Sehn-Sucht: 26 Essays zur Dialektik von Nostalgie und Utopie

Vorwort


Die "Schweizerkrankheit"

Die magische Wirkung des Kuhreigen - Weshalb Eidgenossen als besonders anfällig für das Heimweh galten

Über die Geschichte des Wortes Heimweh sind wir dank einer Reihe von Autoren - hier wäre etwa die Abhandlung von Ina-Maria Greverus über "Heimweh und Tradition" (1965) zu nennen - relativ gut informiert. Was bislang jedoch zu fehlen scheint, ist eine umfassendere Antwort auf die naheliegende Frage, weshalb ein Phänomen, das immer gewesen ist und immer sein wird, wie Greverus meinte, erst im 16. Jahrhundert schriftliche Erwähnung fand, über ein Jahrhundert später zum medizinischen Krankheitsbegriff avancierte und weshalb dies alles in der Schweiz geschah.

Bis ins 19. Jahrhundert heben alle Auskünfte zum Thema Heimweh die besondere Anfälligkeit der Schweizer hervor. Mitunter wird sogar einfach von der Schweizerkrankheit gesprochen. Später werden - etwa in der Enzyklopädie von Ersch/Gruber (1828) - auch andere Völker wie Lappländer, Eskimos, Sibirier und Schotten für besonders heimwehgefährdet gehalten.

Immer wieder wird auch die Geschichte vom Kuhreigen kolportiert, einer volkstümlichen Schweizer Melodie, bei deren Klang die Schweizer Söldner in Frankreich und den Niederlanden massenhaft erkrankt oder desertiert seien. Die Geschichte findet sich schon in der Neuherausgabe von Hofers "Nostalgia", die Theodor Zwinger 1710 veranlaßte. Zwinger hatte sogar die Melodie des Kühe-Reyens beigefügt. 1764 wird dieselbe Geschichte von Rousseau, 1823 von Goethe erwähnt. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts findet sie sich unter dem Stichwort Heimweh in Meyers Konversationslexikon. Eine bemerkenswerte Variante steuerte 1828 die Enzyklopädie von Ersch/Gruber bei: Ähnliche Wirkung wird hier dem schottischen Dudelsack nachgesagt, wie überhaupt nun die Nordländer die bislang exklusive Stellung der Schweizer als Heimweh-Opfer zu erschüttern scheinen.

Die besondere Anfälligkeit der Schweizer macht stutzig, zumal ein geneigter Zeitgeist später auch Nordländer und Küstenbewohner miteinbezieht und als krankheitsbegünstigende Umstände die Einfachheit ihrer Sitten und die Großartigkeit ihrer Natur ansieht. Es ist nicht anzunehmen, daß es sich hierbei um das Ergebnis empirischer Heimweh-Studien gehandelt hat. Überhaupt scheint die praktische Bedeutung der Heimweh-Krankheit im umgekehrten Verhältnis zu dem Papier gestanden zu haben, das auf sie verwendet wurde: In der französischen Enzyklopädie 35 Druckzeilen, bei Zedler 175 und bei Ersch/Gruber 106. - Diese Heimweh-Kranken scheinen eher ideologische Persönlichkeiten zu sein. Sie sind Naturburschen, die es nur in einer großartigen Landschaft mit großartigen Sitten aushalten.

Hinter dem Schotten, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts in die Reihe der Heimweh-Kranken eintritt, erkennt man leicht das zeitgenössische Bild vom melancholisch-stolzen Highlander, der um seine an England verlorene Freiheit trauert. Vermutlich spielte dabei auch der Ossian eine Rolle, dessen elegische Barden-Gesänge und nebelverhangene Landschaften damals durch die Köpfe spukten.

Der klassische Naturbursche blieb aber, aller nordländischen Konkurrenz zum Trotz, seit dem 18. Jahrhundert zweifellos der Schweizer. Die Eidgenossenschaft galt dem gebildeten Europa als eine Art alpenländisches Arkadien, in dem die Menschen - von der Zivilisation noch unverdorben - weitgehend im Einklang mit sich und der Natur lebten. In den fürstlichen Gärten dieser Zeit legte man dörfliche Idyllen an, die als Schweizerei bezeichnet wurden und wie die Meierei zu den Requisiten des Schäferspiels gehörten. Noch in den Sanatorien des 19. Jahrhunderts gab es Schweizerhäuser mit Stallungen im Erdgeschoß, um Ambiente und Düfte gesunden Landlebens in den Dienst der Genesung zu stellen. Und noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Johanna Spyris "Heidi" ein langandauernder Jugendbucherfolg - die Geschichte eines Naturkindes von der Alm, das im fernen Frankfurt vor Heimweh immer kränker wird, bis es durch die Rückkehr in die Schweiz wieder aufblüht und die kranke Freundin aus Frankfurt gleich mitgesunden läßt.

Der Schweizer war sozusagen der nicht-entfremdete, der Natur noch am nächsten stehende Mensch. Zumindest in den Augen anderer Europäer. Dem Stereotyp tat auch keinen Abbruch, daß der bekannteste Schweizer dieser Zeit, Jean-Jacques Rousseau aus Genf, ein neurotisches Nervenbündel war...

Rousseau hat sich selber fleißig an der Idealisierung der Schweiz beteiligt. In seiner Nouvelle Héloise,die 1761 erscheint und die fiktiven Briefe zweier Liebender aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen zum Inhalt hat, schildert er den Widerstreit der Gefühle, in den die beiden Liebenden durch die letztliche Unvereinbarkeit ihres persönlichen Fühlens, Denkens und Wollens mit den Konventionen und Ansprüchen der Gesellschaft gestürzt werden. Über diesem Konflikt zweier Liebender, die infolge unnatürlicher Zwänge nicht zueinander kommen können, erhebt sich die Landschaft der Walliser Alpen zu wilder, großartiger Schönheit, die nur noch durch die Sitten der Dorfbewohner in den abgelegenen Tälern übertroffen wird. Hier sucht und findet der unglücklich Liebende den inneren Frieden, den er unten, am Fuß der Alpen, verloren hat. Schon die natürliche Umgebung der Berglandschaft genügt, um den Widerstreit der Gefühle aufzulösen: Und so trägt eine wohltätige Ortslage durch dieselben Leidenschaften, die dem Menschen nur Qual bereiten, zu seiner Glückseligkeit bei. 1

Rousseaus Held rühmt die reinere und dünnere Luft der Berge, in der es sich leichter atme und der Geist heiterer werde. Er wundert sich, weshalb die heilsamen und wohltätigen Luftbäder der Gebirge nicht zu den vorzüglichen Heilmitteln der Medizin und Moral gerechnet werden. Dennoch dürfte er kaum ein Plädoyer für die Errichtung von Sanatorien in den Alpen beabsichtigen. Die Hochgebirgslandschaft ist kein geographischer, sondern ein psychischer Topos. Sie dient ihm lediglich als Symbol für die verlorene und neu herbeigesehnte Übereinstimmung des Menschen mit der Natur. Sie ist eine Allegorie der arkadischen Gefilde, in denen sich Leid in Lust und Schmerz in Glück verwandelt. Und die unstillbare Sehnsucht seines Helden ist nicht mehr die alte Heimweh-Krankheit des Schweizer Söldners, sondern bereits der Urschrei der Entfremdung, wie ihn Rousseau kurz darauf in seinem Contrat social zu Papier bringt:

Das macht unser menschliches Elend und den Widerspruch aus, der sich zwischen unserem Zustand und unseren Wünschen, zwischen unseren Pflichten und unseren Neigungen, zwischen der Natur und den gesellschaftlichen Institutionen, zwischen dem Menschen und dem Staatsbürger findet.Macht den Menschen zur Einheit, und ihr werdet ihn so glücklich wie möglich machen. Übergebt ihn vollkommen dem Staat oder überlaßt ihn vollkommen sich selbst. Wenn ihr sein Herz aber teilt, zerreißt ihr es... 2

Bei Rousseau wird deutlich, wie die zunächst noch recht konkrete Sehnsucht nach der Heimat von der Sehnsucht nach einem glückseligen Ort schlechthin abgelöst wird. Dieser Ort ist noch immer räumlich bezogen. Er befindet sich entweder in den Alpen oder einer sonstigen großartigen Landschaft. Er löst sich aber bereits im Nirgendwo auf, wird immer mehr zur bloßen Metapher für ein unstillbares Sehnen, das weder in Raum noch Zeit Erfüllung finden kann. So wandelt sich die "Schweizerkrankheit" des Heimwehs zur modernen Nostalgie, zur diffusen Sehnsucht nach Überwindung eines Mangelgefühls, das spätere Philosophen als "Entfremdung" beschreiben.

Es war kein Zufall, daß sowohl das Wort Heimweh wie die erste medizinische Abhandlung dazu in der Schweiz entstanden. Die vielfach erzählte Geschichte vom "Kuhreigen" liefert uns den Schlüssel zu einer Erklärung. Sie verweist nämlich auf das Söldnerwesen und den schwunghaften Handel, den die damalige Schweiz mit ihrer überschüssigen männlichen Bevölkerung betrieb.

Schon seit dem 13. Jahrhundert verdingten sich junge Schweizer, denen die karge Heimat kein Auskommen bot, an den König von Frankreich, an den Kaiser, an den Papst, die Herzöge von Lothringen, an Mailand, Savoyen oder den König von Ungarn. Dieser Reislauf bildete für die Kantone eine wichtige Einnahmequelle. Sie schlossen förmliche Verträge mit den auswärtigen Mächten, die für den Menschenhandel beträchtliche Provisionen zahlten, die man Pensionen nannte. Daneben flossen erhebliche Summen heimlich in die privaten Schatullen einflußreicher Kantonsvertreter.

Dieser Menschenhandel wurde besonders seit dem 15. Jahrhundert üblich. Wichtigster Abnehmer war der König von Frankreich, der sich 1474 durch ein Abkommen mit zehn Kantonen die regelmäßige Überlassung junger Männer für den Kriegsdienst sicherte. Ähnliche Verträge gab es auch mit den Niederlanden, so daß sich in der Schlacht von Malplaquet (1709) auf beiden Seiten Schweizer Söldner gegenüberstanden und im Dienste ihrer jeweiligen Kriegsherren massakrierten. 3

Die Schweizer waren also weitaus eher als die Angehörigen anderer Völker ihrer Heimat entfremdet und entsprechend für das Heimweh anfällig. Dennoch erhebt sich die Frage, weshalb das Wort - und vermutlich auch der damit bezeichnete mentale Zustand - erst nach mehreren hundert Jahren des Reislaufs auftauchte. Die Schweizer des 16. Jahrhunderts scheinen aus irgendeinem Grund erheblich sensibler gewesen zu sein als die früheren Söldner. Jahrhundertelang hatte die geografisch-mentale Entfremdung von der Heimat keine besonderen Beschwerden verursacht. Erst jetzt wurde sie problematisiert.

Auch dafür findet sich eine Erklärung: Die neue Sensibilität hatte mit der Reformation zu tun, die Zwingli 1519 in Zürich begann und die Calvin in der Westschweiz fortsetzte. Zum Reformprogramm gehörte ausdrücklich die Abschaffung des Reislaufs und des Pensionenwesens. Zwingli hatte einst als Pfarrer selbst zu den Schweizer Söldnern gehört, die in den Jahren 1512 - 1515 für Papst Julius II. in der Lombardei gegen den französischen König kämpften. Das Blutbad der Schlacht von Marignano hatte ihn tief erschüttert. Den Pensionenempfängern und Reisläufern hielt er fortan vor: Unsere Vordren hand nit umb Lon Christenlüt zuo Todgeschlagen, sunder umb Fryheit allein gestritten, damit ihr Lyb, Leben, Wyber, Kinder ein uppigen Adel nit so jämmerlich zuo allem Muotwillen underworffen werde. 4

Man darf bezweifeln, ob Zwingli dieselbe Erfahrung hundert Jahre früher in derselben Weise problematisiert hätte. Und selbst wenn: ob er dann solches Gehör damit gefunden hätte. Inzwischen war aber die Zeit für neue Wertvorstellungen reif. In reformierten Kantonen wie Zürich waren Gewerbe und Handel weiter fortgeschritten als in den katholischen Kantonen. Es machte hier wirtschaftlich wenig Sinn, kräftige junge Männer gegen Pensionen ins Ausland zu schicken, um sie als Söldner für auswärtige Mächte töten oder verkrüppeln zu lassen. Entsprechend offene Ohren fand Zwingli in Zürich, wenn er die Korruptheit von Bischof und Nuntius geißelte, die dem Papst weiterhin Landeskinder als Söldner zuführen wollten: Sy tragend rote Hüet und Mäntel, schütte man sie, so fallind Duggaten und Kronen herus, winde man sy, so ründt dines Suns, Bruoders, Vatters und guoten Fründts Bluot herus! Zwingli erreichte so, daß der Züricher Rat den Reislauf und das Pensionenwesen unter Androhung strengster Strafen verbot.

Dagegen verfügten die bäuerlichen Kantone der inneren Schweiz weiterhin nur über eine beschränkte, agrarische Existenzbasis. Diese katholischen Kantone, vor allem Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug, widersetzten sich deshalb dem Ansinnen Zwinglis erfolgreich. Erst 1859 erging ein Bundesratsbeschluß, der den Reislauf in der gesamten Schweiz untersagte.

Halten wir also fest: Ein halbes Jahrhundert, nachdem Zwingli gegen den Reislauf zu Felde zog, tauchte erstmals das Wort Heimweh auf. Und nochmals ein gutes Jahrhundert später unterstellte der Mediziner Hofer im reformierten Basel diesem Heimweh sogar Krankheitswert. Im Zuge der Reformation wurde so der Söldnerdienst seiner bisherigen Selbstverständlichkeit entkleidet. Er galt nunmehr in weiten Kreisen nicht nur als ethisch suspekt, mit christlichen und nationalen Grundsätzen unvereinbar, sondern auch aus medizinischer Sicht als bedenklich. Dem Heimweh wurde die Qualität einer Krankheit zuerkannt.

Das Heimweh war also nicht nur individualpsychologisch etwas Neues, sondern ein sozialpsychologischer Fortschritt. Es war Teil der protestantischen Ich-Findung auf dem Wege zum modernen Menschen, der das Mittelalter hinter sich gelassen hatte.

Untersucht man die sprachlichen Wurzeln des Wortes Heimweh, so macht man erneut eine überraschende Entdeckung: Die begriffliche Veränderung vom Heimweh zur modernen Nostalgie war etymologisch bereits vorgezeichnet. In der räumlichen Entfremdung steckte von Anfang an ein Stück existenzieller Entfremdung.

Daß der Wortbestandteil -weh soviel wie Schmerz, Sehnsucht, Ungemach bedeutet, kann als unstrittig gelten. Die Analyse des Wortbestandteils Heim führt dagegen zu unterschiedlichen Verästelungen des Wortstammes, nämlich zu Heim und Heimat. Das germanische heim diente im Alt- und Mittelhochdeutschen als Ortsbestimmung im Sinne von Haus, Wohnstatt. Es hat sich bis heute in zahlreichen Ortsnamen (englisch: -ham; schwedisch: -hem) erhalten. Das Wort Heimat leitet sich dagegen vom althochdeutschen heimôti bzw. vom mittelhochdeutschen heimôte ab. Dieses Wort wurde von Theologen geprägt und noch in frühmittelhochdeutscher Zeit ausschließlich zur Bezeichnung des Jenseits, des Himmelreichs verwendet. Erst gegen 1200 greift der geistliche Begriff heimôti allmählich auch in den weltlichen Bereich über.

Die Sehnsucht nach der heimôti war also ursprünglich die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, nach Jenseits und Erlösung aus dem irdischen Jammertal. Erst später wurde aus der himmlischen heimôti die irdische Heimat.

Bevor es zu dieser Verweltlichung der himmlischen heimôti und der ihr geltenden Sehnsucht kam, dürften weder Heimatgefühle noch Heimweh in der Psychologie des mittelalterlichen Menschen eine Rolle gespielt haben. Alles Diesseitige - mithin auch die Heimat im späteren Sinn - gehörte vielmehr zum ellende, wie die geistliche Bezeichnung für das irdische Dasein lautete. Dieses ellende bildete den Gegenpol zur himmlischen heimôti und war vom althochdeutschen alilenti abgeleitet, das soviel wie fremdes Land, Verbannung bedeutete. Die irdische Existenz samt der geografischen Heimat wurde mithin als Fremde empfunden. Sie galt, gemäß der biblischen Legende vom Sündenfall, als Ort der Verbannung, der Ausstoßung aus dem Paradies. 5

Das erwähnte althochdeutsche alilenti weist seinerseits interessante etymologische Bezüge auf. Zum einen enthält es das spätere Wort Elend. Zum anderen ist es verwandt mit dem lateinischen alienatio, das soviel wie Entwendung, Entäußerung oder Veräußerung bedeutet. Von daher stammt wiederum der Begriff alienation, der sowohl im Französischen als auch im Englischen für die philosophische Kategorie der Entfremdung verwendet wird.

Die himmlische heimôti ist also ursprünglich der Gegenpol zum irdischen ellende.Sie gründet auf der Überzeugung, daß am Ende aller Tage das Jenseits stehen wird. Sie ist metaphysisches Heimweh nach dem verlorengegangenen Paradies. Sie ist gleichsam eine frühe Variante jenes psychischen Zustands, der heute als Entfremdung bezeichnet wird. Für Heimweh-Gefühle im späteren Sinn scheint in diesem Weltbild kein Platz gewesen zu sein. Falls es sie überhaupt gab, sind sie von der Religiosität des mittelalterlichen Menschen in ähnlicher Weise überlagert und vereinnahmt worden wie bei den Teilnehmern der Kreuzzüge, die massenhaft ihre geografische Heimat im Stich ließen, um ihre spirituelle Heimat im Heiligen Land zu suchen.

Die Reformation erfüllte dieses metaphysische Heimweh mit einem neuen Inhalt. Die Sehnsucht nach der himmlischen heimôti wurde reformiert, säkularisiert, ins Irdische verlegt. Sie fand vom Mittelalter zur Sprache der Neuzeit. Sie verpuppte sich gleichsam im Heimweh, das den späteren Schmetterling der Nostalgie enthielt. Bevor dieser der Hülle entschlüpfen konnte, machte er aber noch etliche Zwischenstadien durch. Eines der wichtigsten war der Traum von Arkadien.

Weiter