August 2006 |
060807 |
ENERGIE-CHRONIK |
Bereits am 25. Juli ereignete sich im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark 1 eine Störung, die von der schwedischen Atomenergiebehörde "Statens Kärnkraftinspektion" (SKI) in die Kategorie 2 der INES-Skala eingestuft wurde ("Störfall"). Sie fand zunächst keine größere Beachtung, bis der frühere Vattenfall-Mitarbeiter Lars-Olov Höglund gegenüber Zeitungen davon sprach, daß eine Kernschmelze nur knapp vermieden worden sei. Ende August revidierten auch andere schwedische Fachleute ihre Beurteilung des Vorfalls. Der Vorsitzende des Reaktorsicherheitsausschusses der schwedischen Atomenergiebehörde "Statens Kärnkraftinspektion" (SKI) sprach vom "schlimmsten Vorfall in der Geschichte der Atomkraft in Schweden". Die SKI selber hielt sich dagegen bedeckt und verteidigte ihre Einstufung als bloßer "Störfall".
Forsmark 1 ist einer von insgesamt zehn Reaktoren, die derzeit in Schweden in Betrieb sind (siehe Karte/Tabelle). Es handelt sich um einen Siedewasserreaktor mit einer Nettoleistung von 968 MW, die von zwei Turbo/Generatorsätzen erbracht wird. Insgesamt gibt es in Forsmark drei Siedewasserreaktoren, die in den Jahren 1980, 1981 und 1985 in Betrieb genommen wurden. Zum Zeitpunkt des Störfalls befand sich der Reaktor 2 (964 MW) in Revision, während Forsmark 3 (1155 MW) normal ins Netz einspeiste.
Dasselbe Sicherheitsproblem wie bei Forsmark 1 besteht beim weitgehend baugleichen Reaktor Forsmark 2 sowie den beiden Reaktoren Oskarshamn 1 und 2. Sie blieben deshalb stillgelegt bzw. wurden vorsorglich abgeschaltet. Da außerdem der Reaktor Ringhals 4 wegen Wartungsarbeiten stillstand, konnten im August nur die Hälfte der schwedischen Kernreaktoren ins Netz einspeisen. Kapazitätsmäßig entfielen dadurch zwei Fünftel der installierten KKW-Leistung.
Seit der Stillegung des KKW-Standorts Barsebaeck (050606) betreibt Vattenfall die drei Reaktoren in Forsmark und die vier Reaktoren in Ringhals unter Beteiligung von E.ON. Das Kernkraftwerk Oskarshamn wird dagegen von der E.ON-Tochter OGK betrieben, wobei der finnische Fortum-Konzern als Minderheitsaktionär beteiligt ist.
Der Störfall wurde durch ein Routineereignis ausgelöst, nämlich durch einen Kurzschluß in einer 400-kV-Schaltanlage außerhalb des Kraftwerks. In solchen Fällen ist es üblich, daß das betroffene Kraftwerk sich automatisch vom Netz abkoppelt und seine Stromerzeugung auf die Deckung des Eigenbedarfs reduziert. In Forsmark fielen aber schon wenige Sekunden nach der Abkoppelung vom Netz nacheinander die Turbinen beider Generatoren aus. Die automatische Umschaltung auf das externe 70-kV-Reservenetz funktionierte ebenfalls nicht, weshalb die werkseigene Notstromversorgung aktiviert wurde. Die vier Dieselaggregate sprangen zwar an, wurden aber nur zur Hälfte aufs werkseigene Netz geschaltet, weil bei den anderen ein Steuerungsmechanismus defekt war. Der beunruhigendeste Befund dabei ist nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen, daß auch die beiden anderen Notstromsysteme eher zufällig von dem Defekt verschont geblieben sind.
Wegen des Teilausfalls der Notstromversorgung versagte die Anzeige des Wasserstands im Reaktor, was automatisch die Schnellabschaltung des bereits stark heruntergefahrenen Reaktors bewirkte. Zugleich versagten etliche andere Kontrolleinrichtungen, so daß der Bedienungsmannschaft 23 Minuten lang der notwendige Überblick fehlte, um angemessen auf die kritische Situation reagieren zu können. Erst dann gelang es, die blockierten beiden Dieselaggregate manuell in Gang zu setzen bzw. die Notstromversorgung auf das 70-kV-Netz umzustellen. In der Zwischenzeit pumpte die noch intakte Hälfte der Notstromversorgung Wasser in den Reaktor. Zudem wurden Druckentlastung und Containment-Sprühsystem aktiviert. Der noch funktionierende Teil der Sicherheitseinrichtungen reichte in dieser Situation aus, um die Nachkühlung zu gewährleisten und so den abgeschalteten Reaktor unter Kontrolle zu halten. Insofern dürfte die Gefahr einer Kernschmelze nicht bestanden haben. Stark relativiert wird dieser Befund aber durch den Ausfall der Wasserstandsanzeige im Reaktor und anderer Kontrolleinrichtungen sowie durch den Umstand, daß genauso die ganze Notstromversorgung hätte ausfallen können.
Zu den Einzelheiten gibt es bisher nur lückenhafte und teilweise widersprüchliche Darstellungen. Eine auslösende Rolle spielte wohl ein Defekt an den Schutzeinrichtungen der Umspannanlage, die den Kurzschluß im externen Hochspannungsnetz nicht schnell genug stoppten. An den beiden überlasteten Generatoren in Forsmark 1 entstand dadurch für 300 Millisekunden ein starker Spannungsabfall, der nach ihrer Abkoppelung vom Hochspannungsnetz aus physikalischen Gründen für 1000 Millisekunden eine Überspannungsstoß hervorrief, den die Generatoren nun aber ins werkseigene Netz abgaben. Dort scheint diese Überspannung dann unter anderem die Gleich- und Wechselrichter von zwei der vier batteriegespeisten Anlagen zur unterbrechungsfreien Stromversorgung beschädigt zu haben, die mit den Dieselgeneratoren gekoppelt waren und bis zum Erreichen von deren voller Drehzahl die Notstromversorgung garantieren sollten. Der Überspannungsstoß könnte aber auch bereits dafür verantwortlich gewesen sein, daß Sekunden zuvor die Umschaltung auf das 70-kV-Reservenetz nicht gelang. Bei einer der beiden Turbinen war außerdem ein Frequenzmesser falsch montiert, was ebenfalls ein Grund dafür sein könnte, weshalb die Umschaltung auf das Reservenetz mißlang.
Größere Beachtung fand das Ereignis erst Anfang August, als der frühere Vattenfall-Mitarbeiter Lars-Olov Höglund gegenüber der in Uppsala erscheinenden Zeitung "Nya Tidning" davon sprach, daß der Prozeß nach nur sieben weiteren Minuten außer Kontrolle geraten wäre. Höglund war von 1984 bis 1986 in der Konstruktionsabteilung des Unternehmens als Chef für den Bereich Kernkrafttechnik des Kraftwerks Forsmark zuständig, dessen Blöcke 1 und 2 in den Jahren 1980 und 1981 in Betrieb gingen. In den 90er Jahren arbeitete er zudem als Berater für Forsmark und war dabei mit sicherheitsbezogenen Aufgaben betraut. Der Forsmark-Betreiber Vattenfall bestritt dagegen, daß das Risiko einer Kernschmelze bestanden habe, und zog die Kompetenz Höglunds in Zweifel. In Anrufen bei Zeitungen soll ein Vattenfall-Mitarbeiter sogar versucht haben, die Glaubwürdigkeit Höglunds zu erschüttern, indem er behauptete, dieser sei weder Konstruktionschef von Forsmark gewesen noch könne er als Experte in Sicherheitsfragen gelten. Höglund ist inzwischen als selbstständiger Berater in der Energiebranche tätig. Er soll mit Vattenfall schon etliche Prozesse geführt haben, weil er sich unter anderem bei der Vergabe von Aufträgen für Forsmark diskriminiert fühlte.