoren, die hier mit sowjetischer Hilfe errichtet wurden, sofort nach der Wende abgeschaltet bzw. erst gar nicht in Betrieb genommen wurden (siehe Tabelle). So haben die Urananreicherungsanlage der Firma Urenco in Gronau (Hintergrund, Januar 2017) und die Brennelementefabrik des französischen Atomkonzerns Framatome in Lingen in den vergangenen Jahren große Mengen Uran aus Russland und Kasachstan weiterverarbeitet. Mit der in Alzenau ansässigen Tochtergesellschaft Nukem Technologies betätigt sich Rosatom hierzulande in den Geschäftsbereichen Stilllegung von Atomkraftwerken, Dekontaminierung und Abfallverarbeitung. Der Geschäftsführer dieser Rosatom-Tochter ist sogar Vorsitzender des "Vereins Kerntechnik Deutschland", der sich als Nachfolger des einstigen "Deutschen Atomforums" der Propaganda für eine Neubelebung der Kernenergie in Deutschland verschrieben hat. Als stellvertretender Vorsitzender des Vereins hilft ihm dabei der Geschäftsführer der Framatome GmbH, die als deutscher Ableger des französischen Reaktorbauers die Tochtergesellschaft Advanced Nuclear Fuels GmbH (ANF) in Lingen betreibt (Hintergrund, Juni 2022).
Noch kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine schlossen Rosatom und Framatome ein langfristiges Abkommen über strategische Zusammenarbeit. Außerdem war die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens geplant, und zwar wollte sich die Rosatom-Tochter TVEL mit 25 Prozent an der Brennelementefertigung der ANF in Lingen beteiligen. Dazu kam es dann wegen Putins Angriffskrieg vorerst nicht. Auch das Kooperationsabkommen wurde angeblich auf Eis gelegt. Es wurde aber keineswegs gekündigt. Wie sich Ende März herausstellte, fand man inzwischen sogar einen Ausweg, um die Rosatom-Beteiligung an der Brennelementefabrik in Lingen, die das niedersächsische Umweltministerium nicht genehmigen wollte, doch noch zu vollziehen: Nach Angaben des niedersächsischen Umwelt- und Energieministerums wurde der Antrag im Februar zurückgezogen. Stattdessen sei das Gemeinschaftsunternehmen in Frankreich gegründet worden.
Anscheinend hat sich demnach Rosatom bzw. TVEL direkt am französischen Reaktorbauer Framatome beteiligt, der 2015 aus der Zerschlagung des einstigen Areva-Konzerns hervorging und seitdem der Electricité de France (EDF) gehört, während die Bereiche Uran-Gewinnung, Anreicherung, Wiederaufarbeitung und Entsorgung vom französischen Staat dem neuen "Orano"-Konzern übertragen wurden (150703, 180310, siehe auch Hintergrund, Juli 2015). Schon beim Abschluss des Kooperationsabkommens gab es Pläne, Rosatom an Framatome zu beteiligen, wofür den Russen der Zugriff auf die besonders leistungsfähigen "Arabelle"-Turbinen gewährt werden sollte.
In seiner Stellungnahme zur endgültigen Abschaltung des Kernkraftwerks Emsland am 15. April sprach sich vor diesem Hintergrund der niedersächsische Umwelt- und Energieminister Christian Meyer (Grüne) ebenfalls für die Beendigung aller Kontakte mit der russischen Atomindustrie aus. Zur Vollendung des Atomausstiegs werde sich Niedersachsen dafür einsetzen, auch die Brennelementeproduktion in Lingen zu beenden. Vor allem werde man beim Bund darauf dringen, dass grundsätzlich kein Uran aus Russland mehr an die Brennelementefabrik geliefert wird: "Geschäfte mit Putin sollten beendet werden, das gilt auch und gerade für den Atombereich", erklärte Meyer. "Die Urangeschäfte Russlands mit Lingen zeigen die hohe Abhängigkeit der europäischen Atomindustrie von Putins Russland. Dies durch Joint-Ventures, direkte oder indirekte Beteiligungen Russlands zu verfestigen, halte ich politisch angesichts Putins brutalem Energiekrieg gegen Europa für fatal. Es kann nicht sein, dass in Deutschland die letzten Atommeiler abgeschaltet werden, aber hier weiter Brennelemente produziert werden. Der beschlossene Atomausstieg muss jetzt auf allen Ebenen auch konsequent durchgezogen werden."
Noch nicht entschieden hat das Ministerium über den von ANF gestellten Antrag, künftig auch hexagonale Brennelemente für osteuropäische Reaktoren russischen Typs herstellen zu dürfen. Ohne diese Genehmigung würde sich die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens für Rosatom und Framatome kaum lohnen, denn die Russen wollen mit der Produktion der sechseckigen Brennelemente ihren Geschäftsbereich nach Westeuropa erweitern, während sich die Franzosen eine bessere Auslastung der Anlage in Lingen erhoffen. Meyer kündigte an, dass er zu dem von ANF gestellten Antrag zunächst einmal ein Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung einleiten werde.