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(Aus: Udo Leuscher, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 108 - 116)

"Entartung"

Zur Genese eines fatalen Schlagworts


NS-Hetzschrift gegen Jazz und andere "entartete Musik"
"Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird also wahrscheinlich ein Geschlecht sehen, dem es nicht schaden wird, täglich ein Dutzend Geviertmeter Zeitungen zu lesen, beständig an den Fernsprecher gerufen zu werden, an alle fünf Welttheile zugleich zu denken, halb im Bahnwagen oder Flugnachen zu wohnen und einem Kreise von zehntausend Bekannten, Genossen und Freunden gerecht zu werden. Es wird inmitten der Millionenstadt Behagen zu finden wissen und mit seinen riesenstarken Nerven den kaum zu zählenden Anforderungen des Lebens ohne Hast und Aufregung entsprechen können." (1)

Die hier zitierte Prognose ist über hundert Jahre alt. Sie stammt aus dem Buch "Entartung" des Schriftstellers Max Nordau. Das Telefon war damals eine vielbestaunte Erfindung. Die dampfgetriebene Eisenbahn war noch immer aufregend modern und über größere Strecken das einzige Verkehrsmittel. An das Auto dachte man noch nicht. Es wurde soeben erst erfunden. Und Otto Lilienthal versuchte, einige Meter durch die Luft zu segeln. Unter den "Luftnachen" des zwanzigsten Jahrhunderts dürfte Nordau eine Ballonfahrt verstanden haben, wie sie in Gestalt der Zeppeline tatsächlich vorübergehend eine Rolle spielte Noch weniger ahnte der Schriftsteller die Entwicklung des Films, des Funks und des Fernsehens. Er begriff die Medien des zwanzigsten Jahrhunderts als schlichte Ausdehnung der Presse bis zu "täglich ein Dutzend Geviertmeter Zeitungen".

Was Nordau so hoffnungsvoll ins zwanzigste Jahrhundert blicken ließ, waren jedoch nicht technische Fortschritte und Erfindungen. Seine Erwartung war vielmehr, daß sich ungeachtet und trotz aller Fortschritte der Technik auch ein menschlicher Fortschritt zeigen werde: Daß ein neuer Mensch mit "riesenstarken Nerven" in der Lage sein werde, alle diese neuen Herausforderungen ohne nervöse Störungen zu bewältigen.
 

Ein Kritiker des Fin de siècle 

Max Nordau (1849-1923)

Nordau lebte seit 1880 in Paris. In der französischen Metropole erlebte er das "Fin de siècle". Dieser Begriff entstand damals und verbreitete sich auch außerhalb Frankreichs, um die bürgerliche Endzeitstimmung zu bezeichnen, die mit dem kalendermäßigen "Ende des Jahrhunderts" einherging.

Im Fin de siècle scheinen zumindest die oberen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft plötzlich von einem geistig-emotionalen Virus befallen zu sein. Diffuse Weltschmerz-Stimmungen, eine unerklärliche "Nostalgie", machen sich breit. Das "Mal du siècle" nimmt epidemisches Ausmaß an. Der Laie spricht von "Nervosität", der Mediziner eher von "Neurasthenie". Gemeinsam ist ihnen die Ratlosigkeit.

"Die Zeitstimmung ist eine seltsam wirre, aus fieberhafter Rastlosigkeit und stumpfer Entmuthigung" schreibt Nordau zu Beginn seines zweibändigen Werkes, das 1892 erscheint. "Die vorherrschende Empfindung ist die eines Untergehens, eines Erlöschens." Ein dunkles Bangen vor einer Art Völkerdämmerung mache sich breit: "Die geballten Wolken am Himmel flammen in der unheimlich schönen Lohe, die nach dem Krakatoa-Ausbruche jahrlang beobachtet wurde. Über die Erde kriechen tiefer und tiefer werdende Schatten und hüllen die Erscheinungen in ein geheimnisvolles Dunkel, das alle Gewißheiten zerstört und alle Ahnungen gestattet. Die Formen verlieren ihre Umrisse und lösen sich in fließende Nebel auf. Ein Tag ist vorüber, die Nacht zieht herauf." (2)

Nordau begreift diese Zeitstimmung als krankhafte "Entartung". Sein gleichnamiges Buch widmet er dem italienischen Irrenarzt Lombroso. Damit bringt er den Anspruch zum Ausdruck, die kulturellen Erscheinungen, die ihm mißfallen, in den Zuständigkeitsbereich des Psychiaters zu überweisen. Dieser Anspruch durchzieht sein Werk von der ersten bis zur letzten Seite. Nordau geht so weit, daß er aus der unregelmäßigen Schädelform des französischen Dichters Verlaine dessen "entartete" Verse zu erklären versucht (3). Genauso machte es der Irrenarzt Lombroso, wenn er von der Schädelform auf den "geborenen Verbrecher" schließen zu können glaubte.

Mit inquisitorischem Eifer verfolgt Nordau alles, was ihm als kultureller Auswuchs des nervös-entarteten Zeitgeistes erscheint. Die ersten Kapitel seines Werkes sind nach Art eines psychiatrischen Lehrbuches mit "Symptom", "Diagnose" und "Ätiologie" betitelt. Es folgt eine "Psychologie des Mystizismus". Den Rest des ersten Bandes bilden Fall-Schilderungen, wobei die Stelle der Patienten einzelne Richtungen der zeitgenössischen Kunst und deren Vertreter einnehmen. Namentlich geht es um die "Präraffaeliten", die "Symbolisten", den "Tolstoismus" und den "Richard-Wagner-Dienst". Im zweiten Band geht es dann weiter mit Kapiteln wie "Psychologie der Ich-Sucht", "Dekadenten und Ästheten", "der Ibsenismus", "Friedrich Nietzsche" und "Zola und die Zolaschulen". Getreu dem psychiatrischen Vorbild schließt das Werk mit zwei Kapiteln über "Prognose" und "Therapie".

Nordau führt die Nervosität bzw. "Entartung" auf die Verstädterung zurück, die den Menschen immer mehr nötige, in dem "Sumpf" der Großstädte zu leben: "Er atmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechsels geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte, gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustand ständiger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner einer Sumpfgegend gleichstellen." Mit dem Wachstum der Großstädte gehe einher die Vermehrung der Entarteten aller Art. Neben Verbrechern und Wahnsinnigen vermehrten sich die kulturell-geistig Degenerierten. Daher komme es, "daß diese letzteren im Geistesleben eine immer auffälligere Rolle spielen, in Kunst und Schrifttum immer mehr Wahnsinns-Elemente einzuführen streben". (4)

Als noch allgemeinere Ursache nennt Nordau die "Ermüdung des gegenwärtig lebenden Geschlechts". Für sich allein sei diese vielleicht nicht genügend, um die Degeneration hervorzubringen. Sicher sei sie aber vollständig ausreichend, um "Hysterie und Neurasthenie" zu erzeugen. Dieser Ermüdung sei "die ganze gesittete Menschheit seit einem halben Jahrhundert ausgesetzt". Beispielsweise durch die Zunahme von Eisenbahnstrecken, Reisen, Briefen, Zeitungen, Büchern und Schiffstonnage. "Eine Köchin empfängt und versendet mehr Briefe als einst ein Hochschulprofessor, und ein kleiner Krämer reist mehr, sieht mehr Land und Volk als sonst ein regierender Fürst." Alle diese Tätigkeiten, selbst die einfachsten, seien aber mit einer Anstrengung des Nervensystems, mit einem Verbrauch von "Stoff" verbunden. Der ungeheuer gestiegenen "organischen Ausgabe" stehe kein entsprechendes Steigen der "Einnahme" gegenüber. Die dadurch bewirkte Erschöpfung komme in der ersten Generation als erworbene, bei der zweiten als erbliche Massen-Hysterie zur Erscheinung. Eine Form dieser Massen-Hysterie seien die neuen ästhetischen Schulen und ihr Erfolg:

"In der gesittenen Welt herrscht unverkennbar eine Dämmerstimmung, welche sich unter anderem auch in allerlei seltsamen ästhetischen Moden ausdrückt. Alle diese neuen Richtungen, der Realismus oder Naturalismus, der Dekadentismus, der Neomystizismus und ihre Unterformen sind Kundgebungen der Entartung und Hysterie und mit deren klinisch beobachteten und unzweifelhaft festgestellten geistigen Stigmaten identisch. Entartung und Hysterie sind aber die Folge übermäßiger organischer Abnutzung, welche die Völker durch die riesenhaft gesteigerten Ansprüche an ihre Tätigkeit und durch das starke Anwachsen der Großstädte erlitten haben."

Nordau hielt es sogar für erwiesen, daß die Menschen nicht nur psychisch, sondern auch körperlich hinfälliger geworden seien. Neben einer ständigen Zunahme von Verbrechen, Wahnsinn und Selbstmorden sei eine vorzeitige Alterung des Durchschnittsmenschen festzustellen. Die Haare würden früher grau. Zahnärzte berichteten über ein früheres Morschwerden und Ausfallen der Zähne. "Alle die aufgeführten Anzeichen sind Folgen von Ermüdungs- und Erschöpfungszuständen und diese wieder sind die Wirkung der zeitgenössischen Gesittung, des Schwindels und Wirbels unseres rasenden Lebens, der ungeheuer gestiegenen Anzahl von Sinneseindrücken und organischen Gegenwirkungen, also Wahrnehmungen, Urteilen und Bewegungsantrieben, die sich heute in eine gegebene Zeiteinheit zusammendrängen." (5)

Nordaus "Entartung" war nicht rassisch geprägt

1937 präsentierte das NS-Regime die Werke verfemter Künstler in der Ausstellung "Entartete Kunst"

Blickt man ein Jahrhundert später auf Nordaus Thesen zurück, so ist einiges davon nach wie vor richtig, etliches abstrus, vieles fragwürdig und das Gesamtkonzept seiner "Entartungs"-Sicht fatal. Der Begriff "Entartung", damals noch frisch der Biologie und Medizin entnommen, um gesellschaftlichen Verfall zu denunzieren, gehört seit dem Nationalsozialismus zum "Wörterbuch des Unmenschen". Schon lange, bevor die Nazis "entartete" Kunst aus den Museen verbannten und "entartete" Menschen einsperrten und umbrachten, war er zu einer Kampflosung reaktionärer Demagogen verkommen.

Nordau, der seinerzeit zu den meistgelesenen Publikums-Autoren Deutschlands gehörte, ist daran sicher nicht unschuldig. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wieweit der Begriff der "Entartung", mit dem er den wissenschaftlichen Anspruch seiner Sichtweise zu unterstützen versuchte, nicht überhaupt erst durch sein Buch eingeführt und propagiert worden ist. Bezeichnenderweise hat der Begriff der "Dekadenz", der im Grunde dasselbe meinte und etwa zur selben Zeit aus dem Französischen ins Deutsche übernommen wurde, keine vergleichbare Diskreditierung erlebt. Ein Grund dafür dürfte sein, daß er weniger denunziatorisch als deskriptiv ist. Schon Montesquieu sprach von der "décadence" des niedergehenden Römischen Reiches. Steht somit der Begriff der Dekadenz für die absteigende Phase eines gesellschaftlichen Zyklus, sozusagen für eine zwangsläufige historische Erscheinung, so läßt der Begriff "Entartung" denselben Sachverhalt in anderem Licht erscheinen: Hier handelt es sich primär um eine Abweichung vom Gesunden, Natürlichen, Normalen. Der Begriff eignet sich damit vorzüglich für eine biologistische Betrachtungsweise, die anstelle der sozialen Natur des Menschen und deren besonderer Gesetze einen "Volkskörper" unterstellt.

Katalog zur NS-Ausstellung "Entartete Kunst"

Dennoch dürfen einige Unterschiede zwischen Nordau und seinen Nachfahren nicht übersehen werden. Zum einen lag es dem jüdischen Autor (der mit bürgerlichem Namen Südfeld hieß) reichlich fern, seinen "Entartungs"-Begriff völkisch oder rassisch zu verstehen. Lediglich an einer Stelle schleicht sich, aus Anlaß eines Wortspiels, das Wort "Rasse" ein. Und zwar spricht Nordau davon, daß "die Franzosen ihre eigene Greisenhaftigkeit dem Jahrhundert andichten und von 'Fin de siècle' sprechen, wo sie richtig 'Fin de race' sagen sollten". Prompt wurde dies von Lesern so gedeutet, daß alle Franzosen als entartet anzusehen seien. In einer Fußnote zu den späteren Auflagen seines Buches verwahrte sich Nordau gegen solches Mißverständnis. Er stellte fest, daß er damit lediglich die Fäulnis der "oberen Zehntausend" im Blick gehabt habe. Die Bauernschaft sowie Teile der Arbeiter- und Bürgerschaft seien gesund (6). - Die organizistische Betrachtungsweise vom an sich gesunden Volkskörper, wie sie später auch die Deutsch-Völkischen und die Nazis übernehmen, ist bei Nordau also durchaus vorhanden, aber nicht rassistisch geprägt.

Allgemein trennt Nordau von späteren "Entartungs"-Demagogen die Abneigung, ja der Haß gegen allen Irrationalismus und Mystizismus. Dieser Haß auf den Irrationalismus ist geradezu das Leitmotiv seiner ganzen Schmähschrift wider die "Entarteten". Allein sein Wüten gegen Nietzsche oder Wagner macht ihn zum Kronzeugen späterer faschistischer "Entartungs"-Theorien ungeeignet. Sein ganzes Buch ist von dieser merkwürdigen Zwiespältigkeit. Nordau versagt sich einerseits der herrschenden Ideologie der Jahrhundertwende mit ihrer Hinwendung zum Irrationalismus und Mystizismus. Er bekämpft sie sogar heftig. Andererseits bekämpft er sie mit geistigen Waffen, die längst stumpf geworden sind. Anstatt der Aufklärung eine Gasse zu bahnen, wie er meint, schickt er sie in eine Sackgasse, aus der es kein Entrinnen mehr gibt.

Mit stumpfen Waffen gegen Neu-Idealismus und Irrationalismus

Nordaus stumpfe Waffe ist ein seichter, platter Materialismus, der es bereits für den Gipfel wissenschaftlicher Erkenntnis hält, die Religion als Einbildung zu durchschauen und den Menschen als ein maschinenähnliches Aggregat aus Knochen, Fleisch, Blut, Sekreten und Nervenbahnen zu begreifen. Dieser Vulgärmaterialismus, der im politischen Raum mit dem Linksliberalismus korrespondierte, verharrte auf längst obsolet gewordenen Positionen der bürgerlichen Aufklärung. Daß an der Stelle des alten religiösen Aberglaubens plötzlich neue Widersacher entstehen, die einen offenen Idealismus und Irrationalismus verkünden, muß ihn um so mehr irritieren, als ihm die idealistischen Momente der eigenen Weltanschauung verborgen bleiben. Diese Irritation durchzieht Nordaus "Entartung" von der ersten bis zur letzten Seite, auf der er nochmals dazu aufruft, unbeirrt die alten Tugenden des Liberalismus und Vulgärmaterialismus zu verteidigen:

"Wir besonders, die es uns zur Lebensaufgabe gemacht haben, alten Aberglauben zu bekämpfen, Aufklärung zu verbreiten, geschichtliche Ruinen vollends niederzureißen und ihren Schutt wegzuräumen, die Freiheit des Individuums gegen den Druck des Staates und der gedankenlosen Philister-Routine zu verteidigen, wir müssen uns entschlossen dagegen wehren, daß elende Streber sich unserer teuersten Losungsworte bemächtigen, um mit ihnen Bauernfängerei zu treiben. Die 'Freiheit' und 'Modernität', der 'Fortschritt' und die 'Wahrheit' dieser Burschen sind nicht die unsrigen. Wir haben nichts mit ihnen gemein. Sie wollen Schwelgerei, wir wollen Arbeit. Sie wollen das Bewußtsein im Unbewußten ersäufen, wir wollen das Bewußtsein stärken und bereichern." (7)

Die politischen und geistigen Tugenden, die Nordau beschwört, hilft er indessen selbst untergraben, ohne es gewahr zu werden. Durchaus zu Recht warnt er vor den modernen Idealisten und Irrationalisten, die "das Bewußtsein im Unbewußten ersäufen" wollen. Zugleich beteiligt er sich aber an diesem Ersäufen, indem er den Begriff des "Unbewußten" unkritisch übernimmt. Mit einem Mode-Philosophen wie Eduard von Hartmann teilt er die Auffassung, daß beim Menschen "die eigentlich treibende Kraft seiner Gedanken und Taten die Emotionen sind, jene in den Tiefen der inneren Organe ausgearbeiteten Erregungen, deren Ursprung sich dem Bewußtsein entzieht, die plötzlich wie eine Horde von Wilden ins Bewußtsein einbrechen, nicht angeben, woher sie kommen, sich keiner Polizeiordnung des gesitteten Denkens fügen und gebieterisch Unterkunft fordern". Nordau merkt nicht, wie er damit hinter erkenntnistheoretische Positionen der bürgerlichen Aufklärung zurückfällt. Er meint im Gegenteil, eine "falsche Psychologie der Enzyklopädisten" rügen zu müssen, die nichts weiter gesehen hätten "als den engen Kreis des Seelenlebens, der vom Lämpchen des Bewußtseins aufgehellt ist". Damit alles seine materialistische Ordnung hat, weist Nordau das Unbewußte der "Tätigkeit der Organ-Nerven" und das Bewußte der "grauen Hirnrinde" zu. Damit auch die Vernunft zu ihrem Recht komme, warnt er außerdem davor, "nur noch das Unbewußte, nur noch den Erbtrieb und die organischen Begierden, gar nicht mehr Verstand und Willen, die doch auch vorhanden sind", gelten zu lassen" (8). - Daß das "Unbewußte" ein rein ideologisches Konstrukt ist, eine zeitgemäße Modifikation des alten Aberglaubens von der göttlichen Natur der Seele, vermag der wackere Streiter für die Aufklärung sowenig zu erkennen wie die historischen Wurzeln des Begriffs in der idealistischen Philosophie und Romantik. Es ergeht ihm in dieser Hinsicht wie einem anderen Vulgärmaterialisten namens Sigmund Freud, der zur selben Zeit auf das "Unbewußte" eine ganze psychologische Theorie zu gründen beginnt.

Dem bedrängten Kleinbürger auf den Leib geschrieben

Wie sich der Vulgärmaterialismus längst im Netz jener Ideologie verstrickt hat, die er zu bekämpfen vermeint, zeigt auch Nordaus biologistische Sichtweise der "entarteten" Gesellschaft. Wo er sich für den Vorkämpfer von Wissenschaft und Aufklärung hält, macht er in Wirklichkeit den Vorkämpfer reaktionärer Strömungen. Seine sozialdarwinistische Erwartung, daß die "Entarteten" durch den Ausleseprozeß der Natur den gesunden, lebenstüchtigeren Elementen der Gesellschaft unterliegen werden, enthält implizit die Anweisung, gegebenenfalls dem Ausleseprozeß nachzuhelfen. Er ist zwar noch liberal genug, seinen Ruf nach dem Irrenarzt zur Beurteilung von Kunstwerken nicht mit der Forderung nach entsprechendem Zwang gegen die "Entarteten" zu verbinden. "Die Polizei kann uns nicht helfen", schreibt er ausdrücklich. "Der Staatsanwalt und Strafrichter sind nicht die richtigen Beschützer der Gesellschaft gegen Verbrechen mit der Feder und dem Stifte ... Der Gendarm hat so oft im Dienste einer bevorrechteten Klasse, der unleidlichen Überhebung der Ämter, des Unfehlbarkeits-Dünkels von Ministern und sonstigen Regierungsmännern, des unwürdigsten Byzantinismus und des dümmsten Aberglaubens einschreiten müssen, daß er den Menschen nicht entehrt, dem er die schwere Hand auf die Schulter legt." Statt dessen wünscht sich Nordau, daß die "Entarteten" der sozialen Ächtung, durch das Verdikt der Presse und aus dem berufenen Munde von Irrenärzten, anheimgegeben werden (9).

Dennoch verrät diese Argumentation unübersehbar einen Verfall der liberalen Auffassung von der Freiheit des Individuums. Nordau unterstellt eine Gemeingefährlichkeit der "Entarteten", die es wie bei Irren rechtfertigen würde, in die Freiheit ihrer persönlichen Entfaltung einzugreifen. Letztlich hat er mehr opportunistische als grundsätzliche Einwände gegen ihre staatliche Bekämpfung.

Der Schriftsteller Max Nordau steht damit für weitaus mehr als für seine Person oder sein Leserpublikum. Er steht für einen sozialen, politischen und ideologischen Prozeß, der das Fin de siècle tatsächlich als Endzeit erscheinen läßt: als Endzeit der liberalen Epoche des Bürgertums. Ökonomisch ist der Kapitalismus inzwischen dem Stadium der freien Konkurrenz entwachsen. Der Dominanz des großen Industrie-, Handels- und Finanzkapitals entspricht die Dominanz der neuen, von ihm bekämpften Ideologie. In Deutschland sind es etwa Schopenhauer, Hartmann und Nietzsche, die in unterschiedlicher Weise die "Zerstörung der Vernunft" markieren, wie Georg Lukàcs diese Wende zum Neu-Idealismus, zum Irrationalismus und zur Lebensphilosophie auf philosophischer Ebene zu charakterisieren versucht hat. Sozial entspricht ihm die defensive Lage des Kleinbürgertums. Politisch äußert er sich im Niedergang der bürgerlichen Demokraten und der ideologischen Positionen des Liberalismus.

Nordaus "Entartung" ist dem sozial und geistig bedrängten Kleinbürger auf den Leib geschrieben. Sie vermittelt ihm die Illusion, in der neuen Phase der kapitalistischen Entwicklung nicht zum sozialen Abstieg verurteilt zu sein, sondern in Wirklichkeit zum "gesunden" Teil des Volkskörpers zu gehören. Die politische und geistige Dominanz der "oberen Zehntausend" wird dagegen als "Entartung" zur Kenntnis genommen, sozusagen als Entartung einer idealtypischen bürgerlichen Existenz, als deren eherner Maßstab die kleine und mittlere Bourgeoisie angesehen wird.

So hat Nordau mit seiner Warnung vor dem nervös-entarteten Geist des Fin de siècle mehr recht, als er weiß und sich selber eingestehen kann: Sein Buch ist selbst ein Zeugnis dieser "Entartung". Es ist von eben jenem Zeitgeist angekränkelt, den es zu bekämpfen vorgibt. Sein Begriff von geistiger Gesundheit ist zumindest ebenso "krankhaft" wie die Dekadenz-Kultur, gegen die er gewendet wird.