Udo Leuschner / Zur Geschichte des deutschen Liberalismus

Inhalt


Dialektik des Liberalismus

Ein Rundfunkvortrag von Willy Hellpach aus dem Jahre 1931

Den folgenden Rundfunkvortrag hielt Willy Hellpach am 24. November 1931 für die "Deutsche Welle" bzw. den Sender Frankfurt. Der handschriftlich verfaßte Text befindet sich im Nachlaß des ehemaligen DDP-Politikers, den das Badische Generallandesarchiv in Karlsruhe verwaltet, und wird hiermit zum ersten Mal seit 75 Jahren veröffentlicht. Er ist typisch für die resignative Stimmung am Ende der Weimarer Republik, als die Wähler der "bürgerlichen" Parteien in Scharen zu den Nationalsozialisten überzulaufen begannen. Siehe hierzu auch meine "Anmerkungen".

(Die kursiv gesetzten Passagen sind im handschriftlichen Originaltext unterstrichen)


 

Liberalismus.

Dem Liberalismus geht es heute nicht gut in der Welt. Seine festeste politische Position hält er noch in der französischen Republik und in der Schweiz. Es sind die beiden Länder Europas, welche wir anderen als die konservativsten empfinden, das heißt sie haben das Gepräge der Zeit vor 50 bis 70 Jahren, des mittleren Drittels des 19. Jahrhunderts, am meisten bewahrt: nämlich die wirtschaftliche und soziale Struktur eines breiten, im Ganzen gutsituierten Bürgertums und Bauerntums, ohne sehr große Gegensätze der Besitzverteilung, mit einer zugleich bescheidenen und behäbigen Lebensführung für den kleinen Mann, und mit der unschweren Chance für jeden, durch Talent und Leistung zu den höchsten Stellen im Staate zu gelangen. Sonst befindet sich in ganz Europa der Liberalismus in heftigem Niedergang seiner einstigen großen Stellung. In Italien ist er durch den fascismus völlig vernichtet. Auch in Ungarn, wo er einst sehr mächtig war, spielt er kaum eine Rolle mehr. In Rußland sind sogleich seine ersten Ansätze durch die bolschewistische Revolution verschüttet worden. In England ging er dreifach gespalten in die letzten Wahlen und konnte nur unter den Fittichen der Konservativen etwa ein Achtel der Parlamentsmandate für sich retten. In Deutschland ist sein entschiedener Flügel, der demokratische, im Laufe eines Jahrzehnts aus einer starken Partei zu einer winzigen Gruppe zusammengeschrumpft, und sein gemäßigter Flügel, die Deutsche Volkspartei, hat bei allen Wahlen der letzten Jahre die größte Verlustzeche zu bezahlen gehabt. Zwischen Nationalismus, Sozialismus und Katholizismus ist er hier immer erbarmungsloser zusammengedrückt worden. Vor einem halben Jahrhundert hatte er hier mehr als 60 Prozent aller Abgeordnetenmandate inne – im Reichstag von 1874 waren die Nationalliberalen dicht an die absolute Majorität herangekommen.

Diesem äußerlichen Niedergang entspricht ein innerlicher Geltungsverlust. Es gilt als "überwunden", liberal zu sein. Ganz besonders die junge Generation mag von diesem Namen und Begriff nichts mehr wissen. Sie hält die liberale Sache für überlebt, für vermodert. Sogar in der demokratischen Partei lehnte die Jugend die Anwendung des Wörtchens "liberal" geradezu mit eine Art Leidenschaft, mit betonter Heftigkeit ab. Allen bündischen Bewegungen ist alles, was mit Liberalismus zusammenhängt, Inbegriff des Überwundenen oder zu Überwindenden. Daß die jungkatholischen und die jungsozialistischen Scharen ähnlich eingestellt sind, ist sozusagen selbstverständlich. Und auch die kleinen Cirkel, die man innerlich als liberal in ihrer Grundauffassung ansprechen darf, vermeiden mit einer gewissen Scheu den Namen und haben farblosere Bezeichnungen vorgezogen. Dem Wort liberal traut man offenbar keine Werbekraft mehr zu.

Wenn man die Ursache dieses raschen und gründlichen Abstiegs ergründen will, muß man sich über das Wesen dessen ins Reine kommen, was als Liberalismus bezeichnet wird.

Wie jede geistige Bewegung in der Entwicklung der Menschheit zeigt der Liberalismus zwei Seiten, eine zeitweilige und eine unvergängliche Seite. Liberalismus ganz im allgemeinen ist die Überzeugung, daß auf der Einzelfreiheit die höchste Vollkommenheit des Erdendaseins beruhe; liberal sein, heißt überzeugt zu sein, daß das größte Maß von Erfolg und Glück des Individuums und das größte Maß von Gedeihen und Harmonie des Gemeinwesens verbürgt werde durch das größte mögliche Maß von Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung jedes Einzelnen. Offenkundig ist diese Überzeugung in der Menschennatur von Haus aus angelegt, sie ist eine Uranlage, eine ursprüngliche Triebrichtung des Menschen, man könnte sie auch ein Urverlangen, eine Ursehnsucht nennen. Fast keinem Menschen fehlt dieser Freiheitstrieb ganz, für irgendeinen Bezirk des Lebens existiert er in jedem von uns, sogar in sonst despotischen Naturellen oder in Konventionsmenschen – irgendwo lechzt ihr Innerstes nach Freiheit, sei es in der Liebe, oder der Freundschaft, oder in gewissen Liebhabereien, oder in der Kunst, oder im Glauben, selbst in Schrullen oder Spleenen, als sogenannte Narrenfreiheit. Der Freiheitsdrang ist gewiß nicht der einzige menschliche Antrieb, andere stehen ihm gegenüber, die ihm genau entgegengesetzt sind, aber er ist ein menschlicher Urtrieb von unausrottbarer Existenz, er ist immer wieder hervorgebrochen, mochte er auch noch so lange gefesselt oder verschüttet gewesen sein. In irgend einem Winkel unserer Seele sind und bleiben wir alle freigeboren, und das heißt wörtlich: liberal, denn das lateinische Wort "liberalis" ist die Bezeichnung für alles, was mit der Freigeborenheit eines Menschen zusammenhängt. Insofern gibt es in der Menschheit ein Ewigliberales, das nicht vernichtet werden und nicht überlebt werden kann. Liberalismus aber bedeutet etwas anderes; Liberalismus bedeutet, aus diesem Ewigliberalen, aus dieser urtümlichen Freigeborenheit der Menschennatur, ein System von Überzeugungen und Forderungen, von Grundsätzen und Einrichtungen machen, durch welche jedem Menschen ein höchstes Maß von persönlicher Freiheit sichergestellt wird. Der Liberalismus ist eine geschichtliche Bewegung, die daraus ausgeht, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Kultur, im Staate und im Rechte jedem Einzelnen so viel individuelle Freiheit als möglich zu verschaffen, weil er, der Liberalismus, die Überzeugung hat, daß es dabei sowohl dem Einzelnen wie der Gesamtheit am allerbesten gehen werde.

Schon daraus ergibt sich eigentlich, daß der Abbau von Einrichtungen, die Auflockerung von Ordnungen die stärkere Seite des Liberalismus sein muß, und der Aufbau von Einrichtungen, die Befestigung von Ordnungen seine schwächere Seite, die ihn in Schwierigkeiten bringt; denn Einrichtungen, Ordnungen bringen unweigerlich Freiheitsbeschränkungen mit sich, darin liegt ihr Wesen; in der Tat hat der klassische Liberalismus die Tendenz gehabt, mit einem möglichst geringen Aufwand an Einrichtungen und Gesetzen, an Ordnungen und Verordnungen auszukommen – seine Gegner haben ihm vorgeworfen, daß er zum Beispiel den Staat in eine Nachtwächterstellung degradiere. Dieses Schlagwort vom "Nachtwächterstaat" hat in den Kämpfen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bei den Widersachern der Liberalen eine große Rolle gespielt; es soll ja besagen, daß dabei der Staat auf eine ganz subalterne Funktion zurückgedrückt werde (Schutz gegen lichtscheues Gesindel) und seiner positiven, schöpferischen Seiten verlustig gehe. Die Schrift des jungen Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem "Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit von Staaten zu bestimmen" (1792), zieht in Hinsicht auf Geist, Erziehung, Kultur dem Staat die engsten Grenzen. Sie ist eine klassische Urkunde des aufkommenden deutschen Liberalismus. Das ist ja klar, wo der Staat, wo die Staatsgewalt sehr breit und stark ist, dort kann schwerlich der Einzelne sehr frei sein; wo der Staat mit seinen Vorschriften das Dasein regelt, dort hört die persönliche Bestimmung des Daseins auf. Vielverordnerei und drakonische Staatsgewalt sind dem Wesen nach mit Liberalismus so wenig vereinbar, wie Gleichmacherei und Massenrégime. Jeder echte Liberalismus, der sich nicht selber verleugnen und seinen Namen mißbrauchen will, muß darauf eingestellt sein, die Beschränkung des wirtschaftenden, schreibenden, redenden, bildenden, sich gesellenden, liebenden und zeugenden, wohnenden oder wandernden Menschen durch den Staat so wie wie möglich zurückzudrücken, der Individualität so viel Selbstbestimmungsspielraum wie möglich zu verschaffen.

Als so geartete Bewegung hat der Liberalismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine gewaltige, weltgeschichtliche Sendung vollzogen in Gestalt des Abbaus oder Umbaus, der Zertrümmerung oder Auflösung der großen despotischen, feudalen, zünftigen Bindungen und Gewaltsysteme, der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschafts- und Wirtschaftsformen, des Feudalismus, Corporativismus und Absolutismus. Schon da hat er bewiesen, daß Befreiung ihm besser zu gelingen pflegt als Neuschöpfung; denn erst die Gewaltherrschaft Napoleons hat auf dem Trümmerfelde der französischen Revolution einen soliden neuen Staat errichtet, die Schöpfung des deutschen Nationalstaates durch die liberale Bewegung 1848 auf 49 mißglückte, sie wurde in den sechziger Jahren im harten Kampfe mit dem eigentlichen Liberalismus durch die wesentlich konservativen Gewalten Preußens geleistet, und selbst in England zeigt allein der starke und entscheidende Anteil der Tories an den großen Staatsreformen im 19. Jahrhundert, wie oft liberale Figuren und Kräfte in solchen Stunden dem unliberalen Partner das Feld überlassen mußten. Jedoch, wie dem auch im Einzelnen sei – der Liberalismus mußte nach so großen historischen Leistungen, wie es die Überwindung der alten Herrschafts- und Wirtschaftssysteme war, dem unerbittlichen Gesetz aller geistigen und sittlichen Fortentwicklung unterliegen, das in seiner ganzen Tragweite von Hegel aufgedeckt worden ist, dessen wir auch in dieser Stunde voll tiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit gedenken wollen. Es ist das dialektische Fortschreiten über sich selber hinaus, das auch der Liberalismus an sich erfahren mußte – was heißt das aber? – Es heißt, daß, nach Hegels Lehre, jede These des Geistes eine Antithese erzeugt, mit der sie sich unter langem Ringen endlich zu einer Synthese verbindet, wodurch sie selber überwunden wird. In diesem Sinne haben ja die an geschichtlicher Tragweite bedeutendsten Hegeljünger, Marx, Engels und Lassalle, die Begründer des systematischen Sozialismus, den Kapitalismus als These, die proletarische Arbeiterbewegung als die dadurch provozierte Antithese gelehrt: der verwirklichte Sozialismus stellt dann die künftige Synthese dar, in der alle technischen Vervollkommnungen und Großartigkeiten des Kapitalismus bewahrt und gesteigert werden sollen, während die kapitalistische Ertragsverteilungsform sozialistisch überwunden wird. Wir benutzen hier diesen Fall nur als Beispiel zur Verdeutlichung des dialektischen Gesetzes. In Wirklichkeit freilich vollzieht sich der dialektische Prozeß wesentlich verwickelter, als Hegel und seine damaligen Jünger es gemeint haben, und es wird die größte und schönste Aufgabe der neu erwachten Hegelbewegung sein, in diese verzweigtere Wirklichkeit der dialektischen Einzelvorgänge in der Geschichte ein- und vorzudringen. Wir müssen uns hier mit einer knappen Andeutung begnügen, die uns aber das tatsächliche Schicksal des Liberalismus ebenso überraschend widerspiegelt, wie sie uns lehrt, es als ein notwendiges Schicksal zu begreifen.

Jede Bewegung, jedes Erreichte in der Weltgeschichte führt nämlich zu einer doppelten Überwindung von sich selber, nicht bloß zu einer einfachen; gelehrt können wir auch sagen, jede These schafft als Widerpart zu sich nicht bloß eine Antithese, sondern auch eine Hyperthese. Was heißt, am Liberalismus verdeutlicht: Die Verwirklichung des Liberalismus prellt erstens über ihr eigenes Ziel hinaus. Sie übersteigert ihren eigenen Grundgedanken und wird damit zu ihrem eigenen Widersacher; in diesem Sinne ist die Demokratie die eigentliche Hyperthese des Liberalismus, denn sie ist erst einmal seine stärkste Steigerung – sogenannter "entschiedener Liberalismus" und Demokratie decken sich eine Zeitlang – aber sie wird durch die immer freiheitlicheren Einrichtungen, die sie schafft, endlich zum Totengräber der individuellen Freiheit; um vermeintlich die persönliche Freiheit bis ins Kleinste hinein sicherzustellen, wird die Freiheit allmählich immer mehr durch Gleichheit ersetzt, bis sie immer vollkommenere, immer algebraischere Gleichheit – zum Beispiel im gleichen Wahlrecht und gar im Proportionalwahlsystem – immer mehr die individuellen Besonderheiten auslöscht, deren freie Entfaltung doch gerade ein Hauptstück in der Herstellung wirklicher Freiheit sein sollte. Das ist ein Hyperthesenbeispiel aus dem politischen Leben; aus dem Wirtschaftsleben kann man den sogenannten "freien Arbeitsvertrag" heranziehen, diese liberale Errungenschaft, welche die wirtschaftlich Schwächeren in Wahrheit zum völlig unfreien Ausbeutungsobjekt der wirtschaftliche Stärkeren gemacht hat. Neben dieser hyperthetischen Selbstaufhebung geht aber die eigentlich antithetische einher: Jede Verwirklichung eines Ideals in der Geschichte ruft ihre Gegenkräfte auf den Plan, die das Verwirklichte zu beseitigen trachten. Und wieder spalten diese Gegenkräfte sich in eine Doppelung auf: Gegen den Liberalismus zum Beispiel stehen konservative und stehen sozialistische Gegenkräfte auf, so stehen gegen jede Macht, die am Ruder ist, Gegenkräfte auf, die hinter sie zurück und andere, die über sie hinaus wollen. Diese an sich einander ganz entgegengesetzten Widerparte einer herrschenden Idee können sich zeitweilig zum Sturze dieser Idee miteinander verbinden: In solchem Zeichen fanden sich zum Beispiel vor fast 70 Jahren Bismarck und Lassalle, in diesem Sinne sehen wir auch heute in der Welt vielfach reaktionäre und revolutionäre Kräfte zeitweilig im Bündnis miteinander gegen ein Herrschendes – ihre Feindschaft gegeneinander bleibt davon unberührt.

Diese dialektische Grundtatsache sieht also so aus, daß jede Idee, die sich verwirklicht, doppelt überwunden wird, nämlich durch Übersteigerung ihrer selbst (Hyperthese) und durch Erweckung ihres Gegenteils (Antithese); die Erweckung des Gegenteils ist aber, genau betrachtet, auch wieder die Erweckung von zwei Gegenteilen, von denen einer über die herrschende Idee hinaus und eines hinter sie zurück will. Diesen immer wieder nach einem ihm innewohnenden Gesetz sich zwiefach aufspaltenden Vorgang wollen wir in einem mathematischen Gleichnis das dialektische Binom in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung nennen.

Das dialektische Binom des Liberalismus präsentiert sich nun also folgendermaßen: Der Liberalismus ist in Gefahr geraten einmal durch Übersteigerung seiner selbst in der Demokratie, zum anderen durch Erweckung der ihn verneinenden Gegenkräfte; diese wiederum teilen sich in konservative, die hinter ihn zurück, und in sozialistische, die über ihn hinaus streben. Wir vermögen aber auch schon deutlich zu sehen, wie der binomiale Prozeß sich fortsetzt: Jede der beiden Gegenkräfte hat wenigstens teilweise sich schon mit der Demokratie verbündet: Der Sozialismus in Gestalt der Sozialdemokratie, der Konservatismus vor allem auf dem Boden des Centrums, als katholische Demokratie, aber in der weiteren Entwicklung dürften auch die nationalistischen Erscheinungsformen des Konservatismus und des Sozialismus sich wesentlich demokratisieren; mit anderen Worten, die Hyperthese des Liberalismus, die Demokratie, wird von seinen beiden Antithesen, Konservatismus und Sozialismus gleichsam aufgesogen, und das nächste Binom steht in der Alternative vor uns, ob ein demokratisierter Sozialismus oder ein demokratisierter Nationalismus die Oberhand gewinnt. Die sorgfältige Analyse des dialektischen Binoms führt geradezu auf das praktische Hauptproblem der nächsten politischen Zukunft. Eine glänzendere Rechtfertigung des sinnvoll fortgebildeten Hegel'schen Denkverfahrens kann es gar nicht geben.

Dieser Entwicklungsprozeß im dialektischen Binom zeigt uns zugleich (was die Praxis ebenfalls bestätigt), daß es in erster Linie der geistige Gesamtvorgang des Liberalismus ist, welcher der Überwindung vor unseren Augen anheimfällt. Im einzelnen ist noch viel praktischer Liberalismus lebendig und lebensfähig, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Sehr große Teile des Volkes werden zum Beispiel noch lange nicht auf die liberalen Güter der Freizügigkeit und der Gewissensfreiheit verzichten wollen, obwohl sie den Liberalismus als Gesamthaltung zum Leben verneinen; ja gerade die Jugend, die den Liberalismus besonders schroff ablehnt, hat ihn zum Beispiel im erotischen Lebensbezirk und gegenüber dem Elternhause erst recht zum Durchbruch gebracht. Teilweise bis zu den extremsten Graden hin pocht sie auf das Recht persönlicher Selbstbestimmung der heranwachsenden Menschen. Aber alles dies darf uns nicht darüber täuschen, daß der Liberalismus, die Bejahung der individuellen Freiheit als der Lebensachse des gesamten Daseins, erschüttert ist und anderen Lebenshaltung weicht, in denen viel stärkere, zum Teil drakonische Bindungen des Ich an kollektive Normen und Formen vorherrschend sind.

Ein Wiederaufstieg einmal überwundener Systeme zur wirklichen Herrschaft kommt in der Geschichte niemals vor; er ist also auch für den Liberalismus nicht zu erwarten. In der ganzen abendländischen Kultur werden die liberalen Grundsätze, Forderungen, Gewohnheiten und Einrichtungen fortschreitend sich auflösen und umwandeln. In verschiedenen Ländern wird sich das in verschiedenem Tempo und in verschiedenen Formen abspielen, aber dem Wesen nach wird es derselbe Schwundprozeß sein. In Deutschland hat dieser Schwund noch die besonders tragische Note, daß hier, mit der einzigen einen Ausnahme des Landes Baden, der Liberalismus überhaupt nicht zur vollen Ausreifung seiner Wirklichkeit gelangt ist. Er welkt hier als ein Strauß von Knospen, denen es nie beschieden war, aufzublühen.

Jedoch die Geschichte kennt ebensowenig einen völlig Energieschwund. In ihr geht keine geistige Macht jemals ganz zugrunde. Der freiheitsuchende Urtrieb der Menschenrechte, ihr Ewig-Liberales, bleibt vom Niedergang und Untergang des historischen Liberalismus unberührt. Gerade in der nächsten Zukunft wird die Bewahrung dieses unverlierbar Liberalen, diese Ur-Liberalismus der Menschennatur, eine wichtige, heilsame Korrektur entgegengesetzter Systeme sein. Wesentlicher, als um jeden Preis den liberalen Namen, liberale Parteien und Gruppen, liberale Programme zu galvanisieren, wesentlicher ist es gerade für den im letzten Grunde liberal gearteten Menschen, inmitten anderer Lager das notwendig und unverlierbar Freiheitliche, Persönliche, Selbstverantwortliche bis zum äußerst möglichen Maß hin zur Geltung zu bringen. Nationalismus; Katholizismus, Sozialismus, ja selbst fascismus und Bolschewismus, ob sie es wahrhaben oder nicht, brauchen in ihren Organismen das Vitamin liberaler Haltung zu Dasein, wenn sie nicht an ihrer eigenen Übersteigerung vorzeitig zugrunde gehen, sozusagen im eigenen Fett ersticken sollen.

Oder um es in einem anderen Bilde auszudrücken: Auch für den Kurs, der von seinen Küsten wegsteuert, bleibt der Liberalismus vielleicht ein winziges, und doch ein wichtiges Blinkfeuer hinaus in Nacht und Sturm, die gerade unsere deutsche Staatsschiffahrt wie selten zuvor umdunkeln und umwettern.

Ende.