Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Das Prinzip Hoffnung

Über den Zusammenhang von Nostalgie und Utopie

Unbeantwortet blieb bisher die Frage, wie Nostalgie psychologisch zu erklären sein könnte. Es wurde lediglich angedeutet, daß Nostalgie die Funktion von Ersatz-Utopie hat und daß zwischen beiden geistigen Haltungen eine Art Wahlverwandtschaft besteht: Sie gleichen kommunizierenden Röhren des Prinzips Hoffnung, wobei die Säule der Nostalgie um so höher steigt, je mehr die Säule der Utopie unter Druck gerät.

Die Nostalgie ist in diesem Sinne ein massenpsychologisches, ein ideologisches Phänomen. Sie ist gesellschaftlich bedingt. Sie ist keine individuelle, sondern eine kulturelle Erscheinung.

Allerdings gibt es auch individuelle Formen der Nostalgie, die schon deshalb nicht aus dem Auge verloren werden sollten, weil sie mit der zugrundeliegenden kulturellen Nostalgie in mannigfacher Beziehung stehen. Dazu gehört das Heimweh, das erstmals im 16. Jahrhundert auftauchte und von dem Mediziner Hofer als die neue Krankheit nostalgia beschrieben wurde. Mit dem Heimweh kündigt sich die Säkularisierung und gleichzeitig die Nostalgisierung von Utopien an, die bis dahin nur im religiös-chiliastischen Gewand auftraten. Es ging der Nostalgie im modernen Sinn voraus und schuf offenbar erst die psychische Disposition für wehmütig-rückwärtsgewandte ideologische Strömungen.

In Termini der Psychologie ließe sich das beispielsweise so erklären, daß sich mit Beginn der Neuzeit die "Richtung" bzw. der "Gestaltcharakter" der Wahrnehmung geändert hat: Das bisherige religiöse Bezugssystem der Wahrnehmung löste sich auf. An seine Stelle trat ein neues, irdisch-weltlich fixiertes System der Wahrnehmung. Auch die Sehnsucht nach der ursprünglich rein himmlischen heimôti wurde so allmählich überlagert und verdrängt von der neuen Sehnsucht nach der irdischen Heimat.

In den Bereich der individuellen Nostalgie gehört auch die Verklärung der eigenen Kindheit, wie sie oft bei Erwachsenen anzutreffen ist. Freud hat diesen Vorgang damit zu erklären versucht, daß Angenehmes eher erinnert werde, wogegen Unangenehmes der Verdrängung anheimfalle. Die empirische Psychologie hat für diese These keinen Beweis gefunden. Offenbar ist es für das Gedächtnis gar nicht so wichtig, ob der erinnerte Gegenstand von angenehmer oder unangenehmer Art ist. Entscheidend ist vielmehr die gefühlsmäßige Relevanz des Erlebten, und zwar nicht nur zum damaligen Zeitpunkt, sondern auch und besonders im Rahmen des aktuellen Wahrnehmungssystems. Auch hier gibt die "Richtung" bzw. der "Gestaltcharakter" der Wahrnehmung den Auschlag. Wer zum Beispiel glaubt, in einer Zeit des Niedergangs zu leben, wird schon deshalb zur Verklärung der erinnerten Kindheitseindrücke tendieren. Umgekehrt ist es möglich, daß der Sturz aus einer sonnig-behüteten Kindheit in eine häßliche Realität eine nostalgische Sichtweise begünstigt. Ein Beispiel dafür bietet der Kunsthistoriker Walter Sedlmayr, in dessen These vom "Verlust der Mitte" offenbar eine sehr persönliche Nostalgie mitschwang.

In den individuellen Bereich gehört ferner jene unbestimmte Sehnsucht, die bei Jugendlichen in der Pubertät auftritt und ihre Individuation, die Lösung von den Eltern begleitet. Allerdings wird diese Pubertätskrise kulturell überformt. Der Weltschmerz, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts üblicherweise zur Adolszenz gehörte, ist deshalb heute in diesem Ausmaß und in dieser Form nicht mehr anzutreffen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts imponiert eher eine "skeptische" oder gar "coole" junge Generation.

Nostalgie vermag sogar den Nationalcharakter oder zumindest das Erscheinungsbild einer Nation zu prägen. Hierher gehört der sprichwörtliche Stolz des Spaniers, der sich historisch aus dem Niedergang des spanischen Weltreichs und des damit verbundenen feudal-aristokratischen Gesellschaftsmodells erklären läßt: Anders als in England oder in den Niederlanden waren in Spanien die bürgerlichen Kräfte viel zu schwach, um eine Alternative darzustellen. Nach dem erfolgreichen Befreiungskampf der Niederländer und der Vernichtung der spanischen Armada durch die englische Flotte flüchteten breiteste Bevölkerungskreise deshalb in eine Art nostalgischer Trotzhaltung. Das ritterliche Ideal des Hidalgos wurde zu jenem massenhaften Wahn, den Cervantes in seinem "Don Quichote" karikiert hat.

Lange Zeit zum englischen Nationalcharakter gerechnet wurde der spleen: Die Bezeichnung entstand im 18. Jahrhunderts für eine melancholische Haltung mit exzentrischen Neigungen, die vor allem begüterte Kreise zu befallen pflegte und von der Medizin mit der Milz (griechisch splen) in Verbindung gebracht wurde. In Wirklichkeit hatte der "spleen" natürlich keine organischen Ursachen, sondern wurzelte im selben kulturellen Humus, dem die follies und das gothic revival entsprossen.

Eine ebenso eindrucksvolle Verbindung der Nostalgie mit dem Nationalcharakter bietet die Saudade, jene eigenartige Schwermut, die bis heute als hervorstechendster Zug der Portugiesen gilt. Es handelt sich dabei um ein unbestimmtes Verlangen nach etwas, was vielleicht gewesen sein mag, aber nicht wiederkommen wird, oder was einmal sein könnte und sich doch kaum verwirklichen wird. Die Wurzeln dieses unstillbaren Sehnens, das nicht so sehr nach Erfüllung als nach Verewigung des Verlangens strebt, liegen offenbar im glanzvollen Aufstieg und jähen Niedergang der portugiesischen Nation. Nicht zufällig entstand auch in Portugal, nachdem das Land 1580 unter spanische Herrschaft geraten war, eine Art Barbarossa-Legende: Der letzte König Sebastian sei nicht auf dem Schlachtfeld gefallen, hieß es, sondern habe sich nur verborgen, um eines Tages wiederzukommen und sein Land neuen herrlichen Zeiten entgegenzuführen. Die Kraft dieser chiliastischen Legende war immerhin so stark, daß allenthalben falsche Sebastiane auftauchten und Gefolgschaft fanden. 1

Wie das Heimweh, das in besonderem Maße den Eidgenossen zugeschrieben wurde und deshalb als Schweizerkrankheit galt, gehören aber auch der nostalgische Stolz des Spaniers, der melancholisch-exzentrische "Spleen" des Engländers und die schwermütige "Saudade" des Portugiesen bereits der Neuzeit an. Aus dem Mittelalter sind keine derartigen nostalgischen Reaktionen bekannt. Es konnte sie wohl auch nicht geben, da sich alle psychischen Reaktionen - sei es auf den Verlust der Heimat oder auf den Untergang eines Reiches - im Rahmen des religiösen Deutungsmusters bewegten.

Als zum Beispiel Rom im Jahre 410 von den Westgoten eingenommen wurde, gab es zwei entgegengesetzte Interpretationen dieses unerhörten Vorganges: 1. Der Christengott und die in Rom konzentrierten Reliquien hatten schmählich versagt; sie hatten das Zentrum der Christenheit den Heiden preisgegeben; es war deshalb besser, zu den alten heidnischen Göttern zurückzukehren. 2. Die bisherige Sichtweise des bevorstehenden Gottesreiches war falsch; das Reich Gottes war nicht mit dem irdischen Reich identisch; es gehörte vielmehr einer jenseitigen Sphäre an, die lediglich über die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ins irdische Reich hineinragte. - Die zweite Version vertrat bekanntlich Augustinus in seinem Gottesstaat, und seitdem war das christliche Interpretationsmuster als oberste "Gestalt" der Wahrnehmung gegen alle Wechselfälle der Geschichte gefeit. Es konnte nur noch an sich in Frage gestellt werden.

Deshalb sind uns aus dem Mittelalter auch keine nostalgischen Reaktionen auf die Unterdrückung religiöser Utopien bekannt. Es konnte sie nicht geben, da religiöse Utopien wie Joachims drittes Reich transzendentalen Charakter hatten. Sie verhießen nicht den Himmel auf Erden, sondern den Himmel schlechthin. Die Geschichte war Heilsgeschichte. Der Zugang zum Gottesreich eröffnete sich nicht durch individuelle Erfahrung, sondern durch Vermittlung der Kirche. Auch unorthodoxe Richtungen wie die Mystik, die Franziskaner oder die Joachimiten stellten dieses Prinzip nicht in Frage. Die psychologischen Reaktionen bewegten sich deshalb im Rahmen des religiösen Weltbilds. Wo die Hoffnung auf das ewige Reich und die Erlösung zunichte wurde, blieben als Alternative nur Angst, Panik und apokalyptische Untergangsstimmung.

Die ungebrochene Wirksamkeit der religiösen Doktrin konnte freilich nur mit einer sich steigendern Verfolgung aller häretischen Bestrebungen gesichert werden. Von daher erklärt sich die zunehmende Verdüsterung des mittelalterlichen Weltbildes: Je schärfer die Kirche gegen die Häretiker vorging, desto auswegloser wurde die psychologische Situation. Die Massenhysterie des Hexenwahns läßt sich nur vor dem Hintergrund der Ketzerverfolgung begreifen. Am Ende stand jene apokalyptische Stimmung, in der Luther den gordischen Knoten der alleinseligmachenden Kirche, den Augustinus geflochten hatte, kurzerhand durchhieb: Die göttliche Gnade wurde nun unabhängig von Ablässen und anderen Vermittlungen durch die Kirche. Sie wurde zur Sache des persönlichen Glaubens und Gewissens. Das ewige Reich Gottes wurde von der Institution der Kirche gelöst und in die Brust des einzelnen gelegt.

Mit dieser Verinnerlichung des religiösen Glaubens war zugleich eine neue Sicht des Weltlichen verbunden: An die Stelle des Gegensatzes zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen Kaiser und Papst, trat der unlösbare Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, wie ihn Rousseau beklagt hat - ein fruchtbares Feld für Utopien, die diesen Gegensatz aufzuheben versprachen, von Morus und Campanella bis zum Kommunistischen Manifest. Diese Utopien waren dem religiösen Chiliasmus zum Verwechseln ähnlich. Sie waren aber nicht im göttlichen Heilsplan eines jenseitigen Reiches, sondern durchaus im irdischen Geschehen angesiedelt. Sie waren kein Bruch mit der Gegenwart, sondern deren Verlängerung in die Zukunft.

Es lag nahe, diese Verlängerung der Gegenwart in eine utopische Zukunft auch rückwärts, in die Vergangenheit, vorzunehmen: Zur Utopie gesellte sich die Nostalgie als Ersatz-Utopie. Als Traumbilder, als rein psychische Realität, waren beide gleichermaßen wirklich und unwirklich. Sie glichen magischen Chiffren, die sich nur durch das positive oder negative Vorzeichen voneinander unterscheiden. Die utopische Variante war auf Veränderung der bestehenden Gesellschaft gerichtet. Sie hatte ein aktives Vorzeichen. Die nostalgische Variante verlegte dagegen die ersehnte Zukunft in die Vergangenheit und stand so unter passivem Vorzeichen - zumindest so lange, bis die zugrundeliegende, verdrängte Utopie wieder zum Vorschein kam. Die aktive, auf die Veränderung der Gegenwart gerichtete Utopie und die eher passiv-resignative Nostalgie entsprachen dem handelnden Geist und dem leidenden Geist, wie sie Spinoza in seiner "Ethik" unterschieden hat.

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