PresseBLICK-Rezensionen Politik, Zeitgeschehen



Werner Gross (Hg.)

Psychomarkt - Sekten - Destruktive Kulte

224 S., DM 24.80, Deutscher Psychologen Verlag, Bonn 1996, ISBN 3-925559-70-1


Als der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville im Jahre 1831 die Vereinigten Staaten von Amerika bereiste, fiel ihm bei den Bewohnern der neuen Welt ein "überspannter und fast wilder Drang zum Übersinnlichen" auf, wie man ihn in Europa nicht kenne: "Von Zeit zu Zeit erheben sich seltsame Sekten, die darauf ausgehen, außergewöhnliche Wege zur ewigen Glückseligkeit zu entdecken. Die Formen religiösen Wahns sind dort sehr verbreitet."

Inzwischen ist dieser wilde Drang zum Übersinnlichen längst nicht mehr auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten beschränkt. Er ist wohl auch keine besondere Zerfallserscheinung der christlichen Religion oder der westlichen Kultur, sondern grassiert überall dort, wo sich Gesellschaften im Umbruch befinden und tradierte Strukturen auflösen: Man denke an den Aufstieg der Ayatollahs in islamischen Ländern, an den koreanischen Messias Mun mit seiner internationalen Anhängerschaft oder an die bizarren Mordanschläge der Aum-Sekte in Japan. Noch vergleichsweise harmlos wirken da die privatistischen Formen der spirituellen Sinnsuche, wie sie die Anhänger von Psycho-Kulten, New Age und Esoterik zelebrieren.

Die neue Unübersichtlichkeit im spirituellen Gemischtwarenladen beschäftigt inzwischen sogar den Bundestag: Seit Mai vorigen Jahres versucht eine Enquête-Kommission des Parlaments, mehr Licht in das Kapitel "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" zu bringen. Sie will ihren Bericht im Frühjahr kommenden Jahres vorlegen. Dann wird man vielleicht auch klarer sehen, welche politischen Handlungsmöglichkeiten es gibt, um religiös getarnten Seelenfängern das Geschäft zu erschweren, ohne mit der grundgesetzlich geschützten Glaubens- und Gewissensfreiheit in Konflikt zu kommen.

Von den elf Autoren des vorliegenden Buches gehören drei dieser Enquête-Kommission des Bundestags an: Der Herausgeber Werner Gross vom Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP), der Soziologe Jürgen Eiben und der Ministerialrat Jürgen Keltsch vom bayerischen Innenministerium. Als Sekten-Spezialisten mit theologischem Hintergrund äußern sich Hansjörg Hemminger und Andreas Fincke von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sowie der Pfarrer Jörg Hermann. Die übrigen Autoren sind Psychologen und Psychotherapeuten.

Der Supermarkt des Irrationalismus hält für jeden ein Angebot bereit

In der Einleitung beschreibt Werner Gross anschaulich die "massenhafte Flucht ins Irrationale": Bis zu zehn Prozent aller Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt könnten dem Bereich New Age und Esoterik zugeordnet werden. Im spirituellen Supermarkt gebe es inzwischen Angebote für jede Zielgruppe, für jüngere und für ältere Menschen, für gut gebildete und weniger gebildete, für erzkonservative wie für progressive. Jede dieser Gruppierungen habe sich ihre Marktnische gesucht und sich mehr oder weniger erfolgreich darin eingerichtet. Viele dieser Gruppierungen hätten sich außerdem eine Vielzahl von Unter- und Nebenorganisationen geschaffen, um ihre Ideologie verdeckt an den Mann und an die Frau zu bringen. Besonders beliebt sei dabei der Bereich der Unternehmensberatung, Management-Schulung und Seminare. Vor allem "Scientology" und der Mun-Sekte sei es auf diese Weise gelungen, Einfluß auf Manager zu gewinnen und ganze Betriebe unter ihre Kontrolle zu bringen.

Scientology wird auch von anderen Autoren des Sammelbandes als die größte und aggressivste der Psychosekten charakterisiert. Das Credo dieser seltsamen "Kirche" besteht aus einer kruden Mischung von Science Fiction, Psychoanalyse und Gehirnwäschepraktiken, wobei sich abgründiger Nonsens mit durchaus effektiven Techniken der Manipulation und knallharter Abzockerei paart. Der eigentliche Stein des Anstoßes ist jedoch die totalitäre Ausrichtung der Sekte, die nichts geringeres als die Weltherrschaft anstrebt. Sie beläßt es nicht dabei, die eigenen Anhänger geistig und materiell zu kujonieren, sondern strebt nach ständiger Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs, wobei sie Kritiker mit brutalen Methoden aus dem Weg räumt. Die Bundesanstalt für Arbeit kennzeichnet deshalb neuerdings Firmen, die von Scientology beeinflußt sind, mit einem "S", damit Arbeitsuchende nicht arglos den Seelenfängern auf den Leim gehen.

Werner Gross zählt Scientology zu den "Destruktiven Kulten", die durch ihren Monopolanspruch auf Wahrheit und einen Weltrettungsplan totalitär strukturiert seien. Freilich sei es nicht möglich, eindeutige Grenzlinien zu ziehen: Man müsse das Treiben der Sinnstifter, Erwecker und Gurus als Kontinuum sehen, das vom breitgefächerten Angebot des Psychomarktes und der Esoterikszene über einigermaßen sozialverträgliche religiöse Sekten, Polit-Sekten und Psycho-Sekten bis hin zu den ausgesprochen destruktiven Kulten reicht.

Hansjörg Hemminger, der für die Evangelische Kirche die Szene beobachtet, unterteilt die Vielfalt der Sekten, weltanschaulichen Sondergemeinschaften und alternativen Therapiebewegungen grob in folgende Kategorien:

- vor mehreren Generationen entstandene klassische Sekten und Sondergemeinschaften mit christlichem Hintergrund (Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche u.a.)

- neu entstandene Gruppen mit christlichem und/oder esoterischem Hintergrund, meist durch sogenannte Neuoffenbarer (z.B. Universelles Leben, Fiat Lux, Michaelsvereinigung)

- neue religiöse Gemeinschaften (Hare Krishna, Vereinigungskirche des lebenden Messias Mun, Osho/Bhagwan-Bewegung u.a.)

- Psycho- und Politgruppen, ideologische Gemeinschaften ohne eigentlich religiöse Weltanschauung (z.B. Scientology, LaRouche-Bewegung, Bund gegen Anpassung, Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis)

- ältere esoterische, okkulte und neuheidnische Gemeinschaften und Bewegungen (z.B. Rosenkreuzer, Deutschgläubige, Anthroposophie)

- alternative Psychoszene und die Szene der "spirituellen" oder New-Age-Therapien, die sogenannte Esoterik.

Die LaRouche-Bewegung, die Hemminger in diesem Zusammenhang erwähnt, hat ihre Netze übrigens auch im Bereich der Energiewirtschaft ausgeworfen, indem sie sich mit Pamphleten gegen "Öko-Faschismus" und "Klimaschwindel" sowie mit Hymnen auf die Kernenergie als eine Art Prätorianergarde gegen Umweltschützer und Kernkraftgegner anzudienen versucht (siehe PB 6/93 und PB 1/95). Es hat allerdings nicht den Anschein, als ob die Jünger des Lyndon LaRouche für die Wirtschaft eine größere Gefahr darstellen würden. Laut Hemminger haben sie sogar eher an Einfluß verloren. Begünstigt vom Zeitgeist werde dagegen Scientology mit der Vorgaukelei von Erfolg, Geld, Macht und Übermenschentum.

Weshalb sind gerade Manager so anfällig?

Detlev Poweleit versucht die Frage zu beantworten, weshalb gerade Manager, die man doch für Menschen mit nüchternem Verstand und klarem Kopf halten sollte, derart anfällig für die Dienstleistungen von Sinnverkäufern sind. Er sieht die Gründe in der Arbeitssituation, einer "spezifischen narzißtischen Verführbarkeit" sowie der "Kompatibilität von Denkstrukturen". Weniger umständlich ausgedrückt: Auf die Elaborate selber, die oft als Management-Hilfe verkauft werden, kommt es gar nicht so sehr an. Der Sinnverkäufer muß sich vor allem auf die Anpreisung seiner faulen Ware verstehen - zum Beispiel, indem er sich als smarter, erfolgsorientierter Typ präsentiert und damit dem Selbstideal des Managers schmeichelt.

Soll Scientology als verfassungsfeindliche Organisation verboten werden?

Ministerialrat Jürgen Keltsch, der früher Richter am Oberlandesgericht München war, befaßt sich in seinem Beitrag ausführlich mit der Frage, welche politischen bzw. juristischen Handhaben es geben könnte, um Scientology einen Riegel vorzuschieben. Seiner Meinung nach wäre es nicht plausibel, solchen destruktiven Kulten das Religionsprivileg nach Artikel 4 des Grundgesetzes von vornherein absprechen zu wollen. Es bleibe wohl nichts anderes übrig, als Scientology "den Status eines kommerziellen Dienstleistungsbetriebs, der Weltanschauung vertreibt und bei den Kunden Weltanschauung erzeugt, zuzugestehen". Damit falle die Psychosekte aber in den Anwendungsbereich von Artikel 4 des Grundgesetzes, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit verbürgt. Diesen Schutz könne sie allerdings nur dann beanspruchen, wenn sie nicht ein anderes Rechtsgut von Verfassungsrang nachhaltig verletze. Die totalitären Ziele und Praktiken der Sekte seien aber mit dem freiheitlichen Menschenbild unserer gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung gänzlich unvereinbar. Von daher böte sich dann doch eine Handhabe, um gegen Scientology als verfassungsfeindliche Organisation vorzugehen. Warnend verweist Keltsch auf Frankreich, wo Scientologen bereits den "Marsch ins Herz staatlicher Macht" geschafft haben sollen, sowie auf die USA, wo sie zumindest "in den Vorhöfen der politischen Macht" wirksam seien.

Ob die hier angestellten Überlegungen aus dem bayerischen Innenministerium wirklich der Weisheit letzter Schluß sind, scheint zweifelhaft: Vor allem wäre es aus liberaler Sicht höchst problematisch, wenn die Exekutive sich anmaßen würde, über die Verfassungskonformität bestimmter Organisationen zu befinden. Wohin das führen kann, hat erst erst vor kurzem die inquisitorische Praxis des sogenannten Radikalenerlasses gezeigt. Ein Erfolg für Scientology oder einzelne ihrer Anhänger vor dem Bundesverfassungsgericht wäre aber gewiß nicht wünschenswert. Gibt es keine klügeren Strategien? Verhindert Artikel 4 des Grundgesetzes etwa, Scientology als normales Wirtschaftsunternehmen ohne steuerliche Vergünstigung zu behandeln? Reichen nicht die Strafgesetze aus, um konkrete Angriffe auf die körperliche und geistige Gesundheit zu ahnden? - Wenn nicht, läge eine Notwendigkeit zum Handeln wohl eher hier.

Schwierige Abgrenzung von seriösen und unseriösen Angeboten auf dem Psycho-Markt

Die übrigen Beiträge behandeln weitere Aspekte des großen Problembereichs. So befaßt sich Peter Conrad mit dem "Psychokult als Unternehmen", Bernd Heller durchleuchtet "paranormale" Phänomene und Beate Roderigo schildert die Schwierigkeiten und möglichen Hilfen beim Ausstieg aus einer Sekte. Auf ein ziemlich heikles Gebiet begibt sich Daniel Kraus, indem er die "Seriosität und Unseriosität von Angeboten auf dem Markt der Lebenshilfe am Beispiel eines Vergleichs von Neuen Religiösen Bewegungen und Psychotherapie" untersucht. - Denn Psychotherapeuten wie Gurus bedienen sich weitgehend desselben psychologischen Instrumentariums. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die mehr oder weniger verantwortungsvolle Anwendung der Psycho-Techniken. Ein gutes Beispiel dafür ist die von Hemminger erwähnte "Deutsche Akademie für Psychoanalyse" um den 1995 verstorbenen Psychoanalytiker Günter Ammon, die aus einer ideologisierten Form der Gruppentherapie hervorging und ausgesprochen sektenmäßige Züge aufweist.

Daß auch etliche der als seriös geltenden Richtungen der Psychotherapie nicht unbedingt wissenschaftlich begründet sind oder wenigstens unter rein pragmatischem Blickwinkel einen Effizienznachweis erbringen könnten, bleibt in dem vorliegenden Buch ausgeklammert. So gehört zu den beiden anerkannten Therapieverfahren, die von den Krankenkassen anstandslos vergütet werden, die stark ideologisch geprägte Psychoanalyse, die auch von ihrem therapeutischen Nutzen her äußerst umstritten ist. Die Psychoanalyse verfügt freilich über eine sehr starke Lobby in der Ärzteschaft, da viele Mediziner eine entsprechende Zusatzausbildung für Psychotherapie absolviert haben. Die akademisch ausgebildeten Psychologen, die sich ihren Broterwerb durch eine Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten sichern, bevorzugen dagegen die Methoden der Verhaltenstherapie, die empirisch abgesichert und nachweisbar effizient sind. Obwohl die psychologischen Therapeuten damit mindestens dieselbe Qualifikation wie die Fachärzte für Psychotherapie besitzen, werden ihre Dienstleistungen bisher von den Krankenkassen lediglich im sogenannten Delegationsverfahren vergütet, wobei der psychologische Therapeut nur im Auftrag und gewissermaßen unter Kuratel eines behandelnden Arztes tätig werden darf.

Werner Gross spielt auf diese seit Jahren andauernde Auseinandersetzung nur ganz zurückhaltend an, wenn er die baldige Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes fordert, um die psychohygienische Versorgung der Bevölkerung sicherstellen zu können: Bei der angestrebten gesetzlichen Regelung geht es weniger um die Abgrenzung zu Heilpraktikern und eindeutig fragwürdigen Dienstleistungen im Psycho-Bereich, die schon heute aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, als um die Gleichstellung von psychologischen und ärztlichen Therapeuten bei der Abrechnung mit den Krankenkassen. Der Verteilungskampf um die Pfründen im Gesundheitswesen ist inzwischen allerdings noch härter geworden. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob und in welcher Weise die psychologischen Therapeuten aus ihrer Abhängigkeit von den Ärzten befreit werden.

Seelen-Heilkunde ersetzt die Seelenheil-Kunde

Bei der Lektüre fällt auf, wie hier Psychotherapeuten und Theologen weitgehend an einem Strick ziehen, wenn sie den geistigen Zerfall der Gesellschaft und deren Atomisierung in unzählige Grüppchen und Sekten beklagen. Diese Gemeinsamkeit kommt nicht von ungefähr: In der Tat hat die Psychotherapie in weitem Umfang die Nachfolge der traditionellen Seelsorge angetreten. Trotz des latenten Konkurrenzverhältnisses können die Beziehungen zwischen theologischer und psychotherapeutischer Seelsorge mittlerweile als weitgehend entspannt gelten, wenigstens was die Evangelische Kirche und die eher pragmatischen Richtungen der Psychotherapie betrifft.

Darüber hinaus verbindet die Seelen-Heilkundigen mit den Seelenheil-Kundigen, daß sie sich derselben Konkurrenz erwehren müssen: Die diversen Sekten und Psycho-Kulte machen ihnen nicht nur die Klientel abspenstig, sondern bringen auch die ganze Branche in Verruf. Zum Beispiel ärgern sich seriöse Psychotherapeuten über Therapie-Angebote, die dem Klienten "Rebirthing" und ähnliche spirituelle Erleuchtungen verheißen. Die Evangelische Kirche beobachtet ihrerseits Sekten wie die "Neuapostolische Kirche" oder die "Zeugen Jehovas" mit einer Mischung aus Ablehnung und Zuwendung, als ob nahe Verwandte auf die schiefe Bahn geraten seien. - Immerhin ist der Protestantismus einmal selber aus einer erfolgreichen Häresie und Abspaltung von der alleinseligmachenden römischen Kirche entstanden. Von daher trägt er die Tendenz zur weiteren Säkularisierung ebenso in sich wie den Keim weiterer Zersplitterung in Freikirchen und Sekten. Er wird deshalb auch zu einem ständigen Spagat zwischen Weltoffenheit und biblischem Fundamentalismus genötigt, den die katholische Kirche mit ihren dogmatischen Glaubenssätzen so nicht kennt.

Vom Mitgliederschwund sind allerdings beide Kirchen betroffen. Gläubige Christen bilden längst eine Minderheit in Deutschland. Die Hoffnung der Aufklärung, daß der Sieg über die "Königin der Ñacht" - in Mozarts "Zauberflöte" das Symbol für die katholische Kirche - zu geistiger Freiheit und Toleranz führen werde, hat sich aber offenkundig nur sehr unzureichend erfüllt. Inzwischen sieht es sogar ganz danach aus, als ob ein erheblicher Teil der Bevölkerung, wie der Dichter so schön sagt, "des Wahnsinns fette Beute" werden könnte ...

(PB 3/97/*leu)