Udo Leuschner / Geschichte der FDP (56)

16. Bundestag 2005 - 2009


Wie faul ist Koch-Mehrin?

Der Erfolg der FDP bei den EU-Wahlen zeigt, daß es hauptsächlich auf mediale Präsenz ankommt

Bezeichnend für den Rückenwind, der die Wahlergebnisse der FDP ab 2007 in die Höhe pustete, war ihr Abschneiden bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 7. Juni 2009. Sie verbesserte hier ihr Ergebnis von 6,1 auf 11 Prozent und schickte zwölf statt sieben Abgeordnete ins Brüsseler Parlament. Diese verfügten nun dort mit anderen Abgeordneten wirtschaftsnaher Parteien über eine bequeme Mehrheit. Schon bisher vereinten die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) und die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) über 49 Prozent der Mandate auf sich. Nun entfielen auf diese beiden Parteien und die von der Volkspartei abgespaltene neue Fraktion "Europäische Konservative und Reformisten" (ECR) rund 55 Prozent der Sitze.

Die Europa-Wahl konnte als ein besonders zuverlässiger Testlauf für das Abschneiden der FDP bei den bevorstehenden Bundestagswahlen gelten, wenn man vor allem den Trend nahm und die Ergebnisse etwas nach oben korrigierte. Anders als bei den Landtagswahlen störten hier keine spezifischen Probleme und Interessenlagen. Sie war im wesentlichen eine reine Sympathie-Wahl. Kaum ein Wähler verband mit dem Europäischen Parlament eine genauere Vorstellung. Allenfalls wußte man, daß es noch immer nicht sehr viel zu sagen hatte, und daß die Mandate dort so etwas wie Versorgungsposten für verdiente Parteipolitiker waren ("Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa").

Von den sieben FDP-Abgeordneten, die zur ALDE als drittstärkster Fraktion im Parlament zählten, war nur Silvana Koch-Mehrin einem größeren Publikum namentlich bekannt. Sie galt als Entdeckung und Ziehkind Westerwelles, der sie durch eine Werbeagentur erfolgreich zur Spitzenkandidatin bei den EU-Wahlen 2004 aufbauen ließ. Sie war nicht als profilierte politische Persönlichkeit gewählt worden, sondern hauptsächlich aufgrund einer geschickten Öffentlichkeitsarbeit und wegen des hübschen Gesichts, mit dem sie von den Plakatwänden lächelte. Bundesweit bekannt wurde auch ihr nackter Bauch, mit dem sie in der Illustrierten "stern" posierte, als sie schwanger war.

Populistische Sprüche statt Sacharbeit

Als die FDP im Januar 2009 ihre Kandidatenliste zur Europawahl vorstellte, stand die 38-jährige Ex-Lobbyistin erwartungsgemäß wieder an der Spitze. Eines ihrer europapolitischen Lieblingsthemen war der "Wanderzirkus" des Parlaments zwischen den beiden Tagungsstätten Brüssel und Straßburg, der die Steuerzahler jährlich 200 Millionen Euro koste. Mit Fakten nahm es die Spitzenkandidatin nicht so genau. Beispielsweise empörte sie sich im Juni 2009 in einem Zeitungsinterview über die globalisierungskritische Organisation Attac, die EU-Gelder erhalte, mit denen sie dann Aktionen gegen die EU finanziere. Attac hatte jedoch nie Zuwendungen von der EU erhalten. Gelder flossen allenfalls an Mitgliedsorganisationen bzw. einzelne Projekte. Der CDU-Politiker Heiner Geißler erklärte daraufhin als Attac-Mitglied: "Silvana Koch-Mehrin zeigt eine beachtliche moralische und ökonomische Inkompetenz. Es handelt sich um politische Kriminalität, wenn die Europäische Union durch ihre Agrarsubventionen die Märkte in Afrika mit holländischen Tomaten, deutschem Milchpulver, französischen Zwiebeln und anderen Lebensmitteln überschwemmt und so die Existenzgrundlagen der einheimischen Bauern massiv gefährdet und vernichtet." Statt Attac anzugreifen, möge sie bitte zur Beseitigung dieses Skandals beitragen.

Ein besonders zugkräftiges Thema entdeckte Koch-Mehrin, als 35 nordeuropäische Abgeordnete im September 2008 in einem Brief an den Parlamentspräsidenten eine Art Ehrenkodex anregten, mit dem sich die Europaparlamentarier verpflichten sollten, bei ihren Sitzungen in Straßburg und Brüssel nur noch in Hotels ohne Prostituierte abzusteigen. Die im Umgang mit Sex- und Klatschmedien erfahrene Koch-Mehrin bemächtigte sich der Angelegenheit und erzählte der "Bunten", was die vorwiegend männlichen Parlamentarier so treiben: "Die Sitzungstage sind wie Ausflüge ins Landschulheim – nach dem Motto: Hier sieht mich keiner, hier kann ich machen, was ich will." In Straßburg seien dann die Straßen zum Parlament voll mit Prostituierten.

"Wer an politischen Inhalten nichts zu bieten hat, muß auf solche Schmuddel-Themen aufspringen“, meinte der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion, Martin Schulz. Und der Chef der CSU-Europagruppe, Markus Ferber, pflichtete ihm parteiübergreifend bei: "Das Markenzeichen von Frau Koch-Mehrin ist reiner Populismus statt Sacharbeit."

Die Spitzenkandidaten der FDP sind in punkto Fleiß eher Schlußlichter

An der Sacharbeit haperte es bei der ganz auf ihre mediale Selbstdarstellung fixierten FDP-Abgeordneten tatsächlich. Schon anläßlich des "Bunte"-Interviews verwiesen EU-Abgeordnete darauf, daß Koch-Mehrin bei den Plenartagungen des Parlaments häufig fehle und in den Ausschüssen noch seltener zu sehen sei. Im April 2009 wurden diese Vorwürfe auch statistisch belegt: Der frühere Parlamentsmitarbeiter Flavien Deltort veröffentlichte im Internet unter "parlorama.eu" eine Auswertung der Präsenz und Aktivität sämtlicher 926 Abgeordneten (insgesamt umfaßte das Parlament seit Anfang 2007 mit Rumänien und Bulgarien 785 Abgeordnete; die Erhebung bezog aber auch solche Abgeordnete mit ein, die während der Legislaturperiode ausgeschieden oder nachgerückt waren). Der ehemalige Gehilfe eines linksliberalen italienischen Abgeordneten stützte sich dabei auf offizielle Angaben, wie sie der Internetseite des Parlaments zu entnehmen waren. Mit einer Präsenzquote von 38,9 Prozent landete Koch-Mehrin nicht nur an letzter Stelle der 104 deutschen Abgeordneten, sondern auf Platz 914 der Gesamtliste. Allerdings hatte Deltort bei Koch-Mehrin den Mutterschaftsurlaub nicht berücksichtigt. Wegen dieser und anderer Unzulänglichkeiten sowie wütender Proteste von schlecht plazierten Abgeordneten mußte er seine Internetseite überarbeiten. Als sie nach Behebung der Mängel wieder abrufbar war, hatte sich Koch-Mehrin aber lediglich auf den 860. Platz vorgearbeitet. Unter den deutschen Abgeordneten rangierte sie an viertletzter Stelle; das Schlußlicht bildete der FDP-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, ein Neffe des allseits bekannten "Marktgrafen".

Auch dieses Ergebnis war nicht gerade schmeichelhaft für Koch-Mehrin und Lambsdorff, die soeben wieder als Spitzenkandidaten der FDP für die Europa-Wahlen aufgestellt worden waren. Vor allem das Zugpferd Koch-Mehrin drohte beschädigt zu werden, nachdem die Medien über "Parlorama" berichteten. Den Anfang machte am 22. Mai die "Frankfurter Allgemeine" (FAZ), ein sonst der FDP sehr zugetanes Blatt, das aber im Zweifelsfall noch mehr Sympathien für die Unionsparteien hegte und deshalb wohl eine Gelegenheit sah, die Bäume des schwarz-gelben Koalitionspartners bei der Europa-Wahl nicht in den Himmel wachsen zu lassen. In dem Bericht über das schlechte Abschneiden der FDP-Spitzenkandidatin bei "Parlorama" wies die Zeitung ausdrücklich auf die Nichtberücksichtigung des Mutterschaftsurlaubs hin. Dennoch schickte Koch-Mehrin der Redaktion eine strafbewehrte Unterlassungserklärung und verlangte eine Richtigstellung, wonach sie bei 76,2 Prozent der Plenartagungen anwesend gewesen sei. Zudem ließ sie durch einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg eine weitere Berichterstattung über die niedrige Präsenzquote verbieten. Dem Gericht legte sie dazu eine eidesstattliche Versicherung vor, in der es hieß: "Mit meiner Präsenzquote von 75 % liege ich in der oberen Hälfte der Präsenz der 99 deutschen EU-Abgeordneten und der 785 EU-Abgeordneten insgesamt."

Niebel beschwert sich beim Intendanten wegen Frage nach Fehlzeiten

Die Zahlen zu ihrer Anwesenheit bei Plenartagungen seien falsch, sagte Koch-Mehrin, als sie am 25. Mai in einem Interview mit dem "Südwestrundfunk" (SWR) auf den FAZ-Artikel angesprochen wurde. Es freue sie, dies bei dieser Gelegenheit nochmals sagen zu können. In Wirklichkeit freute sie sich aber keineswegs, sondern verlangte sogleich über ihren Anwalt die Entfernung dieser Passage. Die Chefredaktion strahlte die aufgezeichnete Sendung dennoch ungekürzt aus. Daraufhin schickte FDP-Generalsekretär Niebel dem SWR-Intendanten einen Brief, um ihn "auf mehrere Ungereimtheiten im Vor- und Ablauf der Sendung aufmerksam" zu machen. Es habe damit angefangen, daß Koch-Mehrin nicht als erste befragt worden sei, sondern der grüne Europaabgeordnete Özdemir, der als zweiter Gast mit am Tisch saß. "Diese kurzfristige, nicht von der Redaktion selbsttätig kommunizierte, grundlegende Änderung des Ablaufs entspricht nicht dem journalistischen Umgang." Ferner seien nur die drei Themen Glühbirnenverbot, EU-Bürokratie und Landwirtschaft abgesprochen gewesen. Es könne nicht hingenommen werden, "daß ein gesamter zuvor herbeirecherchierter Themenblock in Bezug auf die Arbeitsleistung von Frau Dr. Koch-Mehrin weder angekündigt noch in irgendeiner Art und Weise im Vorlauf der Sendung kommuniziert worden war". Hinzu habe der Interviewer es versäumt, bei seiner Bezugnahme auf den FAZ-Artikel auch die "Richtigstellung" zu erwähnen, die Koch-Mehrins Anwälte am folgenden Tag erwirkt hatten.

Amtliche Angaben stimmen nicht mit eidesstattlicher Versicherung überein

Die EU-Parlamentsverwaltung hatte die Präsenzquote der Abgeordneten Koch-Mehrin zunächst mit 41 Prozent angegeben, inzwischen aber eine revidierte Berechnung veröffentlicht, wonach es unter Berücksichtigung des Mutterschaftsurlaubs 62 Prozent waren. Aber auch das stand im Widerspruch zu den 75 Prozent, die Koch-Mehrin in der eidesstattlichen Versicherung angegeben hatte. Koch-Mehrin und ihre Anwälte erklärten die Diskrepanz mit Anwesenheitstagen, die noch nicht erfaßt worden seien, aber sicher zu einer weiteren Korrektur der Zahlen führen würden. Anscheinend wollten sie eine weitere Änderung der Berechnungsmethode erreichen, bei der die Tage des Mutterschaftsurlaubs als quasi virtuelle Präsenz gewertet und den tatsächlichen Anwesenheitstagen hinzugerechnet wurden, statt von der Gesamtzahl der Sitzungstage abgezogen zu werden.

Der Fall Koch-Mehrin drohte damit noch wesentlich peinlicher zu werden, als er schon war. Die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung ist ein Straftatbestand. Schon entsprechende Vorwürfe hätten ausgereicht, um das Zugpferd der FDP auf offener Bühne lahmen zu lassen. Ganz zu schweigen von einer Anklage und Verurteilung. Die Anwälte Koch-Mehrins machten deshalb kritische Journalisten schon mal darauf aufmerksam, daß es für sie strafrechtliche Konsequenzen haben könne, von der vorsätzlichen Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung zu schreiben.

Parteisoldaten kämpfen anonym im Internet

Die Truppe strammer Parteisoldaten, die sich unter Westerwelle im Thomas-Dehler-Haus und bei der Friedrich-Naumann-Stiftung breitgemacht hatte, patrouillierte außerdem wieder einmal im Internet, um Unliebsames unter Feuer zu nehmen. Dazu gehörte der Journalisten-Blog "ruhrbarone.de", der die eidesstattliche Versicherung Koch-Mehrins im Faksimile veröffentlichte. Unter den kommentierenden Einträgen waren "Edward", "Igor", "Mark" und ein gewisser "Mounty" so ziemlich die einzigen, die Koch-Mehrin in Schutz zu nehmen versuchten. "Edward" wurde in seinem Kommentar sogar beleidigend, weshalb ihm die Redaktion diese Stelle herausstrich. Die Rückverfolgung der verwendeten IP-Adresse 217.110.45.10. ergab, daß alle Kommentare aus der Bundesgeschäftsstelle der FDP in Berlin stammten. Über die zugehörige E-Mail-Adresse von "Edward" ließ sich feststellen, daß hinter diesem Pseudonym der persönliche Pressereferent von Koch-Mehrin namens Adib Sisani steckte.

Schon bisher war aufgefallen, daß beispielsweise die Ausführungen zum Stichwort "FDP" in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia stromlinienförmig geglättet und kritische Stellen entfernt worden waren (einschließlich des Web-Links zur vorliegenden "Geschichte der FDP"). Hier blieb man weiterhin auf Mutmaßungen angewiesen, wer den Text so arg geschönt haben könnte.

Am 29. Mai hob das Landgericht Hamburg die einstweilige Verfügung wieder auf, mit der bis dahin eine Berichterstattung über Koch-Mehrins flaue Arbeitsleistung im Parlament behindert oder sogar verhindert worden war. "Wie fleißig ist Silvana Koch-Mehrin?", fragte daraufhin die FAZ am 4. Juni erneut. Die drei Tage später stattfindende Europa-Wahl zeigte, daß es darauf gar nicht ankam. Zumindest hatte die Spitzenkandidatin der FDP wieder sehr fleißig und erfolgreich an ihrem medialen Erscheinungsbild gearbeitet. Trotz der mangelnden Präsenz bei Plenartagungen und in den Ausschüssen, in denen sie noch nie als Berichterstatterin fungiert hatte, war sie schon bisher Vorsitzende der FDP-Gruppe und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der ALDE. Nun wurde sie auch noch zu einer der Vizepräsidentinnen des Parlaments gewählt – allerdings erst im dritten Wahlgang mit 186 von 644 gültigen Stimmen, und auch nur deshalb, weil sonst ein Kandidat der polnischen Rechten das Rennen gemacht hätte.

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