PresseBLICK-Rezensionen Geschichte (Strom u. a.)



Waldemar Kelberg

Die Trossinger Eisenbahn - 100 Jahre Verkehr und Energie unter einem Dach

259 S., DM 29.-, Stadtbuch-Verlag Lienhard & Junge, Trossingen 1998, ISBN 3-924191-97-2


Als sich die Gemeinde Trossingen vor hundert Jahren ein Elektrizitätswerk und eine elektrische Eisenbahn zulegte, war sie noch ein Dorf mit 3000 Einwohnern, dessen Straßenbild von Misthaufen geprägt wurde. "Außer Trossingen gab es 1898 in ganz Europa kein Dorf dieser Größenordnung, das über ein eigenes Elektrizitätswerk verfügte und auch keines, das sich deshalb eine Straßenbeleuchtung mit Glühbirnen leisten konnte", schreibt Jost Keller von den Trossinger Stadtwerken in seinem Vorwort zu diesem Buch. Weltweit einmalig sei es sogar, daß sich Bürger eines solchen Dorfes auf eigene Rechnung und Risiko eine Eisenbahnlinie samt dem dazugehörigen Elektrizitätswerk gebaut hätten.

Anlaß dieses einmaligen Kraftaktes war, daß Trossingen von der Staatsbahn des Königreichs Württemberg beim Bau der Linie Rottweil - Villingen links liegen gelassen worden war: Es gab zwar seit 1869 einen Bahnhof Trossingen, doch stand dieser auf der grünen Wiese, fast fünf Kilometer vom Ort entfernt.

Die Bauern des Dorfes hätten auf die Verbindung zur großen Welt verzichten können. Die Gewerbetreibenden bangten aber um ihre Existenz. Vor allem der Mundharmonika-Fabrikant Matthias Hohner wollte seine Erzeugnisse, die er zum großen Teil in die USA exportierte, nicht länger mit dem Pferdefuhrwerk zur Bahnstation befördern.

Nur ein Zug mit elektrischem Antrieb konnte die Steigung überwinden

Als Ausweg bot sich der Bau einer Verbindungsbahn an. Der Staatsbahnhof lag allerdings siebzig Meter tiefer als das Dorf, was die Überwindung einer Steigung von bis zu 3,03 Prozent voraussetzte. Die damaligen Dampflokomotiven schafften das nicht. Deshalb sollte es von Anfang an eine elektrische Verbindungsbahn sein. - Ein kühner Entschluß, wenn man bedenkt, daß die ersten elektrischen Überlandbahnen gerade ein paar Jahre alt waren.

Man gründete 1897 eine Aktiengesellschaft und begann unverzüglich mit dem Bau von Schienentrasse, Ortsbahnhof und Elektrizitätswerk. Die Planung und Leitung der Bauarbeiten übernahm der Stuttgarter Elektrotechniker Wilhelm Reisser, der in enger geschäftlicher Verbindung mit der AEG stand. Neben den Mitgliedern des Gewerbevereins steuerten auch Reisser und die Gemeinde einen erklecklichen Teil des Kapitals bei. Die Bitte um einen Staatszuschuß war von der königlichen Regierung abgelehnt worden. Das Projekt entstand also zunächst auf privatwirtschaftlicher Basis. Erst 1909 gingen Bahn und Elektrizitätswerk in den Besitz der Gemeinde über.

Eigenes Elektrizitätswerk versorgte sowohl die Eisenbahn als auch das Dorf

Im Elektrizitätswerk erzeugten zwei AEG-Dynamos, die von Sauggasmotoren angetrieben wurden, den Bahnstrom. Zwei andere Generatoren belieferten das Dorf. Wegen der steigenden Nachfrage mußte 1906 ein weiterer Generatorsatz mit 210 kW angeschafft werden. Ab 1917 deckte das Überlandwerk Tuttlingen den Mehrbedarf, wobei Umformer den Drehstrom auf die örtliche Gleichspannung brachten. 1925 endete die eigene Stromerzeugung: Das kommunale Netz wurde fortan vom Überlandwerk bzw. von der 1939 gegründeten Energie-Versorgung Schwaben (EVS) beliefert. Aber erst 1948 beschloß der Gemeinderat die Umstellung von Gleichstrom auf Wechselstrom, die bis 1956 durchgeführt wurde.

Der Fahrzeugpark der Eisenbahn bestand zunächst aus einem Triebwagen und einem Beiwagen. Den ersten Triebwagenführer schulte man zwei Wochen lang auf der Lokalbahn Tettnang - Meckenbeuren, die 1895 als erste elektrische Bahn Württembergs den Betrieb aufgenommen hatte. In der Folge wurden noch acht weitere Fahrzeuge angeschafft. Die letzte Neuerwerbung war 1968 ein Triebwagen. Von diesen insgesamt zehn Fahrzeugen sind heute noch sechs erhalten. Es handelt sich durchweg um Unikate. Vor acht Jahren wurden die beiden Oldtimer aus dem Jahre 1898 zusammen mit einer E-Lok aus dem Jahr 1902 restauriert und bilden seitdem einen voll funktionstüchtigen Museumszug. Die kleine, fast niedlich wirkende Lokomotive, die den Kosenamen "Lina" trägt, gilt als älteste noch betriebsfähige E-Lok der Welt.

Die private elektrische Eisenbahn erfüllte und übertraf die Erwartungen. Es wurden sogar weitere Strecken geplant, um Trossingen mit den umliegenden Dörfern und anderen Staatsbahnhöfen zu verbinden. Der erste Weltkrieg stoppte aber den bereits genehmigten Ausbau. Später wurden die Pläne nicht mehr hervorgeholt, weil es an Geld mangelte und sich der Verkehr zunehmend auf die Straße verlagerte.

Vorerst blieb die Trossinger Eisenbahn aber noch unentbehrlich: Nachdem der Ort 1927 zur Stadt erhoben worden war, nannte er sich stolz "die größte Mundharmonikastadt der Welt". Die Firma Hohner, die mittlerweile ihre Konkurrenten aufgekauft hatte, beschäftigte Tausende von Arbeitskräften mit der Herstellung von Mundharmonikas und Akkordeons. Der größte Teil des Güter- und Personenverkehrs lief über das "Bähnle", wie die Trossinger ihre Eisenbahn nannten.

Tod im Jubiläumsjahr

Ab den sechziger Jahren ging es dann aber mit dem "Bähnle" allmählich bergab: Da immer mehr Menschen ein Auto besaßen, sanken die Fahrgastzahlen von Jahr zu Jahr. Am Ende geriet auch der Güterverkehr in die roten Zahlen.

Das wachsende Defizit der Eisenbahn belastete die Stadt um so mehr, als es auch mit der Industrie bergab ging: Die Nachfahren des Matthias Hohner scheiterten an der neuen Herausforderung durch die elektronischen Musikinstrumente, zumal sie zeitweilig sogar versuchten, in das Computer-Geschäft einzusteigen. Den kläglichen Rest des Unternehmens übernahm vor kurzem eine unbekannte Gesellschaft aus Taiwan, die es offenbar hauptsächlich auf den klangvollen Namen Hohner als "Label" für Musikinstrumente abgesehen hat.

Im hundertsten Jahr ihres Bestehens ist die Trossinger Eisenbahn ein völlig unrentables und nur noch mühsam aufrechterhaltenes Unternehmen. Lediglich montags bis freitags pendelt ein spärlich besetzter Triebwagen zwischen Stadt- und DB-Bahnhof. Wer am Wochenende mit der Bahn nach Trossingen reisen will, wird von der Deutschen Bahn wie anno 1869 auf der grünen Wiese ausgesetzt. Er muß dann entweder ein Taxi anfordern oder eine Stunde lang zu Fuß gehen.

Aber Abhilfe ist in Sicht: Die Trasse der Trossinger Eisenbahn wird demnächst in ein regionales Schienen-Nahverkehrsprojekt einbezogen, das die umliegenden Städte Donaueschingen, Villingen-Schwenningen, Rottweil und Tuttlingen verbindet. Man kann dann mit dieselelektrischen Triebwagen bis "Trossingen-Stadt" durchfahren und hat in "Trossingen-Bahnhof" Gelegenheit zum Umsteigen in Richtung Rottweil.

Zugleich wird die Trossinger Eisenbahn endgültig stillgelegt. Noch in diesem Jubiläumsjahr soll ihr letztes Stündlein schlagen. Damit wenigstens die Erinnerung bleibt, hat der langjährige Trossinger Bezirksredakteur des "Schwarzwälder Boten", Waldemar Kelberg, im Auftrag der Stadtwerke Trossingen dieses bemerkenswerte Kapitel dörflich-kleinstädtischer Technikgeschichte aufgezeichnet.

(PB 3/98/*leu)