Wortlaut des Schreibens, das der hessische Wirtschaftsminister Alois Rhiel Anfang April 2005 an 16 Wirtschaftsminister von Bund und Ländern richtete, um die Forderung nach Nachbesserungen an dem vom Bundestag am 15. April verschiedeten Energiewirtschaftsgesetz zu begründen


 

Novellierung des Energiewirtschaftsrechts
Grundsätze der Preisfindung für Netznutzungsentgelte

Sehr geehrte Herren Kollegen,

die jetzt zur Beschlussfassung des Deutschen Bundestages von der Koalition vorgelegten Entwürfe für ein neues Energiewirtschaftsgesetz und die Netzzugangs- und -entgeltverordnungen zeigen ein vorsichtiges Eingehen auf Forderungen des Bundesrates. Sie bleiben aber leider noch weit hinter diesen zurück. Der Bund tut sich erkennbar schwer, einen entschiedenen Schritt zu einer wirkungsvollen und gleichzeitig einfach handhabbaren, Rechtssicherheit gewährleistenden Regulierung der Strom- und Gasnetze zu tun.

Soll der Wettbewerb in der leitungsgebundenen Energieversorgung ein Erfolg werden, benötigen wir eine durchgängige Ex-ante-Regulierung, Preisfindungsprinzipien für Netzentgelte, die überhöhte Erträge der Netzbetreiber zuverlässig ausschliessen und eine Anreizregulierung, die Kosteneinsparung honoriert. Keines dieser Elemente ersetzt das andere, auch wenn das jetzt gelegentlich suggeriert wird.

1. Genehmigungsverfahren für Netzentgelte ist unabdingbar

Es verwundert bereits, dass der Gesetzentwurf einen Prüfvorbehalt nur für die Anhebung der Stromnetzentgelte vorsieht. Es wird ohnehin erheblicher Anstrengungen bedürfen, neue Wettbewerber zum Auftritt im Gasmarkt zu bewegen, eine laxe Kontrolle der Gasnetzentgelte würde diesen wohl jeden Mut nehmen.

Aber bereits das vorgesehene Verfahren der Anzeige und Prüfung von Erhöhungen der Stromnetzentgelte bleibt unbefriedigend. Nicht allein Erhöhungen der Entgelte müssen geprüft werden, sondern auch das gegenwärtige Niveau muss auf den Prüfstand. Wenn es nicht gelingt, zügig eine massvolle Reduzierung der Netzentgelte zu erreichen, werden in weiten Teilen Deutschlands die Stromtarife für Endverbraucher steigen, weil das aktuelle Netzentgeltniveau bisher nicht in vollem Umfang in die Kalkulation der Endverbrauchertarife eingestellt wurde. Eine durchgän-gige behördliche Prüfung der Netzentgelte vor ihrem Inkrafttreten ist ein wichtiger Beitrag zur Entlastung der Netzentgelte – und damit der Energiepreise, weil im behördlichen Prüfverfahren Kostenbewertungs- und -zuordnungsspielräume ausgeschlossen werden können.

Der geordnete Weg der Ex-ante-Regulierung ist ein Genehmigungsvorbehalt und nicht – wie vom Gesetzentwurf vorgesehen – ein Anzeigeverfahren mit Untersagungsvorbehalt. Das An-trags- und Genehmigungsverfahren ist auch das richtige Instrument zur Umsetzung der Anreiz-regulierung, nicht die jetzt vorgesehene "Festlegung“ nach § 32 des Gesetzentwurfs. Damit würde auch das Verhältnis der Bedeutung von unternehmensindividueller Kostensituation, un-ternehmensübergreifendem Vergleich der Kosten und Preise ("Benchmarking") und Anreizregu-lierung klar: Im Genehmigungsverfahren ist in einem ersten Schritt die aktuelle Kostensituation zu prüfen. Der Abgleich der Kostensituation und der Entgeltforderung mit der vergleichbarer Netzbetreiber ist der zweite Schritt, der eine Korrektur der unternehmensindividuellen Kosten-betrachtung erlaubt und auch fordert. Daran muss sich – als dritter Schritt – die Prognose von Kostensenkungsmög-lichkeiten als Grundlage der Entscheidung über einen Preispfad als zentrales Element der Anreizregulierung anschliessen. Der so gefundene Preispfad muss Inhalt der Genehmigung werden.

Ich bitte Sie deshalb heute noch einmal, die Forderung des Bundesrates nach einer durchgängi-gen Ex-ante-Regulierung der Netzentgelte weiterhin zu unterstützen. Damit ein reibungsloser Start in dieses System gelingen kann, benötigen wir eine Übergangsfrist von wenigen Monaten, in denen Anträge erarbeitet und geprüft werden können. Der Mehraufwand für die Unternehmen ist minimal, da dort die Kalkulationen dort ohnehin erstellt und dokumentiert werden müssen.

2. Anreizregulierung ersetzt nicht Kostenprüfung

In der Öffentlichkeit ist hier und da der Eindruck entstanden, die jetzt vorgesehene Anreizregulierung zur Kostensenkung ersetze in der Praxis die sorgfältige Bestimmung eines Kostenbegriffs und auch die Kostenprüfung. Wir sollten diesem Eindruck entschieden entgegen treten, weil er die Gefahr birgt, dass der Kostendefinition und -prüfung nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zukommt.

Anreizregulierung kann sich ihrem Wesen nach nur auf mögliche Effizienzfortschritte beziehen. Sie setzt an einem bestimmten Ausgangsniveau der Kosten (und damit der Netzentgelte) an, das durch die Kostenrechnungsregeln definiert ist. Die dann folgende Prognose möglicher Effizienzgewinne beschränkt sich ihrem Wesen nach auf die vom Unternehmen gestaltbaren Kosten. Sie korrigiert nicht falsch gewählte Kostenrechnungsansätze, z.B. die Regeln über Abschreibung und Verzinsung. Nach Ablauf der Regulierungsperiode (2 bis 5 Jahre) muss notwendig wieder eine Überprüfung des tatsächlich erreichten Kostenniveaus stattfinden, selbstverständlich anhand der Kostenrechnungsgrundsätze der Netzentgeltverordnungen. Sowohl das Netzentgeltniveau als auch das Ertragsniveau der Netzbetreiber werden deshalb immer ganz wesentlich von der Kostendefinition und -prüfung bestimmt bleiben. Werden die Massstäbe dafür falsch gesetzt, kann auch die beste Anreizregulierung eine wettbewerbsverträgliche Höhe der Netzentgelte nicht sichern.

Aus diesem Grunde unterstütze ich zunächst nachdrücklich den Vorschlag, den Herr Kollege Junghanns in seinem Schreiben vom 13.1.2005 unterbreitet hat: Die Kosten-Kalkulationsmethode für Netznutzungsentgelte sollte nicht im Gesetz festgelegt, sondern eine sachgerechte Konkretisierung des Kostenbegriffs den Netzentgeltverordnungen überlassen werden.

Wir sollten die Diskussion um die Kostenkalkulation der Netzentgelte sodann nicht auf eine Auseinandersetzung um die Methoden "Realkapitalerhaltung" versus "Nettosubstanzerhaltung" verkürzen. Zwar bin ich unverändert der Auffassung, dass eine marktgerechte Verzinsung nominal eingesetzten Kapitals der richtige Weg ist, die Substanz der Netze zu sichern. Unter den Bedingungen der Nettosubstanzerhaltung wird es sehr schwer werden, stets ausreichend Kapital für umfangreiche Neuinvestitionen zu akquirieren, weil der Kapitalmarkt marktgerechte Zinsen auch in den ersten Jahren einer Investition fordert. Ich sehe nicht, dass der – inflationsbereinigte – niedrige "Realzins" des Nettosubstanzkonzepts diesen Ansprüchen genügt; ebenso wenig halte ich es für erforderlich, alte, bilanziell weitgehend abgeschriebene Anlagen in sehr grosszügiger Weise nach dem Tagesneuwertkonzept zu verzinsen und abzuschreiben.

Jenseits solcher Auffassungsunterschiede über die Eignung von Kostenrechnungskonzepten – und weitgehend unabhängig von dieser Grundsatzentscheidung – sollten wir wichtige Parameter des Kostenrechnungskonzepts noch einmal auf den Prüfstand stellen, damit die Regulierung nicht über das wirklich notwendige Ertragsniveau hinausgeht. Ich würde mich freuen, wenn mit den Länderkollegen über die nachfolgend genannten Kritikpunkte Einvernehmen bestünde:

a) Eigenkapitalzinssatz

Zu Recht weist Herr Kollege Junghanns darauf hin, dass der Kalkulationszinssatz in engem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Risiko der Netzbetreiber gesehen werden muss. Unter den Bedingungen der Verbändevereinbarung Strom sind stets alle Kosten eines Netzbetreibers auf die Netznutzer umgelegt worden; das unternehmerische Risiko ist von den Preis- und Kartellaufsichtsbehörden daher zutreffend für sehr gering erachtet worden. Soweit die Entwürfe der Netzentgeltverordnungen weiterhin von dieser Methodik geprägt sind, muss der Risikozuschlag im Zinssatz entsprechend gering ausfallen.

Dem ersten Anschein nach stellen sich die in den Entwürfen der Netzentgeltverordnungen vorgesehenen Zinssätze von 6,5 % für Strom- und 7,8 % für Gasnetze vergleichsweise moderat dar. Bei der Bewertung ist aber zu berücksichtigen, dass sie auf tagesneuwertindizierte Anlagenrestwerte angewandt werden sollen und den Netzbetreibern als zusätzlicher Ertrag die Mehrabschreibungen auf den Tagesneuwert der eigenfinanzierten Anlagegüter zur Verfügung stehen. Daraus resultiert ein Gesamtertrag, der – bezogen auf das nominal eingesetzte Kapital – in der Nähe von 10 % liegt. Ich teile die Zweifel von Herrn Kollegen Junghanns, ob dies eine für vergleichsweise risikofreie Anlagen vom Kapitalmarkt tatsächlich geforderte Rendite ist.

Dies muss zügig überprüft werden, so dass ein empirisch besser gesicherter Zinssatz schon für die erstmals nach dem neuen Recht ermittelten Netznutzungsentgelte wirksam wird.

b) Bestimmung des Anlagenrestwertes

Einer zutreffenden Ermittlung des zu verzinsenden Restwertes der Anlagegüter kommt ausserordentlich hohe Bedeutung zu. Diesem scheinbar nachrangigen, für die Gesamtbewertung aber eminent wichtigen Detail der Verordnungsentwürfe ist meines Erachtens bisher zu wenig Beachtung geschenkt worden. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran erinnern, dass in den vergangenen Jahren der Stromtarifkalkulation in vielen Bundesländern erheblich kürzere Abschreibungsdauern zugrunde gelegt worden sind als in den Verbändevereinbarungen und jetzt auch in den Netzentgeltverordnungen vorgesehen. Der von den Versorgungsunternehmen erzielte Mittelrückfluss müsste demnach bereits deutlich höher gewesen sein als nach den Rechenregeln der Verordnungsentwürfe. Die Restwerte wären also entsprechend niedriger anzusetzen als bisher nach den Verbändevereinbarungen errechnet. Zu bedenken ist auch, dass die Preisbildung für viele Netzdienstleistungen (z.B. Transportnetze für Strom und ganz allgemein die Gasnetze) in der Vergangenheit überhaupt nicht nach diesen Kostenrechnungsprinzipien erfolgt ist.

Die Herleitung von Anlagenrestwerten aus jahrzehntelanger Dokumentation der Investitionen sowie kalkulatorischer Abschreibung und Verzinsung dürfte deshalb jedenfalls nicht bundeseinheitlich, in vielen Fällen mangels entsprechender Dokumentation sogar überhaupt nicht möglich sein.

Zwar ist weithin akzeptiert, dass die niedrigen bilanziellen Restwerte der Anlagegüter zur Wertbetimmung im Rahmen der Regulierung nicht geeignet sind, weil die vergleichsweise kurzen handels- und steuerrechtlichen Abschreibungsdauern den tatsächlichen Wertverzehr der Anlagegüter nicht zutreffend widerspiegeln. Es scheint mir andererseits aber nicht zulässig, die Restwerte nach kalkulatorischen Methoden so grosszügig zu bestimmen, als seien die Abschreibungen über die bisherige Lebensdauer der Anlagegüter hinweg stets nur auf der Basis sehr langer Nutzungsdauern berechnet worden. Eine solche Fiktion würde zu einer ungerechtfertigten und kostentreibenden Aufblähung der Restwerte und damit zu sehr hohen Belastungen der Netzentgelte führen.

Der Verordnungsgeber muss deshalb die Frage nach einer angemessenen Bestimmung der Restwerte noch einmal prüfen. Die Verordnungen dürfen keine Zweifel daran lassen, wie die Restwerte der Anlagegüter zu ermitteln sind. Fehler, die in dieser Frage jetzt gemacht werden, können später kaum noch korrigiert werden. Ich halte es deshalb auch für regulierungstheoretisch nicht zulässig, Spannen kalkulatorischer Abschreibungsdauern zur Wahl der Netzbetreiber zu stellen, wie dies jetzt in den Anlagen zu den Netzentgeltverordnungen vorgesehen ist. Vielmehr ist eine eindeutige Festlegung von Abschreibungsdauern geboten. Dabei sollte jedenfalls die Untergrenze der in den Tabellen genannten Werte nicht überschritten werden. Für den Ansatz längerer Nutzungsdauern – und damit höherer Restwerte – sollte der Netzbetreiber beweispflichtig gemacht werden.

Ich erlaube mir, dem Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit eine Kopie dieses Schreibens zu übersenden mit der Bitte, dem Bundesrat Verordnungsentwürfe zuzuleiten, die diese Bedenken und Vorschläge berücksichtigen. Ich sehe die Bundesregierung in der Pflicht, die konkreten Auswirkungen von Kostenrechnungsprinzipien auf die Energiepreise sorgfältiger zu prüfen als dies bisher geschehen ist. Dies gilt besonders auch für die Gaspreise; daran hat vor einiger Zeit bereits Herr Kollege Dr. Wiesheu erinnert.

Ich denke, dass es möglich sein wird, eine Einigung unter den Ländern, aber auch mit der Bundesregierung über angemessene Kalkulationsprinzipien herbeizuführen. Dies sollte im Rahmen der Verordnungen und nicht des Gesetzes geschehen. Aus meiner Sicht ist auch eine Konkretisierung der Kostenrechnungsregeln in den Netzentgeltverordnungen nicht ausgeschlossen, die wesentliche Elemente der Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarungen und auch von Kostenrechnungsgrundsätzen der Stromtarifaufsicht aufnimmt.

Mit freundlichen Grüssen,

gez. Dr. Alois Rhiel