Udo Leuschner / Geschichte der FDP (57)

16. Bundestag 2005 - 2009


"Heute ist ein Tag der Unfreiheit"

Die neoliberal entfesselte Finanzwirtschaft ruiniert Staatshaushalte und Realwirtschaft, aber die FDP stellt sich schützend vor bankrotte Banken

Das einschneidendste Ereignis der 16. Legislaturperiode war die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, die aus heiterem Himmel über Deutschland und andere Staaten hereinbrach. Zumindest hatte sie keiner jener neunmalklugen Wirtschaftsexperten vorhergesehen, die landauf landab das Credo des Neoliberalismus herunterbeteten und den Glauben an den alleinseligmachenden Markt mit Hilfe der ebenfalls neoliberal ausgerichteten Leitmedien von "FAZ" über "Spiegel" bis zu "Bild" zu einer Art Staatsreligion erhoben.

Die Krise begann im April 2007 in den USA, als dort Immobilienkredite platzten, die von Anfang an faul gewesen waren, aber wegen der unzulänglichen staatlichen Finanzaufsicht jahrelang angehäuft werden konnten. Das Debakel nahm schnell internationales Ausmaß an, da die faulen Kredite in Form von hochkomplizierten Finanzinstrumenten über die ganze Welt gestreut worden waren. In Deutschland geriet im Juni 2007 die IKB Deutsche Industriebank ins Wanken. Auch verschiedenen Landesbanken stand plötzlich das Wasser am Hals. Die IKB entging nur deshalb dem Zusammenbruch, weil sie staatliche Milliardenhilfen bekam und unter die Fittiche der Staatsbank KfW schlüpfen durfte. WestLB und Bayern LB mußten ebenfalls durch Milliarden-Spritzen des Staates und der Sparkassen gerettet werden. Die SachsenLB wurde von der Landesbank Baden-Württemberg übernommen.

Das war aber nur das Vorspiel. Im Laufe des Jahres 2008 häuften sich in den USA die drohenden Zusammenbrüche von Geldinstituten. Durch verschiedene Übernahmen und staatliche Interventionen konnte das Schlimmste eben noch verhindert werden. Beispielsweise stützte die US-Regierung den weltgrößten Versicherungskonzern AIG mit 85 Milliarden Dollar. Für die Investmentbank Lehman Brothers, die ebenfalls vor der Pleite stand, wollte sie aber nicht mehr den Retter spielen. Lehman Brothers brach deshalb am 15. September 2008 tatsächlich zusammen. Die Folgen waren so verheerend, daß die US-Regierung noch im selben Monat 700 Milliarden Dollar zur Stabilisierung der Wirtschaft bereitstellen mußte. International machte sich nun Panik breit. In Deutschland übernahm am 5. Oktober die Bundesregierung eine Garantie für sämtliche privaten Spareinlagen im Wert von 568 Milliarden Euro, um einen Run auf die Banken zu verhindern. Am 10. Oktober beschlossen die Finanzminister der sieben wichtigsten Industriestaaten, jede "systemwichtige" Bank zu retten. In Deutschland gehörte dazu vor allem die Hypo Real Estate (HRE). In Windeseile beschloß das Parlament ein "Finanzmarktstabilisierungsgesetz", das den Banken 500 Milliarden Euro an frischem Geld und Garantien gewährte.

Das "Finanzmarktstabilisierungsgesetz" war eigentlich ein Gesetz zur Destabilisierung des Staatshaushaltes. Die Bereitwilligkeit, mit der hier der Staat hunderte von Milliarden zur Stützung von Banken bereitstellte, kontrastierte in bizarrer Weise mit der neoliberalen Knausrigkeit, die "Hartz IV" und ähnliche Zumutungen hervorgebracht hatte.

Angeblich gibt es keine Alternative zur Rettung der Banken mit Steuergeldern

Es wäre sicher billiger gekommen, wenn der Staat die Banken wie jeden anderen Bankrotteur der Pleite überlassen hätte. Er hätte dann deren Konkursmasse ohne Zahlungsverpflichtungen übernehmen und beispielsweise die Fortführung des Kreditgeschäfts oder die Auszahlung von Spareinlagen freiwillig garantieren können. Aber das ging angeblich nicht. Man tat so, als ob es keine Alternativen gäbe. Plötzlich galt jede größere Bank als "systemrelevant" und mußte unbedingt mit Unsummen gerettet werden, damit die Gesamtwirtschaft nicht noch mehr Schaden erleide. Daß dabei höchstwahrscheinlich der Staatshaushalt und der Geldwert zugrunde gingen, galt als ebenso bedauerlich wie unvermeidbar.

Die eigentlichen Nutznießer dieser Sichtweise waren die Eigentümer von Banken wie Lehman Brothers oder HRE, die es wirklich verdient hätten, dem Bankrott überlassen zu werden. Die neoliberal entfesselte Finanzwirtschaft trug längst parasitäre Züge. Ursprünglich diente sie dazu, den Motor der Realwirtschaft mit dem notwendigen Schmiermittel in Form von Kapital zu versorgen. Inzwischen war sie aber zum Selbstzweck geworden. Anstatt sich mit Kreditzinsen und einer angemessenen Rendite zu begnügen, hatten die Jongleure des Finanzmarktes immer neue Instrumente erfunden, um möglichst viel Geld zu scheffeln. Die tollsten Blüten trieb der Handel mit sogenannten Derivaten, die im mittlerweile abgeschafften Paragraphen 762 des Bürgerlichen Gesetzbuches noch als eine Form des Glücksspiels und damit als unseriöses Geschäftsgebaren verpönt worden waren.

Der Finanzmarkt glich so inzwischen einem Spielkasino, in dem fortlaufend Wetten zu Lasten der Realwirtschaft abgeschlossen wurden. Entgegen einer verbreiteten Ansicht kann Geld nun mal nicht "arbeiten". Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung findet ausschließlich im Bereich der realen Wirtschaft statt, in dem Industrie, Handwerk, Handel und Dienstleister tätig sind. Wenn der Chef der Deutschen Bank ein Renditeziel von 25 Prozent zur Norm erhob, mußte er dieses Ziel deshalb notwendigerweise auf Kosten der Realwirtschaft erreichen, die von solchen Renditen nur träumen konnte.

Andererseits blieb die Finanzwirtschaft unentbehrlich, um die Realwirtschaft mit dem Schmiermittel Geld zu versorgen. Deshalb – und hier setzte die bereits erwähnte Argumentation an – sollten die Banken vor der wohlverdienten Pleite bewahrt werden. Nach vorherrschender Meinung hätte sonst eine Pleite die nächste nach sich gezogen und am Ende wie beim Domino das ganze Finanzwesen kollabieren lassen. Dies hätte wiederum die Realwirtschaft in eine schwere Krise mit unabsehbaren Folgen gestürzt. Schon jetzt waren die Folgen der Bankenkrise schlimm genug: Im Januar 2009 lag die deutsche Industrieproduktion um fast zwanzig Prozent unter dem Vorjahresstand.

FDP schreit Zeter und Mordio wegen des "Rettungsübernahmegesetzes"

Die Finanzwirtschaft spielte also gewissermaßen die Rolle eines Geiselnehmers, der seinem Opfer – der Realwirtschaft – die Pistole an die Schläfe hält und mit dessen Erschießung droht, falls ihm kein Fluchtfahrzeug zur Verfügung gestellt wird. Wer dieses Bild für überzogen hält, braucht sich nur die Debatte um das sogenannte "Rettungsübernahmegesetz" zu vergewärtigen, das der Bundestag am 20. März 2009 verabschiedete. Es handelte sich um eine Ergänzung des vor fünf Monaten in aller Eile beschlossenen Finanzmarktstabilisierungsgesetzes. Das Gesetz war dazu gedacht, insolvente Finanzinstitute von "systemrelevanter" Bedeutung durch vorübergehende Verstaatlichung vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es war bis Ende Juni befristet und praktisch nur auf die Retttung des schwer angeschlagenen Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate zugeschnitten. Letzten Endes ging es nicht einmal um eine Verstaatlichung der Bank, sondern um den Aufbau einer Drohkulisse zur Minderung der Kosten für die staatliche Rettungsaktion. Diesen Zweck erfüllte das Gesetz dann auch tatsächlich, denn der Bund erlangte die Kapitalmehrheit der HRE auf privatwirtschaftlichem Wege, ohne von der Verstaatlichung Gebrauch machen zu müssen.

Das Gesetz kam deshalb zustande, weil die HRE-Aktionäre ihre wertlos gewordenen Anteile an der Pleite-Bank nicht zum realen Schrottpreis überlassen wollten, sondern die staatliche Rettungsaktion als Gelegenheit zur persönlichen Sanierung begriffen. Sie benahmen sich wie ein Geiselnehmer, der ein bereits schwer verletztes Opfer, das dringend ärztlicher Hilfe bedarf, nicht loslassen will, ohne daß ihm freier Abzug und ein hohes Lösegeld gewährt wird. Die Rolle des Erpressers spielte vor allem der US-amerikanische Großaktionär Christopher Flowers, der erst im Juni 2008 mit knapp 25 Prozent bei der HRE eingestiegen war, obwohl sich schon damals abzeichnete, daß die Bank unter der internationalen Finanzkrise litt. Flowers hatte wohl gehofft, durch den drastisch gesunkenen Kurs der HRE-Aktien ein Schnäppchen machen zu können. Nun, da er sich verrechnet hatte, wollte er seine wertlos gewordenen Aktien so teuer wie nur möglich an den Staat verkaufen, bevor dieser zur Rettung der Bank schreiten durfte.

Zum Anwalt dieses US-amerikanischen Spekulanten, der sich auf Kosten des deutschen Staats bereichern wollte, machte sich nun ausgerechnet die FDP, die sonst gern als Anwalt der Steuerzahler auftrat. Sie schrie Zeter und Mordio, als das Gesetz im Bundestag verabschiedet wurde, weil es einen unerhörten Angriff auf das Eigentum und einen Schritt in Richtung Sozialismus darstelle. Sie ließ sich auch nicht dadurch besänftigen, daß die Bank nach erfolgter Sanierung durch den Staat sofort wieder privatisiert werden sollte. Keine Kritik übte sie dagegen an einem wirklich problematischen Punkt des Gesetzes, der darin bestand, daß die Reprivatisierung nicht an die Rückzahlung der aufgewendeten staatlichen Gelder gekoppelt worden war.

"Heute ist ein Tag der Unfreiheit", begann unter dem Gelächter eines Teils der Abgeordneten der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle seinen Debattenbeitrag im Bundestag . "Heute wird eine Grundachse verschoben. Heute wird ein Tabu gebrochen. Der Schutz des privaten Eigentums wird torpediert."

In dieser Tonart ging es dann weiter. "Das Rettungsübernahmegesetz ist ein Schlag gegen unsere Wirtschaftsordnung", lamentierte Brüderle. Die FDP habe das Finanzmarktstabilisierungsgesetz mitgetragen. Das sei ihre "patriotische Pflicht" gewesen. Genauso sei es aber heute ihre Pflicht, gegen dieses "Enteignungsgesetz" zu stimmen. Die Bundesregierung untergrabe das Fundament der "sozialen Marktwirtschaft" seit Jahren. Beispielsweise habe sie mit der Einführung garantierter Mindestlöhne die "Tarifautonomie ausgehebelt". Das sei aber jener "Weg in die Knechtschaft", von dem Hayek gesprochen habe. "Ich hoffe nicht, daß wir diesen Weg gehen. Ich will, daß wir freie Bürger bleiben."

Die Bundestagsfraktion der Linken kritisierte dagegen, daß das Gesetz die Reprivatisierung der HRE nach erfolgter Sanierung durch den Staat vorschrieb, ohne diese von der Rückzahlung der aufgewendeten Gelder abhängig zu machen. Wie schon bei den Milliardenhilfen für IKB und Commerbank würden damit Steuergelder veruntreut, sagte der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi. Dann wandte er sich dem eigenartigen Freiheitsbegriff des FDP-Politikers Brüderle zu, der sich so vehement für die Interessen des HRE-Großaktionärs Christopher Flowers ins Zeug legte:

"Was Sie unter Freiheit und Eigentum verstehen, das müssen Sie mir einmal erklären. Wenn ein Bäcker pleite ist, verliert er seine ganze Bäckerei. Darum kümmern Sie sich keine Sekunde lang. Bei Herrn Flowers aber kämpfen sie um sein Eigentum, obwohl er uns die 'pleiteste Bank der Geschichte' hinterläßt. Das ist nicht mehr nachzuvollziehen. Was haben Sie denn für einen Freiheitsbegriff?"

Trotz weltweiten Scheiterns des Neoliberalismus feiert die FDP triumphale Erfolge

Man hätte annehmen können, daß nun der Neoliberalismus und seine politischen Bannerträger endgültig in Mißkredit geraten würden. Dem war aber nicht so. Zwar geriet der Neoliberalismus als Begriff noch mehr in Verrruf. Dieses Etikett wollte sich keine Partei mehr umstandslos anhängen lassen, nicht einmal die FDP. In der Sache änderte sich aber praktisch kaum etwas, außer daß nun die Staatshaushalte die Verschuldungsgrenze weit überschritten, die ihnen von der EU vorgegeben war. In der Finanzwirtschaft ging nach einer kurzen Schreckpause das alte Spielkasino wieder los, als ob nichts geschehen wäre. Und in den Medien gaben weiterhin dieselben neunmalklugen Wirtschaftsexperten den Ton an: Sie erklärten nun wortreich, weshalb das ganze Schlamassel eigentlich darauf zurückzuführen sei, daß die Maximen des Neoliberalismus nicht richtig oder konsequent genug beachtet worden seien.

Am erstaunlichsten war aber, daß die FDP ihren Höhenflug bei den Wahlen fortsetzen und noch steigern konnte. Mit der Ausnahme von Berlin verzeichnete sie bei allen 16 Landtagswahlen Stimmenzuwächse bis zu 8,3 Prozentpunkte. Die Erfolgsserie riß auch nicht ab, nachdem die von den USA ausgehende Finanz- und Wirtschaftskrise im Sommer 2007 auf Deutschland übergegriffen hatte. Im Gegenteil: Ihre größten Erfolge erzielte die FDP erst jetzt, wie das für Bayern geradezu traumhafte Ergebnis von 8 Prozent zeigt, mit dem sie 2008 nach 14 Jahren zum ersten Mal wieder in den Landtag einziehen konnte. Bei den vorgezogenen Neuwahlen in Hessen übertraf sie Anfang 2009 das ohnehin schon gute Ergebnis vor einem Jahr und legte gleich um 6,8 Prozentpunkte auf 16,2 Prozent zu. Durchweg starke Zuwächse erzielte sie auch bei den Wahlen an der Saar, in Sachsen und Thüringen im August 2009. Einen Monat später konnte sie bei den Wahlen in Brandenburg und Schleswig-Holstein – die gleichzeitig mit der Wahl des neuen Bundestags stattfanden – die vor fünf bzw. vier Jahren erzielten Ergebnsse sogar mehr als verdoppeln.

Das sah ganz danach aus, als ob das "Projekt 18" ein paar Jahre nach dem Tod seines Erfinders Jürgen Möllemann doch noch aufgehen würde. Zumindest in Hessen war die magische Zahl in greifbare Nähe gerückt. Hatte man Guido Westerwelle zu früh verspottet, weil er im Bundestagswahlkampf 2002 mit "18 %" auf den Schuhsohlen kokettierte?

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