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Im Dezember 2001 unterzeichneten die Verbände von Stromwirtschaft, Industrie und Gewerbe eine neue Vereinbarung, welche die zum Jahresende auslaufende zweite Verbändevereinbarung ersetzte. Um die Kontinuität zu betonen, wurde sie als Weiterentwicklung der zweiten Verbändevereinbarung bzw. als „VV II plus“ bezeichnet. Sie vereinfachte den Versorgerwechsel für Privatkunden weiter und erleichterte den kurzfristigen Stromhandel. Die Verbraucher konnten seitdem mit den Stromlieferanten einen „Alles-inbegriffen-Vertrag“ schließen, der sowohl die Stromlieferung als auch die Netznutzung umfaßte. Dadurch entfiel für den Privatkunden der umständliche Abschluß eines Netznutzungsvertrags, wie er in der Vergangenheit von den Netzbetreibern verschiedentlich verlangt worden war. Die Aufteilung Deutschlands in zwei Handelszonen, die schon bisher nur auf dem Papier stand, tauchte in der dritten Vereinbarung nicht mehr auf.
Der wichtigste und bald umstrittenste Punkt der Neuregelung war die Überarbeitung der Preisfindungsprinzipien für die Höhe der Netznutzungsentgelte. Die verbändeinterne Einigung über den neuen Kalkulationsleitfaden dauerte bis Ende April 2002 und wurde der VV II plus nachträglich als neugefaßte Anlage 3 beigefügt.
Ferner wurde mit der VV II plus das sogenannte Vergleichsmarktkonzept umgesetzt, das bereits in den Preisfindungsprinzipien der alten Fassung erwähnt war, aber bisher nur auf dem Papier stand. Dieses Vergleichsmarktkonzept sollte es ermöglichen, die Angemessenheit von Netznutzungsentgelten zu beurteilen. Es funktionierte so ähnlich wie „Mietspiegel“, die für Wohnungen bestimmter Lage und Ausstattung den jeweiligen Durchschnittspreis ermitteln. Beim Vergleich mit den so ermittelten Durchschnittspreisen begründen wesentlich höhere Mietforderungen den Verdacht, daß sie unangemessen bzw. sogar Wucher sein könnten. Allerdings wird durch ein solches Vergleichsmarktkonzept das generelle Preisniveau und dessen sukzessive Anhebung nicht in Frage gestellt. Insofern war das Vergleichsmarktkonzept wenig geeignet, den Vorwurf der neuen Stromanbieter und der Kartellbehörden zu entkräften, daß die Netznutzungspreise generell überhöht seien.
Das Vergleichsmarktkonzept ermöglicht es aber zumindest, die von den Netzbetreibern verlangten Netznutzungsentgelte auf einer realistischen Basis miteinander zu vergleichen. Die ermittelten Daten wurden seit September 2002 vom Verband der Netzbetreiber (VDN) im Internet veröffentlicht. Sie basierten auf den Angaben der Netzbetreiber gegenüber dem VDN und wurden fortlaufend aktualisiert. Zum einen gab die Internet-Datenbank des VDN Auskunft über die Höhe der Netznutzungsentgelte, wie sie von den einzelnen Netzbetreibern verlangt werden. Zum anderen teilte sie jeden Netzbereich eines Netzbetreibers einer von insgesamt 18 Strukturklassen zu. Schließlich errechnete sie für jede dieser Strukturklassen die Zahl der Netzbetreiber und den Mittelwert der verlangten Netznutzungsentgelte. Anhand dieser Angaben ließ sich erkennen, ob ein Netzbetreiber mit seiner Entgeltforderung über oder unter dem Durchschnitt sämtlicher Netzbetreiber liegt, die vergleichbare Investitions- und Betriebskosten für ihre Netze haben.
Wenn die Netznutzungsentgelte innerhalb einer Strukturklasse zum knappen oberen Drittel (30 Prozent) der erfaßten Netzentgelte gehörten, konnten die Netznutzer vom Netzbetreiber verlangen, daß er die Angemessenheit seiner Forderung begründete. Die Begründung hatte unter Berücksichtigung des Kalkulationsleitfadens und Angabe von Kalkulationsgrundlagen gegenüber einer Schiedsstelle zu erfolgen. Die Schied-stelle überprüfte dabei lediglich die formale Einhaltung der in der Verbändevereinbarung festgelegten Regeln, die den Netzbetreibern bei der Kalkulation der Netznutzungsentgelte viel Spielraum ließen. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, daß sie die geforderten Entgelte für nicht gerechtfertigt halten sollte, ergaben sich daraus keinerlei Rechtsansprüche für den Netznutzer oder Sanktionen für den Netzbetreiber. Trotz einer Unzahl von Konflikten um die Höhe der Netznutzungsentgelte spielte das Schlichtungsverfahren deshalb praktisch keine Rolle.
Der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) hat Ende 2002 die erwähnten Kriterien des Vergleichsmarktkonzepts angewendet und festgestellt, daß demnach bei Hochspannung mindestens 28 Prozent, bei Mittelspannung 9 Prozent und bei Niederspannung 13 Prozent der Netzbetreiber zu teuer waren bzw. dem Begründungszwang für ihre Forderungen unterlagen.
Der Bundesverband der Energie-Abnehmer (VEA) stellte das Vergleichsmarktkonzept überhaupt in Frage, weil es von seiner Konstruktion her unfähig sei, überhöhte Netznutzungsentgelte zu verhindern. Stattdessen sei eine Regulierungsinstanz zur Festsetzung der Netznutzungsentgelte erforderlich. Den VEA-Angaben zufolge betrug Anfang 2003 das durchschnittliche Netznutzungsentgelt für Mittelspannung 2,95 Cent/kWh und für Niederspannung 6,18 Cent/kWh. In den letzten sechs Monaten zuvor seien die Mittelspannungspreise lediglich um 0,03 Cent/kWh und damit „kaum spürbar“ gesunken. „Erschreckend“ seien die gravierenden Preisunterschiede zwischen den einzelnen Netzbetreibern. Allgemein seien die Preise im Norden höher als im Westen und Süden. Die Einteilung der Stromnetze in 18 Strukturklassen habe zu keinerlei Transparenz geführt, sondern nur den Eindruck verfestigt, daß die Entgelte „im Einzelfall willkürlich festgelegt“ würden.
Den Kern des Netznutzungsentgelts, wie es nach der Verbändevereinbarung errechnet wurde, bildeten die Kosten für Anschaffung und Instandhaltung des Netzes einschließlich der jeweils anfallenden Systemdienstleistungen wie Frequenzhaltung, Spannungshaltung, Versorgungswiederaufbau und Betriebsführung. Die so ermittelten Jahresnetzkosten dividierte der Netzbetreiber durch die Jahreshöchstlast in Kilowatt, d.h. die höchste Leistungsentnahme aus dem Netz, die im Laufe eines Jahres auftritt. Auf diese Weise erhielt er den Jahresleistungspreis in Mark oder Euro pro Kilowatt. Dieser wurde mit dem Gleichzeitigkeitsgrad multipliziert.
Das so ermittelte Netznutzungsentgelt erhöhte sich um eventuell anfallende Umspannungskosten, die auf dieselbe Weise ermittelt wurden. Der Gleichzeitigkeitsgrad entfiel dabei allerdings bzw. wurde mit 1 angesetzt.
Das Netznutzungsentgelt erhöhte sich weiter dadurch, daß der Netzbetreiber seine eigenen Jahresnetzkosten um das Netznutzungsentgelt erhöhte, die er an den vorgelagerten Netzbetreiber gezahlt hatte. Auf diese Weise entstand eine Kostenwälzung, welche die Kosten vorgelagerter Netze und Umspannungen an die nachgeordneten Netzebenen anteilig weitergab. Die nachgeordneten Netzbetreiber wurden dabei wie Netznutzer behandelt.
Bereits in der 1. Verbändevereinbarung tauchte der „Gleichzeitigkeitsgrad“ als Kriterium für die Höhe der Netznutzungsentgelte auf. Gemeint ist damit folgendes: Wenn alle angeschlossenen Verbraucher eines Netzes die ihnen zur Verfügung stehende Leistung im selben Zeitpunkt beanspruchen würden, bräche das Netz unter Überlast zusammen. In der Praxis schalten aber nie alle Verbraucher ihre Geräte gleichzeitig ein. Die Netzkapazität kann also geringer sein als die Summe der im Einzelfall benötigten Maximalleistungen der Verbraucher. Der Netzbetreiber honoriert diesen Umstand bei der Berechnung des Entgelts für die Netznutzung, indem er den Jahresleistungspreis mit dem „Gleichzeitigkeitsgrad“ multipliziert. Darunter versteht man jenen Leistungsanteil, den ein Kunde zum Zeitpunkt der höchsten Netzbelastung im Vergleich zu seiner eigenen Jahrshöchstlast erreicht. Wenn er also eine maximale Leistung von 1000 Kilowatt bezogen hat, die er zum Zeitpunkt der Jahreshöchstlast voll ausnutzt, ergibt sich der Gleichzeitigkeitsgrad 1. Bezieht er dagegen zum Zeitpunkt der höchsten Netzbelastung nur 900 Kilowatt, beträgt sein Gleichzeitigkeitsgrad 0,9. In der Praxis wird der Gleichzeitigkeitsgrad über die sogenannten Vollbenutzungsstunden nach einem statistischen Ansatz ermittelt. Er wird dann mit dem Jahresleistungspreis multipliziert und ergibt so das Netznutzungsentgelt. Je niedriger der Gleichzeitigkeitsgrad ist, desto geringer wird das Netznutzungsentgelt. Der Gleichzeitigkeitsgrad im Sinne der Verbändevereinbarung ist also eine Art Bonus, den der Netzbetreiber allen Kunden gewährt, die ihre Höchstlast nicht konstant in Anspruch nehmen.
Der Gleichzeitigkeitsgrad hat naturgemäß erheblichen Einfluß auf die Höhe des Netznutzungsentgelts. Laut Anlage 4 der zweiten Verbändevereinbarung wurde er „empirisch für den jeweiligen Netzbereich bestimmt und dem jeweiligen Netzkunden auf Wunsch plausibel dargelegt“. Die seit Juli 2005 geltende Stromnetzentgeltverordnung regelt die Details des Gleichzeitigkeitsgrades in § 16 in Verbindung mit der Anlage 4 zur Verordnung.