Februar 2017 |
170204 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber halten es für erforderlich, an den süddeutschen Netzknotenpunkten schnell hochfahrbare Gaskraftwerke mit einer Leistung von insgesamt rund 2000 Megawatt (MW) zu errichten bzw. vor der Stillegung zu bewahren, damit es in den Jahren 2020 bis 2025 nicht zu gravierenden Störungen der deutschen und europäischen Stromversorgung kommt. Sie halten es ferner für sinnvoll und notwendig, diese Kraftwerke in eigener Regie zu betreiben. Dies ist die Quintessenz eines 28 Seiten umfassenden Berichts über den "Bedarf an Netzstabilitätsanlagen nach § 13k Energiewirtschaftsgesetz", den sie mit Datum vom 15. Februar der Bundesnetzagentur vorlegten und den diese am 22. Februar veröffentlichte (siehe externen Link).
Die vier Netzbetreiber 50Hertz, TenneT, Amprion und TransnetBW stützen sich bei ihrem Bericht auf einen Paragraphen des Energiewirtschaftsgesetzes, der bei der Beratung des sogenannten Strommarktgesetzes aufgrund der kurzfristig vorgelegten Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses eingefügt wurde (160604). Dieser § 13k ist mit "Netzstabilitätsanlagen" überschrieben. Er erlaubt es den Betreibern von Übertragungsnetzen, "Erzeugungsanlagen als besonderes netztechnisches Betriebsmittel errichten, soweit ohne die Errichtung und den Betrieb dieser Erzeugungsanlagen die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems im Sinne von § 2 Absatz 2 der Netzreserveverordnung gefährdet ist". Diese Erzeugungsanlagen dürfen eine elektrische Nennleistung von insgesamt 2 Gigawatt nicht überschreiten. Die Empfehlung der Netzbetreiber schöpft somit genau diese Grenze aus.
Weiter schreibt der Paragraph vor, daß die Netzstabilitätsanlagen dort errichtet werden sollen, wo dies wirtschaftlich oder aus technischen Gründen für den Netzbetrieb erforderlich ist. Die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) haben den Bedarf für solche Kraftwerke erstmalig bis spätestens 31. Januar 2017 zu ermitteln. Die Bundesnetzagentur hat über den angemeldeten Bedarf spätestens bis zum Ablauf des zweiten darauf folgenden Monats zu entscheiden. Die so genehmigten und errichteten Erzeugungsanlagen dürfen allerdings nur befristet betrieben werden, sofern die ÜNB nicht bis zum 15. Oktober 2022 mitteilen, ob weiterer Bedarf für die Jahre 2026 bis 2030 besteht. Über einen solchen Antrag hätte die Bundesnetzagentur dann bis spätestens 31. Januar 2023 zu entscheiden.
"Bereits heute wird das deutsche Übertragungsnetz vornehmlich in Nord-Süd-Richtung zunehmend an seinen technisch zulässigen Grenzen belastet", heißt es in dem Bericht einleitend. Notwendige Freischaltungen von Betriebsmitteln, die zur Umsetzung des umfangreichen Netzausbaus erforderlich sind, würden diesen Trend bis 2025 weiter verstärken. Durch den Kernenergieausstieg verliere das System in erheblichem Umfang gesicherte Einspeisung in Süddeutschland. Bis 2020 und 2022 würden die letzten großen süddeutschen Kernkraftwerke planmäßig abgeschaltet. Der Netzausbau mit seinem Zieltermin 2025 werde bis dahin noch nicht fertiggestellt sein. Gleichzeitig nehme im Norden die Einspeisung aus Windenergie kontinuierlich zu. Außerdem wachse der Übertragungsbedarf für den europäischen Stromhandel. Die zur Verfügung stehenden Netzquerschnitte könnten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten. Mit dem bis Ende 2025 erreichten Netzausbau werde voraussichtlich eine Entspannung eintreten. Belastbare Prognosen seien aber für diesen Zeithorizont momentan noch nicht möglich.
Pflichtschuldigst erweisen die ÜNB dem von Brüssel geforderten "Unbundling" ihre Reverenz, indem sie bekräftigen, daß "für die Bereitstellung von Systemdienstleistungen primär der Markt zuständig" sei. Zugleich verweisen sie aber auch darauf, welche Vorteile es hätte, wenn sie im Notfall über die gewünschten "Netzstabilitätsanlagen" verfügen könnten:
Im Grunde handelt es sich bei den "Netzstabilitätsanlagen" um nichts anderes als um Kraftwerke zur Bereitstellung von Regelenergie. Dies widerspricht freilich einem grundlegenden Glaubenssatz der herrschenden neoliberalen Energiepolitik, die auf einer chemisch reinen Trennung zwischen Kraftwerken und Netzen besteht. Aus diesem Grund dürfen die Netzbetreiber – entgegen aller Vernunft und technischen Notwendigkeit – bisher nicht viel mehr als Leitungen, Schalter und Transformatoren besitzen. Die Regelenergie, die sie nicht minder dringend zur Erfüllung ihres Geschäfts benötigen, müssen sie sich über entsprechende Verträge mit geeigneten und lieferwilligen Kraftwerksbetreibern besorgen. Daß dies bisher mehr schlecht als recht gelungen ist, kann als das größte Wunder des liberalisierten Strommarktes gelten.
Trotzdem stößt die Liberalisierung der Energiewirtschaft irgendwann an eine Grenze, hinter der ein europaweiter Stromausfall droht. Das wissen auch jene Politiker, die genug von Physik verstehen, um den Traum von der "europäischen Kupferplatte" mit einer einzigen Stromhandelszone von Lissabon bis Warschau eher für einen Alptraum zu halten. So kam es denn wohl zur Erfindung des Begriffs "Netzstabilitätsanlagen".
Natürlich sind die neoliberalen Gralshüter in Brüssel nicht so einfach zu täuschen. Deshalb hat man vorsorglich schon mal sondiert, ob sie diese Sprachregelung akzeptieren könnten, zumal es sich ja nur um eine provisorische Maßnahme handele, bis in etwa zehn Jahren die projektierten Stromautobahnen fertiggestellt seien. Der Bescheid scheint positiv gewesen zu sein. Unabhängig davon wird der jetzt von den ÜNB angemeldete Bedarf für "Netzstabilitätsanlagen" erst noch von der Bundesnetzagentur und anschließend von der EU-Kommission offiziell genehmigt werden müssen.