März 2021

210302

ENERGIE-CHRONIK




Das Umspannwerk Ernestinovo gehört dem kroatischen Übertragungsnetzbetreiber HOPS, der seinerseits eine Tochter des staatlichen Energiekonzerns Hrvatska Elektroprivreda (HEP) ist. Es wurde 1977 als erste 400-kV-Station im kroatischen Landesteil des damaligen Jugoslawien gebaut, 1991 im kroatischen Unabhängigkeitskrieg zerstört und 2003 neu aufgebaut. Infolge des Bürgerkriegs in Jugoslawien zerfiel auch das damalige europäische Verbundnetz mehr als zehn Jahre lang in zwei Synchronisations-Zonen (041018).
Foto: Wikipedia

Ursache der Netz-Aufspaltung: Drohender Verlust der Stabilität wurde nicht erkannt

Das Auseinanderbrechen des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes am 8. Januar (210101) wurde vom kroatischen Umspannwerk Ernestinovo ausgelöst, weil der nationale Übertragungsnetzbetreiber HOPS aufgrund von Mängeln seines Kontrollsystems SCADA einen sich anbahnenden Verlust der Netzstabilität nicht rechtzeitig erkennen und abwenden konnte. Dies ergibt sich aus einem detaillierten Zwischenbericht, den der Dachverband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E am 26. Februar veröffentlichte (siehe PDF). Der Bericht dient nun als Materialsammlung für ein Expertengremium, das auf dieser Grundlage eine abschließende Beurteilung sowie Empfehlungen abgeben wird, wie sich eine derart gravierende Netzstörung künftig verhindern lässt. Mit der Veröffentlichung des Abschlussberichts ist im Sommer zu rechnen.

Am 8. Januar belasteten hohe Stromtransite vom Balkan nach Westeuropa das Umspannwerk Ernestinovo

Das Umspannwerk Ernestinovo ist über 400-kV-Leitungen direkt mit Bosnien-Herzegowina, Serbien und Ungarn verbunden. Weitere Höchstspannungsleitungen führen über das kroatische Umspannwerk Zerjavinec nach Ungarn und Slowenien. Es ist damit der wichtigste Netzknoten für Stromtransite aus den Balkanstaaten in den nördlichen Teil des europäischen Verbundnetzes. Die Ausgangslage am 8. Januar wurde von einem besonders starken Stromtransit geprägt, da das warme Wetter auf der Balkanhalbinsel sowie der orthodoxe Weihnachtsfeiertag am 6. und 7. Januar zu einer insgesamt geringeren Nachfrage in einigen dieser Länder führte. Auf der anderen Seite gab es in Mitteleuropa kälteres Wetter und entsprechend höhere Lasten. Vor allem Frankreich hatte wieder mal einen besonders hohen Importbedarf, weil dort Stromheizungen sehr verbreitet sind und 4 der 56 Kernkraftwerke wegen der Durchführung von notwendigen Wartungsarbeiten nicht in Betrieb waren (091202, 161108).

Leistungsflüsse werden durch ein dreifach abgestuftes System erst prognostiziert und dann in Echtzeit erfasst

Wie üblich, suchten sich die Stromflüsse ihren eigenen Weg, der nicht unbedingt mit den "Fahrplänen" des Stromhandels und den darauf basierenden Prognosen der Übertragungsnetzbetreiber für die Auslastung der einzelnen Netzverbindungen übereinstimmen muss. Im großen und ganzen hielten sich die Abweichungen aber in den normalen Grenzen. Der kroatische Übertragungsnetzbetreiber HOPS kontrolliert die Leistungsflüsse in seinem Netz über ein dreifach abgestuftes System: Eine erste Prognose erfolgt am Vortag der angemeldeten Lieferungen mit dem DACF-Verfahren (Day-Ahead-Congestion-Forecast). Anschließend werden die Leistungsflüsse durch das IDCF-Verfahren (Intra-day Congestion-Forecast) regelmäßig mit neueren Daten aktualisiert und überprüft. Während des Echtzeitbetriebs wird dann jede Minute eine n-1-Kontingenzberechnung mit dem SCADA-System (Supervisory control and data acquisition) durchgeführt. Es wird also überprüft, ob die Netzstabilität auch beim Ausfall eines wichtigen Betriebsmittels noch gewährleistet wäre.

Der höchste zulässige Stromfluss war auf 2.080 Ampere eingestellt

Und natürlich sind an allen wichtigen Netzpunkten Sicherungen eingebaut, die den Stromfluss unterbrechen, wenn er einen bestimmten Höchstwert auf eine bestimmte Dauer überschreitet. Zuvor gibt es außerdem Alarmmeldungen, die auf die drohende Gefahr aufmerksam machen. In Ernestinovo liegt der Grenzwert für die einzelnen Übertragungsleitungen bei 2000 Ampere. Der kritischere Punkt ist allerdings die Kupplung der beiden Sammelschienen, die durch einen Messstromwandler überwacht wird. Der Nennstrom dieses Messstromwandlers beträgt 1.600 Ampere. Unter Berücksichtigung der Schutzeinstellung – der Strom sollte nicht größer als 130 Prozent sein – wurde der maximale Leistungsfluss für den Schutz der Sammelschienenkupplung auf 2.080 Ampere festgelegt. Wenn die Stromstärke 5 Sekunden lang höher ist als dieser Wert, trennt der Leistungsschalter beide Sammelschienen voneinander, bis die Stromstärke wieder unter 1976 Ampere fällt.

Erste Alarmstufe am Messstromwandler löste in einer Stunde fünfzigmal aus

Das SCADA-System von HOPS hat zwei Alarme für eine Überschreitung de Stromflusses an der Sammelschienenkupplung. Die erste Alarmstufe wird ausgelöst, wenn der Strom 96 Prozent des Bemessungswertes des Messstromwandlers erreicht, also bei 1.536 Ampere. Zum zweiten Alarm kommt es, wenn der Strom 120 Prozent des Bemessungswertes beträgt, also bei 1.920 Ampere. In der Praxis können diese Alarmmeldungen allerdings auch nerven, wenn sie allzu häufig auftreten, und dadurch eher zu nachlassender Aufmerksamkeit führen. Zum Beispiel gab es an diesem Tag zwischen 12:00 und 13:00 Uhr rund 50 Alarme, weil der Strom durch den Sammelschienenkoppler um den Wert von 1.536 Ampere herum schwankte. Zum letzten Mal wurde das erste Alarmsignal um 12:56:57 Uhr ausgelöst. Danach blieb der Stromfluss des Sammelschienenkopplers relativ stabil bei etwa 1.700 Ampere.

Überstromschutz unterbrach Sammelschienen-Kupplung zehn Sekunden nach Überschreitung des Grenzwerts

Um 14:00:00 Uhr lag die Stromstärke an diesem Messstromwandler bei 1736 Ampere. Nur 59 Sekunden später erreichte er dann 1931 Ampere. Das war insofern noch normal, als der Stromhandel durch den stündlichen Wechsel seiner "Fahrpläne" regelmäßig solche Lastspitzen verursacht. An der Kupplung der beiden Sammelschienen in Ernestinovo wurde damit jedoch die Schwelle von 1.920 Ampere überschritten und der zweite Alarm ausgelöst. Sieben Sekunden später fiel der Stromwert dann wieder unter diesen Grenzwert und bewegte sich drei Minuten lang darunter. Die durch den Stundenwechsel verursachte Transiente hatte sich damit ausgependelt. Um 14:04:16 überschritt er aber wieder die Schwelle von 1.920 Ampere, löste erneut den zweiten Alarm aus und stieg binnen fünf Sekunden bis auf 1989 Ampere. Nach weiteren fünf Sekunden wurde so wegen Überschreitung des Grenzwerts von 2.080 Ampere der Überstromschutz ausgelöst und die Kupplung unterbrochen.


Mit der Abschaltung der serbischen Übertragungsleitung von Novi Sad nach Subotica um 14:04:48:9 Uhr ging die Winkelstabilität endgültig verloren und es kollabierten binnen 20 Sekunden zahlreiche weitere Übertragungsleitungen von der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine bis hinunter zum Mittelmeer in der Region Dalmatien. Dadurch zerfiel das kontinentaleuropäische Verbundsystem in zwei Teile mit unterschiedlicher Frequenz. (Vergrößern)

Vollständige Trennung der Sammelschienen führte zu endgültigem Verlust der Winkelstabilität

Durch diese Trennung der beiden Sammelschienen geriet das Stromsystem aber bereits dicht an den Rand der "Winkelstabilität". In der Mechanik versteht man darunter die kraftschlüssige Verbindung von zwei Teilen, die fest und bewegungsfrei miteinander verbunden sind. In der Elektrotechnik bezieht sich dieser Ausdruck auf die Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung, die bei Wechselstrom durch induktive oder kapazitive Blindwiderstände in einen Stromkreis entsteht oder allein schon durch den induktiven Widerstand einer längeren Leitung bewirkt wird (siehe ENERGIE-WISSEN). Sicherer Netzbetrieb setzt eine bestimmte Winkelstabilität voraus. Diese gehört deshalb auch zu den Kriterien der sogenannen n-1-Regel.

Nach weiteren 24 Sekunden ging die Winkelstabilität vollends verloren: Die Ströme, die bisher über die Kupplung flossen, verlagerten sich nun auf zwei Transformatoren, die über die 110-kV-Sammelschienen weiterhin mit den beiden 400-kV-Sammelschienen in Verbindung standen. Der daraus resultierende Überstrom schaltete beide Transformatoren um 14:04:28 Uhr ab und bewirkte so eine vollständige Trennung der beiden 400-kV-Sammelschienen. Dadurch verlagerten sich die Leistungsflüsse auf benachbarte Übertragungsleitungen. Als erste wurde die serbische 400-kV-Leitung Novi Sad - Subotica überlastet und um 14:04:48:9 Uhr abgeschaltet. Dem Bericht zufolge erreichte mit dieser Abschaltung das gesamte System den "Point of no return" und die beiden Bereiche begannen sich aufgrund fehlender Winkelstabilität voneinander zu trennen.

Binnen 20 Sekunden versagten alle Übertragungsleitungen von der rumänisch-ukrainischen Grenze bis nach Dalmatien

Binnen 20 Sekunden folgten weitere kaskadierende Abschaltungen aller Übertragungsleitungen von der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine bis hinunter zum Mittelmeer in der Region Dalmatien. Das kontinentaleuropäische Stromnetz zerfiel dadurch eine Stunde lang in zwei Zonen mit unterschiedlicher Versorgungslage und Netzfrequenz: In der nordwestlichen Zone, wo plötzlich Strommangel herrschte, stürzte die Netzfrequenz binnen 14 Sekunden auf 49,742 Hertz. In der südöstlichen Zone gab es dagegen plötzlich einen großen Stromüberschuss mit einem blitzartigen Anstieg der Netzfrequenz bis auf 50,6 Hertz (siehe 210101).

Grenzwerte der Schutzvorkehrungen hätten schärfer eingestellt werden müssen

Die große Frage bleibt natürlich, weshalb der Übertragungsnetzbetreiber HOPS diese fatale Entwicklung nicht rechtzeitig erkannt und interveniert hat. Im wesentlichen lag dies offenbar daran, dass ihm die Messwerte aus dem Umspannwerk nicht in Echtzeit vorlagen und deren Verarbeitung mit dem SCADA-System weitere Zeit benötigte. Wie aus dem Zwischenbericht der ENTSO-E hervorgeht, werden die Daten nur alle 4 Sekunden an das SCADA-System übermittelt. Eine sofortige Übermittlung erfolgt nur, wenn sich ein Wert zwischen den Messintervallen um mehr als zehn Prozent ändert, was in dieser Situation aber nicht der Fall war. Außerdem werden die vom SCADA-System angezeigten Trends nur alle zehn Sekunden aufgefrischt, so dass das Bedienungspersonal nur alle zehn Sekunden Aktualisierungen sehen kann. Deshalb konnte es auch den letzten Höchstwert von 1.989 Ampere nicht bemerken, der die Trennung der beiden Sammelschienen auslöste. Stattdessen gewann es den Eindruck, dass der Strom durch die Sammelschienenkupplung erst etwa 1.920 A betrug. Die Dringlichkeit der erforderlichen Maßnahmen wurde so nicht richtig eingeschätzt.

Unabhängig davon erweckt der Zwischenbericht aber auch den Eindruck, als ob die Netzwerk-Topologie im Umspannwerk Ernestonovo nicht gerade optimal sei. Zumindest wäre es wegen der zeitverzögerten Datenübertragung angebracht gewesen, die Grenzwerte der Schutzvorkehrungen gegen eine Überlastung niedriger einzustellen – auch wenn dadurch etliche Megawatt weniger vom Balkan nach Westeuropa übertragen werden können.

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