Diese Grafik zeigt das Stärkeverhältnis der Parteien bei den zehn Reichtagswahlen von 1871 bis 1903 im Wahlkreis Mannheim-Schwetzingen-Weinheim. Das Sozialistengesetz von 1878 bis 1889 kann den Aufstieg der Sozialdemokratie offensichtlich nicht verhindern. Da der Reichstag nur bescheidene Mitspracherechte besaß, dürfen die Wahlergebnisse allerdings nicht im Sinne einer allmählichen Erringung der Macht mißverstanden werden. Sie waren vor allem als Stimmungsbarometer aufschlußreich.

SPD und Sozialistengesetz

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel in Eisenach ins Leben gerufen. Sie bedeutet die politische Verselbständigung der Arbeiterschaft, die bis dahin in die kleinbürgerliche demokratische Bewegung eingebunden war. Die neue Partei nimmt vor allem hinsichtlich der "sozialen Frage" eine andere Haltung ein. Die kleinbürgerlichen Demokraten wollen die Arbeiterschaft durch soziale Reformen und Bildungsmaßnahmen in die bürgerliche Gesellschaft integrieren. Dagegen fordern die Sozialdemokraten die "Abschaffung aller Klassenherrschaft" durch Beseitigung der "ökonomischen Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten" als der "Grundlage der Knechtschaft in jeder Form". Ideologische Grundlage dieser Forderung ist die von Marx und Engels eröffnete Sichtweise auf die Gesellschaft. Gleichwohl bleibt auch für die Sozialdemokraten die "politische Freiheit [. . .] die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen", so daß sich eine weitgehende Identität ihrer politischen Forderungen mit denen der kleinbürgerlichen Demokraten ergibt. Noch im Gothaer Programm von 1875 stimmen nicht weniger als sieben Forderungen wörtlich mit dem Programm der kleinbürgerlichen "deutschen Volkspartei" überein. Für die Sozialdemokraten sind demokratische Forderungen wie die nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht, nach Gesetzgebung und Rechtsprechung durch das Volk jedoch kein Endziel, sondern Voraussetzung für die demokratische Umwälzung der sozialen Verhältnisse.

Die ersten Jahrzehnte der Sozialdemokratie stehen im Zeichen der ideologischen Emanzipation vom (Klein-)Bürgertum. Hierzu gehört auch die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Erbe der Lassalleaner, die sich 1875 in Gotha mit den "Eisenachern" vereinigen. Auf der abstraktesten Ebene entspricht dem die Zurückweisung des Vulgärmaterialismus, wie ihn etwa Ludwig Büchner in "Kraft und Stoff" propagierte, durch den dialektischen Materialismus. Eine ganze Reihe programmatischer Schriften von Marx und Engels, von der "Kritik des Gothaer Programms" bis zum "Anti-Dühring", verdanken ihre Entstehung dieser Auseinandersetzung.

Die Fortsetzung dieser politisch-ideologischen Offensive wird 1878 durch das Sozialistengesetz unterbunden. Die Sozialdemokratie verliert ihre gesamte legale Organisation und den damit verbundenen Propagandaapparat. Das 1878 verabschiedete Sozialistengesetz ist indessen kein reiner, tyrannischer Willkürakt Bismarcks, sondern kommt mit der Billigung durch die Reichstagsmehrheit und die Nationalliberalen als Repräsentanten des Großbürgertums zustande. Bismarck schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Er zwingt die Nationalliberalen, dem antiliberalen Sozialistengesetz zuzustimmen und sich damit zur grundsätzlichen Verbundenheit von großbürgerlichen und feudalen Klasseninteressen zu bekennen. Auf der anderen Seite eliminiert er die Arbeiterbewegung als die einzige überzeugende Kraft einer "Revolution von unten", die seine "Revolution von oben" gefährden könnte, aus dem legalen politischen Kräftefeld.

Politischer und ideologischer Zwang gehen dabei Hand in Hand. Bismarck legt sein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt vor. Er wartet vielmehr einen geeignet erscheinenden Anlaß ab, um mittels der Presse und anderer Instrumente eine Art Massenhysterie zu erzeugen. Den ersten Anlaß bieten die Schüsse, die der Klempnergeselle Hödel am 11. Mai 1878 auf den Kaiser abfeuert. Hödel ist indessen ein so ausgemachter Wirrkopf und sein Attentat so dilettantisch, daß Bismarcks Entwurf für ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie im Reichstag mit 251 gegen 57 Stimmen abgelehnt wird. Bezeichnend für das Widerstreben der bürgerlichen Parteien ist die Bitte Rudolf Virchows, ihm den Schädel des hingerichteten Wirrkopfs für anatomische Untersuchungen zu überlassen. Außerdem unterliegt es keinem Zweifel, daß der Lumpenproletarier Hödel, der sich abwechselnd bei den Sozialdemokraten, den Anarchisten, den Nationalliberalen und den "Christlich-Sozialen" Stoeckers anzubiedern versuchte, allein von den Sozialdemokraten abgewiesen und ausgeschlossen worden war.

Es bedarf somit eines anderen Anlasses, um eine Massenhysterie zu erzeugen. Er findet sich neun Tage nach der Ablehnung des ersten Ausnahmegesetzes durch den Reichstag. Am 2. Juni 1878 schießt ein Dr. Karl Nobiling mit einer Schrotbüchse auf den Kaiser und verwundet ihn schwer. Der Attentäter richtet anschließend die Waffe gegen sich selbst und stirbt am 10. September. Nobiling können keine Verbindungen zur Sozialdemokratie unterstellt werden. Er ist vielmehr eine verkrachte bürgerliche Existenz. Dennoch bringt der offfiziöse "Telegraph" noch am Abend des Attentats eine amtliche, in Wirklichkeit erfundene Mitteilung, wonach Nobiling bei einer gerichtlichen Vernehmung ausgesagt haben soll, daß er sozialistischen Tendenzen huldige. Die Massenhysterie erfaßt nunmehr nicht bloß den konservativen Mob, sondern sämtliche bürgerlichen Parteien. Die Nationalliberalen bieten sich an, dem Ausnahmegesetz über die parlamentarischen Hürden zu helfen. Aber Bismarck will mehr: Er löst den Reichstag auf und schreibt Neuwahlen aus. Für die Wahlzeit verhängt Bismarck ein "System des weißen Schreckens", mit dem das Bürgertum vollends um seine Sinne und zu schmählichsten Bekundungen seiner Loyalität gegenüber dem Regime gebracht wird.

Franz Mehring berichtet von einer "Denunziantenpest", die bis in die Familien drang: "Der Gatte war nicht mehr vor der Gattin, der Vater nicht mehr vor dem Sohne sicher. Ein beliebter Trick der Denunzianten bestand darin, in Arbeiterversammlungen oder in Wirtshäusern, wo Arbeiter verkehrten, plötzlich ein Hoch auf den Kaiser auszubringen; wer dann nicht aufstand oder nicht das Haupt entblößte, war wegen Majestätsbeleidigung geliefert."

Mit solchen "Delirien" (Mehring) bewirkt Bismarck zunächst die Reduzierung des Stimmenanteils von Liberalen und Sozialdemokraten bei den angesetzten Reichstagswahlen. Von dieser politischen Basis aus kann er die Nationalliberalen völlig an die Wand drücken. Sie stimmen jetzt einem noch weit schärferen Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu. Das Gesetz wird am 19. Oktober 1878 mit 221 gegen 49 Stimmen angenommen. Das Stimmenverhältnis hat sich also gegenüber der Abstimmung über die erste, mildere Fassung des Ausnahmegesetzes gerade umgekehrt. Dabei hat sich objektiv gar nichts weiter getan, als daß eine verkrachte bürgerliche Existenz auf den Kaiser schoß. Entscheidend war eben nicht der objektive Tatbestand, sondern das, was Bismarck und die Medien daraus zu machen verstanden. Daß ihnen die Erzeugung solcher "Delirien" gelungen ist, legt Zeugnis ab vom Geisteszustand eines Bürgertums, das seine ursprünglichen demokratischen und liberalen Ideale einer blinden Autoritätsgläubigkeit und Untertanenmentalität zu opfern begonnen hatte.

Im Grunde gleichen beide Attentate auf den Kaiser demjenigen, das der Bürgermeister Tschech 1844 auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. verübte. - Damals kein Anlaß zur Massenhysterie, sondern für ein demokratisches Spottlied, in dem das Mißlingen des Attentats ironisiert wurde: "Hatte je ein Mensch so'n Pech, wie der Bürgermeister Tschech, daß er diesen dicken Mann, auf zwei Schritt nicht treffen kann!"

Bismarcks Vorgehen demonstriert, wie politischer und ideologischer Zwang sich gegenseitig bedingen und durchdringen. Gegenüber einer Weigerung der Reichstagsmehrheit wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als erneut die Verfassung zu brechen und die Sozialdemokratie mit brutaler, durch nichts als die reine Verfügung über Militär, Polizei und Justiz legitimierter Gewalt zu unterdrücken. Inzwischen ist aber das politische und ideologische Rückgrat der bürgerlichen Parteien gebrochen. Sie haben sich auf eine zwischen Aufbegehren und Fügsamkeit schwankende Loyalität gegenüber dem Regime eingelassen. Sie haben ideologisch ihren Tribut gezollt: Recht und Ordnung, das Reich, die Nation, der Kaiser und sein Regime werden sich in einem dumpfen Nationalismus immer ähnlicher. Diese ideologische Loyalität vermag Bismarck als politisches Handeln einzufordern. Den willkommenen Anlaß bietet, daß auf den Kaiser als die charismatische Repräsentationsfigur des Systems geschossen wurde. Das erste Mal wollen und können sich die Liberalen dem Ansinnen noch entziehen, weil der Kaiser nicht verletzt wurde. Dafür werden sie um so stärker in die Pflicht genommen, nachdem ein zweites Attentat erfolgte und der Kaiser getroffen wurde. Bismarck schlägt ihnen die Ideologie, auf die sie sich eingelassen haben, regelrecht um die Ohren. Anstatt die nunmehr signalisierte Zustimmung zum Ausnahmegesetz anzunehmen, löst er den Reichstag auf und verbessert im Zuge von Neuwahlen seine parlamentarische Basis zu Lasten der Liberalen. Gestützt auf diesen politischen Fakt kann er den Reichstag nunmehr ein noch weit schärferes Ausnahmegesetz beschließen lassen. Bei alledem spielt keine Rolle, daß es keine Verbindung zwischen den Attentätern und der Sozialdemokratie gibt. Anstatt auf diesem Fakt zu insistieren, wie es rechtsstaatlichem Verständnis entspräche, akzeptieren die Liberalen das konservative Horrorgemälde eines terroristischen Sumpfes mit der Sozialdemokratie als Mittelpunkt. Uneingestanden mag bei den Liberalen die Hoffnung eine Rolle spielen, sich eines politischen Konkurrenten zu entledigen. Offen zum Ausdruck kommt dies freilich nicht. Sichtbar wird lediglich eine Massenhysterie, die alle auftauchenden Ungereimtheiten und Widersprüche hingelegt.

Das Ausnahmegesetz gegen die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" ist zunächst auf drei Jahre befristet. Es wird aber mehrfach vom Reichstag verlängert. Insgesamt befindet sich die Sozialdemokratie zwölf Jahre lang in einem Zustand der Illegalität. Das Gesetz kann zwar nicht verhindern, daß die Stimmenzahl für die - der Bevölkerung wie der Polizei als solchen bekannten - legalen Kandidaten der Sozialdemokratie bei den Wahlen wächst. Es behindert aber sehr wohl die propagandistische Arbeit der Partei nach außen und auch die innerparteiliche Auseinandersetzung, wie sie in Marxens Kritik am Gothaer Programm bzw. an der lassalleanischen Erblast der Partei zum Ausdruck kam. Die allgegenwärtige Verfolgung und Schikanierung der Parteianhänger bietet zu solchen Auseinandersetzungen weder Zeit noch Gelegenheit. Insofern hinterläßt das Gesetz sicherlich seine Spuren in der Partei.

Hinzu kommt, daß Bismarck die Taktik von "Peitsche und Zuckerbrot" (Mehring) auch gegenüber der Arbeiterbewegung anwendet. Hatte er zuvor die Bourgeoisie in ihrem politischen Machtanspruch gedeckelt, gleichzeitig aber ökonomische Zugeständnisse gemacht, so verbindet er jetzt die Unterdrückung der Sozialdemokratie mit sozialen Zugeständnissen an die Arbeiterschaft. Drei Jahre nach Erlaß des Sozialistengesetzes wird in einer kaiserlichen Botschaft eine Sozialgesetzgebung angekündigt. 1883 kommt zunächst die Krankenversicherung und 1884 die Unfallversicherung für Arbeiter zustande. 1889 folgt die Alters- und Invalidenversicherung. Damit verfolgen die herrschenden Klassen das erklärte ideologische Ziel, "den besitzlosen Klassen der Bevölkerung durch erkennbare direkte Vorteile die Überzeugung nahezulegen, daß der Staat ihnen ebenso diene wie den bemittelten Klassen" (Meyers Konversations-Lexikon von 1902). Und sicher bleibt dieser Versuch, trotz der anfänglichen Zurückweisung solcher "Verbesserungen der Armenpflege" (Mehring), auf die Dauer nicht erfolglos.

Das Sozialistengesetz erweist sich allerdings als eindeutiger Fehlschlag, soweit es die Zerschlagung der Sozialdemokratie und ihrer Wählerschaft zum Ziele hatte. 1889 scheitert ein von Bismarck nur halbherzig betriebener Versuch zur Verewigung des Ausnahmegesetzes im Reichstag. Am 20. Februar des folgenden Jahres erringt die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen von allen Parteien die meisten Wählerstimmen: Über 1,4 Millionen. Dieses eindrucksvolle Plebiszit kann - ungeachtet der autoritären Staatsverfassung - von den herrschenden Klassen nur um den Preis der "Verrottung" (Mehring) der eigenen Herrschaft ignoriert werden. Hinzu verstrickt sich Bismarck in einen Streit mit dem neuen Kaiser, der mit seiner Entlassung endet. Noch im gleichen Jahr läuft das Sozialistengesetz aus, ohne erneuert zu werden.

Der Abgang Bismarcks wurde nur von der Sozialdemokratie bejubelt. Für das deutsche Bürgertum war der ehemalige Erzfeind der Liberalen längst zu einer übermächtigen Vater-Figur geworden, deren Größe seine eigene Erbärmlichkeit bedingte und ergänzte. Der Psychologe und spätere DDP-Politiker Willy Hellpach schrieb aus der Sicht des Jahres 1905 von einem "furchtbaren Angstparoxysmus", der die deutsche Bourgeoisie beim Abgang ihres Zuchtmeisters befallen habe: "Mit Otto von Bismarck schien das letzte Symbol der alten geschlossenen Kraft dahinzustürzen. Man muß den Ton verstehen: es ist ein Aufschrei des Schreckens, der Angst, ein Aufschrei der völligen Verlassenheit, der angesichts dieses Ereignisses die bürgerlichen Schichten der Nation durchzittert. [. . .] Gott längst verloren; nun auch der verloren, der wie ein Mittler zwischen den Deutschen und ihrem Geschick gewaltet hatte . . .".

Die bürgerlichen Ängste beim Abgang Bismarcks waren nicht unbegründet, wie sich spätestens 24 Jahre später herausstellen sollte. Dem preußisch kujonierten Bürgertum waren mit den freiheitlichen Regungen auch politischer Verstand und Augenmaß ausgetrieben worden. Der so gezüchtete Untertanengeist verlangte nach einer überlegenen Führung, die das hatte, woran es ihm selber gebrach. Fatalerweise war aber jene Klasse, deren Geschäfte Bismarck so klug besorgt hatte, gar nicht fähig, sein Erbe fortzuführen. Kaiser Wilhelm II. glich in seiner bombastisch-hohlen Art mehr einem bürgerlichen Parvenü als einem kühl wägenden Sachwalter feudalen Standesinteresses im bürgerlichen Zeitalter. Er verkörperte dieselbe Borniertheit wie der durchschnittliche Bourgeois. So verbanden sich die alten, abgewirtschafteten Klassen mit einer Bourgeoisie, deren Emanzipation auf halbem Wege stehengeblieben war. Aus dem liberalen Trauma entstand ein irrationaler Bismarck-Kult, der nach dem Sturz des Kaisers in die kleinbürgerliche Sehnsucht nach dem charismatischen "Führer" mündete.