Udo Leuschner / Geschichte der FDP (4)

2. Bundestag 1953 - 1957


Der Coup der "Jungtürken"

Adenauer mißlingt der Plan, die FDP durch Manipulierung des Wahlrechts in den "Graben" fallen lassen

Der konservative Machtpolitiker Adenauer war es Ende 1955 leid, die Unbotmäßigkeit der FDP noch länger zu dulden. Vor allem der Streit um die Deutschlandpolitik hatte das Verhältnis der Koalitionspartner zerrüttet. Weder beugte sich die FDP seiner ultimativen Forderung nach sklavischem Gehorsam noch war sie bereit, Thomas Dehler durch den rechtsgerichteten August Martin Euler zu ersetzen, den er ihr als seinen Wunschkandidaten für den Partei- und Fraktionsvorsitz signalisiert hatte.

Adenauer beschloß deshalb, die FDP durch Manipulierung des Wahlrechts auszuschalten. Zusammen mit der DP legte die Union am 14. Dezember 1955 den Entwurf für ein neues Wahlgesetz vor, wonach künftig sechzig Prozent der Bundestagsmandate durch einfache Mehrheitswahl in den Wahlkreisen vergeben worden wären. Der Rest der Bundestagsmandate sollte ohne Anrechnung der Direktmandate nach dem Verhältniswahlrecht vergeben werden. Dieses "Grabenwahl"-System hätte die CDU/CSU unverhältnismäßig stark begünstigt, da von ihren 244 Abgeordneten im Bundestag nicht weniger als 172 direkt gewählt worden waren. Dagegen waren bei der SPD nur 44 von 150 Abgeordneten direkt gewählt. Bei der FDP waren es 14 von 48 und bei der DP 10 von 15.

Zusätzlich zur Fünf-Prozent-Klausel, die nur bei Erringung von drei Direktmandaten nicht griff, wollte Adenauer so die kleineren Parteien noch mehr benachteiligen und die CDU/CSU als ohnehin stärkste Partei noch mehr begünstigen. Dabei wären die Auswirkungen noch schlimmer gewesen, als aufgrund der letzten Bundestagswahlen von 1953 zu erwarten war: Tatsächlich konnte die FDP bei den Bundestagswahlen von 1957 nur noch ein einziges Direktmandat erringen. Später erhielt sie ihre Mandate sogar nur noch über Zweitstimmen. Sie wäre also bei Verwirklichung des Grabenwahlsystems zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Die Union dagegen hätte bequem regieren können, ohne auf einen Koalitionspartner angewiesen zu sein oder einen Zweitstimmen-Zuwachs der SPD-Opposition sonderlich fürchten zu müssen.

Die Drohung mit dem Grabenwahl-System traf die FDP ins Mark ihrer Existenz. Daß die CDU den Gesetzentwurf am 2. Februar wieder zurückzog, war nur ein schwacher Trost. Das Damoklesschwert blieb weiter hängen. Vor diesem Hintergrund kam es wenige Tage später zum Coup der "Jungtürken" in Nordrhein-Westfalen, die im Bunde mit der SPD die Düsseldorfer CDU-Landesregierung kippten und damit auch die Bonner Koalition ins Wanken brachten.

Karl Arnold muß sich für Adenauer opfern

In Nordrhein-Westfalen hatte die CDU bereits im Vorjahr am Wahlrecht herummanipuliert, allerdings mit genau entgegengesetzter Tendenz: Hier setzte sie eine Lockerung der Fünf-Prozent-Klausel durch, um dem schwächelnden Zentrum nochmals über die Hürden zu helfen. Außerdem verzichtete sie in einem Wahlkreis zugunsten des Zentrums auf einen eigenen Kandidaten. So bekam das Zentrum tatsächlich noch einmal neun Sitze im Landtag. Zusammen mit den neunzig Sitzen der CDU ergab das 99 Sitze gegenüber 76 Mandaten der SPD und 25 Mandaten der FDP.

Rechnerisch hätten also in Nordrhein-Westfalen die SPD und die FDP schon nach den Landtagswahlen vom Juni 1954 die Regierung übernehmen können - ähnlich wie in Niedersachsen, wo eine Koalition aus SPD, FDP und BHE im September 1954 dem Unfug von 2000 katholischen Konfessionsschulen ein Ende bereitete, was der Klerus "mit tiefem Schmerz und mit großer Entrüstung" quittierte. Im rechtsgerichteten FDP-Landesverband Nordrhein-Westfalen war die Zeit für ein solches Bündnis aber noch nicht reif. Vorstellbar war allenfalls eine Große Koalition zwischen CDU und SPD, zumal der Ministerpräsident Karl Arnold zum linken Flügel um Jakob Kaiser zählte, der 1947 für die CDU der britischen Zone das Ahlener Programm mit dem programmatischen Titel "CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus" verfaßt hatte. Es wäre wohl auch zu einer solchen Großen Koalition gekommen, wenn Karl Arnold nicht von Adenauer massiv unter Druck gesetzt worden wäre: Und zwar sollte er der Landes-SPD ein Bekenntnis zur außenpolitischen Linie der Bundesregierung abverlangen, womit sich diese in klaren Gegensatz zur Bundespartei begeben hätte. Da diese Forderung unerfüllbar war, kam es zu einer Koalition aus CDU, FDP und Zentrum.

Erst Adenauers Drohung mit dem Grabenwahl-System trieb dann die nordrhein-westfälische FDP im Februar 1956 zum Bündnis mit der SPD und zum Sturz der Regierung Arnold. Es ging dabei nicht um einen Konflikt mit der CDU auf Landesebene. Schon gar nicht ging es um die Person Karl Arnolds, der eigentlich bei allen wohlgelitten war, aber nun in tragischer Weise für die Politik Adenauers büßen mußte. Unter den elf Punkten, mit denen die FDP ihren Koalitionswechsel begründete, richtete sich nur einer gegen die Landes-CDU, und auch in diesem Fall handelte es sich um den Vorwurf, die von Adenauer geplante Manipulation des Wahlrechts unterstützt zu haben.

Die Düsseldorfer FDP hält der CDU ihr Sündenregister vor

Generell wurde der CDU/CSU in dem Düsseldorfer FDP-Papier vorgehalten, sie habe "seit langem versucht, ihre Koalitionspartner auf Bundesebene gleichzuschalten". Da ihr dies nur bei der DP vollkommen gelungen sei, habe sie versucht, den BHE von innen her aufzuspalten und die FDP ihrer politischen Selbständigkeit zu berauben. Das geplante Grabenwahlsystem hätte der CDU/CSU "auf unabsehbare Zeit die absolute Majorität gesichert". Damit seien nicht nur die Grundlagen der bestehenden Koalition aufs schwerste gefährdet, sondern auch die parlamentarische Demokratie. Nur die Entschlossenheit der FDP, sich notfalls mit anderen Parteien zu verbünden, habe die Union vorläufig von dem Grabenwahlsystem Abstand nehmen lassen. Die FDP habe jedoch keine Sicherheit, daß diese Pläne erneut aufgegriffen würden. Außerdem habe sie das Vertrauen in den Koalitionspartner verloren.

Da es ausgerechnet ein nationalistisch angehauchter Landesverband der FDP war, der sich mit der SPD verbündete, kam das Wort von den "Jungtürken" auf - in Anlehnung an eine nationalistische Reformbewegung im türkischen Militär, die 1909 den Sultan gestürzt hatte. Die Hauptakteure waren Wolfgang Döring, Willy Weyer, Walter Scheel und Erich Mende. Weyer wurde in der neuen Landesregierung Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident. Außerdem bekam die FDP drei weitere Ministerposten.

Indessen zielten die Düsseldorfer Rebellen nicht von vornherein auf die Sprengung der Bonner Koalition. Das neue Zweckbündnis, mit dem die Bonner Koalition ihre bisherige Zweidrittelmehrheit im Bundesrat verlor, war vor allem als Schuß vor den Bug der CDU/CSU gedacht. Der FDP-Bundesvorstand hatte sich noch kurz zuvor gegen einen Koalitionswechsel ausgesprochen und hielt sich auch angesichts der Düsseldorfer Vorgänge bedeckt. Die Bundestagsfraktion erklärte am 21. Februar ausdrücklich die Bereitschaft zur Fortsetzung der Koalition. Der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Middelhauve, der bis dahin die "Jungtürken" gefördert hatte, distanzierte sich sogar förmlich von deren Coup. Als der Landtag am 20. Februar 1956 den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff zum neuen Ministerpräsidenten wählte, enthielt sich Middelhauve der Stimme und trat anschließend vom Landesvorsitz zurück.

Erst auf dem Würzburger Bundesparteitag im April 1956 bekannte Dehler öffentlich, daß die Düsseldorfer Rebellen den Kontakt zur SPD mit seinem Wissen und seinem Einverständnis aufgenommen hatten. Er wurde mit 155 gegen 67 Stimmen wiedergewählt. Stellvertreter wurden Erich Mende, Wolfgang Haussmann und Oswald Kohut.

Auch die Bonner Koalition zerbricht

Es war letzten Endes Adenauer, der den Bruch der Bonner Koalition herbeiführte. Er versuchte nun nämlich, mit Hilfe der ihm dienstbaren FDP-Minister die Partei zu spalten. Am 23. Februar 1956 gaben 16 FDP-Abgeordnete unter Führung von August Martin Euler ihren Austritt aus der Fraktion bekannt, wobei sie in einer Erklärung lebhafte Kritik an dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Thomas Dehler übten. Unter den Ausgetretenen befanden sich die vier FDP-Minister Blücher, Neumayer, Schäfer und Preusker.

Postwendend empfahlen CDU und CSU die Fortsetzung der Koalition mit der abgespaltenen Gruppe. Offenbar sollte beim obrigkeitsgläubigen Publikum der Eindruck erweckt werden, der "staatserhaltende" Teil der FDP habe sich abgespalten, um dann den Dissidenten im Zuge der nächsten Wahlen eine neue, mehrheitliche Basis verschaffen zu können. Am 23. April 1956 gründeten die Abtrünnigen die "Freie Volkspartei" (FVP), die am 24. Juni in Bochum ihren ersten Parteitag abhielt und Preusker zum Vorsitzenden wählte. Aus Berlin gesellte sich Carl-Hubert Schwennicke hinzu, der bisherige Vorsitzende des Landesverbandes.

Gespräche zwischen FDP und LDPD

Die FDP nutzte ihre neue Freiheit, um Deutschlandpolitik auf eigene Faust zu betreiben. Als Vehikel, um mit der DDR ins Gespräch zu kommen, bot sich die Liberaldemokratische Partei (LDPD) an. Daß die ehemalige Schwesterpartei inzwischen eine Marionette der SED war, störte dabei nicht, sondern war dem eigentlichen Zweck des Unternehmens dienlich. Am 22. Juli 1956 fand ein Vorgespräch in Garmisch-Partenkirchen statt. Vom 5. bis zum 7. Oktober folgte dann das offizielle Treffen zwischen Vertretern von FDP und LDPD in Weimar. "Wir konnten feststellen, daß beide Parteien keine gemeinsame politische und geistige Grundlage mehr haben", erklärte anschließend der Bundestagsabgeordnete Walter Scheel. Die LDP habe sich zu einer Partei entwickelt, die "nicht mehr in unserer Terminologie als liberale Partei" angesprochen werden könne. Dennoch seien die Gespräche im Sinne eine gesamtdeutschen Politik nützlich gewesen. Ähnlich ließ sich aus seiner Sicht "Der Morgen" vernehmen, das Parteiblatt der LDPD. Als nächster Schritt sollte ein Redneraustausch zwischen beiden Parteien stattfinden. Dazu kam es dann aber ebensowenig wie zur Fortsetzung der Kontakte mit der LDPD, weil wenige Tage später der Volksaufstand in Ungarn begann. Dessen blutige Niederwerfung durch die Sowjets führte zu einer neuen Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen.

Die FVP existiert nur ein paar Monate

Die Rechnung der Spalter ging nicht auf: Die FVP blieb eine bedeutungslose Splitterpartei. Schon Anfang 1957 fusionierte sie mit der DP, die deshalb bei den Bundestagswahlen im September 1957 auf den Stimmzetteln als "DP/FVP" firmierte. Faktisch existierte die FVP nur ein paar Monate, um dann restlos von der seit jeher willfährigen DP aufgesaugt zu werden.

Auch Adenauer nahm schon bald keine Rücksicht mehr auf die vier FVP-Minister, als sie sich unfähig zeigten, die Spaltung erfolgreich weiterzubetreiben. Schon am 16. Oktober 1956 entledigte er sich der Minister Neumayer und Schäfer im Zuge einer Kabinettsumbildung. Nur Blücher und Preusker durften noch bis zum Ende der Legislaturperiode an ihren Stühlen kleben bleiben.

Stattdessen streckte der gewiegte Taktiker die Fühler wieder in Richtung FDP aus: Am 14. September kam es zu einem Gespräch zwischen Adenauer und dessen Intimus Pferdmenges mit Dehler. Der FDP-Vorsitzende lehnte jedoch eine Rückgängigmachung der Koalition in Düsseldorf ebenso ab wie die Rückkehr in die Bonner Koalition. Vielleicht wollte Adenauer auch nur Dehler und die FDP kompromittieren, denn am 19. September ließ er über das regierungsamtliche "Bulletin" dementieren, daß er Dehler den Posten des Vizekanzlers angeboten habe. Die FDP sagte daraufhin sofort ein weiteres Gespräch ab, das für den folgenden Tag geplant war und an dem auch Willy Weyer als Vertreter der "Jungtürken" teilnehmen sollte.

Die FDP sieht sich als Korrektiv beider "Machtblöcke"

Es wäre für die FDP fatal gewesen, den Eindruck zu erwecken, sie strebe so kurz vor dem Ende der Legislaturperiode schon wieder nach den Fleischtöpfen der Macht, die sie eben erst verlassen hatte. Der Bundeswahlkampfleiter Wolfgang Döring erklärte deshalb am 25. September 1956, daß eine erneute Regierungsbeteiligung vor den Wahlen von 1957 nicht in Erwägung gezogen werde. Die FDP gehe ohne Bindungen und ohne Geheimabsprachen für die Regierungsbeteiligung in den Wahlkampf. Gleichwohl sei sie offen für den "Gedankenaustausch über Fragen der gesamtpolitischen Entwicklung" mit der CDU wie mit der SPD.

Schon im Juni 1957 hatte Reinhold Maier auf einem Parteikongreß in Hamburg den neuen politischen Standort der Partei folgendermaßen umrissen:

"Uns selbst steht nicht der schwächliche Gedanke des 'Züngleins an der Waage' vor Augen, des Unterstehens bei dem einen oder dem anderen Partner, also des Mitlaufens bei dem einen oder dem anderen. Wir streben aus unserer natürlichen Mittelstellung einen viel kräftigeren Einfluß an. Die FDP zwängt sich mitten hinein zwischen die beiden großen Machtblöcke, um schädliche Tendenzen des einen oder des anderen aufzufangen, abzubiegen, zu korrigieren und positiven und aktiven Einfluß gegen Staatsallmacht für Bürgerfreiheit auszuüben. (...) Wir sind unabhängig nach allen Seiten. Wir haben uns nicht freigekämpft von 'schwarz', um uns schnurstracks in das rote Revier zu begeben."

Die FDP war also prinzipiell auch auf Bundesebene zu einer Koalition mit der SPD bereit, mit der gerade Reinhold Maier auf Landesebene schon gut zusammengearbeitet hatte. Erst mußte sie aber die Bundestagswahlen abwarten, ehe sie die Entscheidung für "schwarz" oder "rot" treffen konnte. An die dritte Möglichkeit - daß ihr keine andere Wahl als die Opposition bleiben würde - dachte sie sicher weniger.

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