(Aus: Udo Leuscher, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 344 - 354) |
Als ästhetisches Äquivalent des vergesellschafteten Bewußtseins widerspiegelt die Kunst alle dessen Facetten. Wie die Ideologie kann sie der Erkenntnis, der Utopie oder dem falschen Bewußtsein verpflichtet sein. Die verbreitete Vorstellung, Kunst sei schlechthin autonom und über profane Wertungen wie fortschrittlich, konservativ und reaktionär erhaben, verkennt die sozialpsychologischen Voraussetzungen der Ästhetik. Sie enthält nur insoweit einen wahren Kern, als Kunst um so zeitloser wirkt, je vollkommener sie das Bewußtsein einer Epoche in all seinen Widersprüchen widerspiegelt. Die niedere Kunst beschränkt sich auf die ästhetische Verklärung falschen Bewußtseins. Die hohe Kunst zielt dagegen auf Synthese, Totalität, auf Antizipation der gesellschaftlichen Dialektik.
Wo die ästhetische Synthesis nicht gelingt oder gar nicht erst erstrebt wird, wie in der offiziellen Kunst des Faschismus, entsteht der Eindruck des Schönen, Erhabenen und Wahren nur innerhalb der engen Grenzen des falschen Bewußtseins. Ähnliches gilt für den "sozialistischen Realismus": Entgegen seiner erklärten Absicht antizipiert er nicht das Bild eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft, sondern kleidet lediglich das herrschende falsche Bewußtsein in ästhetische Formen. (Wo dies nicht der Fall ist, wie in Bildern des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer, wird die Doktrin auch schon verletzt.)
Dennoch wäre es falsch, die Nazi-Kunst mit dem "sozialistischen Realismus" gleichzusetzen. Nach dem Diktum Benjamins betreibt der Faschismus die "Ästhetisierung der Politik", wogegen der Kommunismus die "Politisierung der Kunst" setzt. Beide Positionen wären somit nicht identisch, sondern antithetisch angelegt. Man könnte auch sagen: Die Nazi-Kunst appelliert an das erste Signalsystem, um das zweite zu kujonieren, während der "sozialistische Realismus" genau umgekehrt verfährt. Das falsche Bewußtsein des Faschismus speist sich primär aus Ressentiments, die allenfalls sekundär eine fadenscheinige ideologische Bemäntelung erhalten. Beim "sozialistischen Realismus" wird dagegen ein beschränktes Verständnis von "Parteilichkeit", das ideologisch begründet ist, auch dem Bereich der Kunst aufgezwungen. Die theoretischen Bemühungen der Nazi-Ästhetiker endeten immer im Mythos, beim puren Irrationalismus. Dagegen berief sich der "sozialistische Realismus" nicht ganz zu Unrecht auf "die dialektische Konjunktion bei Lenin, daß das Bewußtsein die Welt nicht nur widerspiegelt, sondern auch schafft" (394). - Was heißen soll, daß der Kunst dieselbe Funktion zukomme wie der Ideologie, die in Gestalt des "wissenschaftlichen Sozialismus" angeblich befähigt ist, den Gang der Geschichte zu antizipieren.
Die ersten Ansätze zu jener falsch verstandenen "Parteilichkeit" der Kunst, die unter Stalin mit dem von Lunatscharski geprägten Begriff des "sozialistischen Realismus" (395) belegt und dogmatisiert wurde, lassen sich tatsächlich bereits bei Lenin nachweisen. Das junge Sowjetrußland war in künstlerischer Hinsicht zunächst ein buntes, fruchtbares und vielversprechendes Experimentierfeld. Lunatscharski, der erste Volkskommissar für das Bildungswesen, war selbst ein Mann von lebendigem Geist und ausgeprägter künstlerischer Veranlagung. Lenin huldigte dagegen einem recht konventionellen Kunstverständnis. Schon auf Majakowskis Gedichte reagierte er "mißtrauisch und sogar mit einer gewissen Gereiztheit". Man hätte ihm, wie er selber sagte, bei lebendigem Leibe die Haut abziehen können, ohne daß er auch nur zwei Verszeilen zustande gebracht hätte. Entsprechend wenig verstand er die Lyrik Majakowskis: "Er schreit herum, denkt sich irgendwelche seltsamen Wörter aus, und alles ist nicht das Richtige . . ." (396)
Gegenüber der deutschen Kommunistin Clara Zetkin bekannte Lenin ganz unumwunden:
"Ich habe den Mut, mich als "Barbar" zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen [. . .] Ja, liebe Clara, es ist schon so, daß wir zwei Alte sind. Es muß uns genügen, in der Revolution einstweilen noch Junge zu bleiben und voranzugehen. Mit der neuen Kunst kommen wir nicht mehr mit, wir humpeln hinter ihr drein." (397)
Dennoch lag es Lenin fern, die Kunst derart zu kujonieren, wie es unter Stalin geschehen sollte. Unter Kunst verstand er mehr oder weniger Agitationskunst. Die "futuristischen" Kunstwerke mißfielen ihm nicht deshalb, weil von ihnen - wie später Stalins Kulturbüttel Schdanow behauptete - eine zersetzende, ungesunde Wirkung ausginge, sondern im Gegenteil, weil er sie für genauso unverständlich wie unwirksam hielt. Ein striktes Verbot bestimmter ästhetischer Ausdrucksweisen wäre Lenin kaum in den Sinn gekommen. Seinem pragmatischen, funktionellen Verhältnis zur Kunst entsprach es aber sehr wohl, bestimmte Richtungen zu fördern und andere nicht. Nach dem Kriterium der Massenwirksamkeit mußte dabei die reine Reklame den höchsten Stellenwert genießen. Schon 1918 verlangte Lenin von Lunatscharski, die Kunst als Agitationsmittel zu entwickeln. Zum Beispiel sollten Gebäude und Zäune mit großen revolutionären Losungen geschmückt werden. Ferner sollten in den großen Städten zahlreiche Denkmäler für große Revolutionäre, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler aufgestellt werden - und zwar, der Kosten und der Schnelligkeit wegen, aus Gips (398).
Lenins beschränkter ästhetischer Sinn war kein Zufall, kein belangloser Defekt an einem ansonsten hervorragenden Geist, sondern eng mit den blinden Flecken seines übrigen Bewußtseins verbunden. Diese blinden Flecken zeigten sich, bereits vor der Oktoberrevolution, in Lenins leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit einer eher resignativ gestimmten Bewußtseinshaltung, die nach der mißlungenen Revolution von 1905 in der russischen Sozialdemokratie an Boden gewann und die dem Opportunismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie verwandt war. Politisch äußerte sich dieser russische Opportunismus im "Otsowismus", philosophisch im "Machismus" und künstlerisch in der "Gottbildnerei". Die Otsowisten wollten nach der Niederschlagung der Revolution die sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Reichsduma abberufen und die legale politische Tätigkeit einstellen. Der Machismus oder Empiriokritizismus war eine Spielart des Positivismus und lief erkenntnistheoretisch auf Agnostizismus hinaus. Sein führender Vertreter in der Partei war Bogdanow. Die Gottbildner oder Gottsucher hielten Marxismus und Religion für vereinbar. Zu den letzteren gehörten vor allem Gorki und Lunatscharski.
Lenin hatte sicher Recht, wenn er dieser opportunistischen Strömung vorwarf, die Revolution von der Tagesordnung abzusetzen. Er hatte auch Recht, wenn er ihre ideologischen, politischen und ästhetischen Erscheinungsformen auf eine gemeinsame Grundstimmung zurückführte und eine Verbindung der ästhetischen Position Lunatscharskis mit der ideologischen Bogdanows unterstellte:
"Die schändlichen Dinge, zu denen Lunatscharski herabgesunken ist, sind keine Ausnahme, sondern eine Ausgeburt des Empiriokritizismus, des russischen wie des deutschen [...] Man müßte blind sein, um die geistige Verwandtschaft zwischen der "Vergottung der höchsten menschlichen Potenzen" bei Lunatscharski und der "universalen Substitution" des Psychischen für die ganze physische Natur bei Bogdanow nicht zu sehen. Es ist ein und derselbe Gedanke, ausgedrückt in dem einen Fall vornehmlich vom ästhetischen, in dem anderen vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus." (399)
Aber hatten denn nicht auch die Kritisierten recht? War es nicht der Lage angemessener, an die Stelle der Tat die Reflexion zu setzen, an die Stelle der Zuversicht die Skepsis und an die Stelle des Pathos die Tragik? Stand denn in Rußland die proletarische Revolution tatsächlich auf der Tagesordnung? Und wenn: War sie rückblickend den Preis wert, den ein jahrelanger Bürgerkrieg, millionenfacher Hungertod und schließlich Stalins grauenhafter Terror gefordert haben?
Es geht bei solchen Überlegungen nicht darum, die eine oder die andere Position zu favorisieren. Es geht allein darum, die Widersprüche in jeder der beiden Positionen aufzuzeigen. Wie immer die Entscheidung ausging: Beide hatten auf ihre jeweilige Art zugleich Recht und Unrecht. Daß der Erste Weltkrieg den Zusammenbruch des zaristischen Regimes entscheidend vorantreiben würde, konnte zu diesem Zeitpunkt schwerlich vorausgesehen werden. Lenin verdankte es einer außerordentlich günstigen historischen Konstellation, daß er sich durchsetzen und die proletarische Revolution in einem Land erzwingen konnte, das gerade erst für die bürgerliche Revolution reif geworden war - aber um den Preis, daß sein Werk unter Stalin der Pervertierung anheimfiel. Die anderen unterlagen - aber mit der Aussicht, von der Geschichte zumindest teilweise rehabilitiert zu werden.
Es versteht sich, daß eine solche Sichtweise von Lenin nie akzeptiert worden wäre. Seine Stärke wie seine Schwäche lag darin, den Marxismus als eine Philosophie der Gewißheit und der Tat zu interpretieren. Die Vision vom welterschütternden "deutschen Donner", die Heine angesichts der kommunistischen Nachfahren Kants und Hegels beschlich, erfüllte sich so in Rußland.
Nun war Lenin aber kein deutscher, sondern ein russischer Nachfahre. Als Sproß einer bürgerlichen Familie, die in den niederen Adel aufgestiegen war, repräsentierte er auch alles andere als das schwach entwickelte russische Industrieproletariat. Er vertrat vielmehr eine an Westeuropa, vor allem an Deutschland orientierte Elite, die ihre Geistigkeit dem vorherrschenden Bewußtsein der russischen Kultur gleichsam aufpfropfte. Eine Ideologie, die dem hochentwickelten Teil der kapitalistischen Welt und seiner jahrhundertelangen Geschichte entsprach, wurde so in deren rückständigsten Teil übertragen, in dem das zaristische Regime und die russisch-orthodoxe Kirche der ganzen westeuropäischen Entwicklung seit dem Mittelalter zu trotzen schienen. Diese morbide Feudalgesellschaft kannte weder Reformation noch Liberalismus. Sie fiel kaum weniger abrupt vom Mittelalter in die Neuzeit wie das konkurrierende Japan, mit dem sie sich erfolglos an ihrer Ostgrenze herumschlug.
Die andersgeartete russische Tradition mußte Folgen für die Rezeption der marxistischen Philosophie durch Lenin und erst recht durch einen brutalen Typ wie Stalin haben. Sie mußte besonders jenes transzendentale Moment ausblenden, das in Gestalt der Dialektik über Kant und Hegel in die marxistische Philosophie gelangt war. Sie mußte ein glaubensgewisses Eifern begünstigen, das den "Klassikern" Marx und Engels trotz aller polemischen Schärfe fehlt, während es bei Lenin fast durchgängig die ideologische Auseinandersetzung bestimmt.
So hatte Lenin zwar sicher recht, wenn er dem Neukantianismus der Machisten vorwarf, daß er von Kants "Kritik der reinen Vernunft" nur noch die Kritik und damit den Skeptizismus übriglasse (400). Zugleich schien Lenin aber selbst das wesentliche Moment in Kants Werk zu übersehen; nämlich die "Antinomie", an der die reine Vernunft scheitert. Kant hat diese unauflöslichen Widersprüche durch die "praktische Vernunft" zu überbrücken versucht. Hegel hat dann "Thesis" und "Antithesis", die sich bei Kant als "Widerstreit der transzendentalen Ideen" (401) gegenüberstehen, in der Dialektik des Geistes aufgelöst. Marx hat schließlich diese Dialektik des Geistes vom Kopf auf die Füße gestellt und in eine Dialektik der Materie verwandelt. Diese Dialektik ist aber nicht etwa ein bloße "Methode", wie Stalin postuliert hat und es auch bei Lenin anklingt. Sie ist vielmehr Inhalt der marxistischen Theorie und als ganzheitliche Sichtweise in letzter Instanz immer auf jene Totalität bezogen, vor der die reine Vernunft bei Kant versagt. In den Frühschriften von Marx und besonders im Begriff der Entfremdung wird dieses transzendentale Moment sehr deutlich.
So gesehen hatten "Gottbildner" wie Gorki und Lunatscharski völlig recht, wenn sie den Marxismus mit einer pantheistisch-duldsamen Religion für vereinbar hielten. Mehr intuitiv, mehr mit dem Sensorium des ästhetischen als dem des intellektuellen Menschen, verspürten sie, daß auch der Marxismus vor den letzten Fragen kapitulieren mußte - daß er nur eine relative, zeitgemäßere Antwort auf Grundfragen der menschlichen Existenz bot, auf die es keine endgültigen Antworten gibt.
Und nun wird auch klar, weshalb Lenin und Clara Zetkin, die sich als Revolutionäre so jung fühlten, hinter der neuen Kunst so hoffnungslos "hinterdrein humpelten": Sie hatten es zwar verstanden, den Marxismus zu einer Philosophie der Tat, zu einer massenwirksamen Ideologie werden zu lassen. Dies gelang ihnen aber nur unter Verdrängung des transzendentalen Moments in der marxistischen Dialektik. Sie konnten und wollten nicht wahrhaben, daß ein als "Wissenschaft" begriffener Marxismus in letzter Instanz an der Antinomie der reinen Vernunft scheitern muß. Und gerade dadurch machten sie ihn von einer Philosophie zu einem Glauben, bahnten sogar den Weg zu einer neuen Religion, die mit unerschütterlicher Heilsgewißheit ihre Ketzer bannen und verfolgen würde. Dieser neue Glaube konnte keine Kunst neben sich dulden, die mit dem Instrumentarium des "ersten Signalsystems" ihren eigenen Zugang zur Wirklichkeit hat und deshalb eine dogmatisch erstarrte Begrifflichkeit des "zweiten Signalsystems" zu unterminieren vermag. Aus dem Unverständnis, das Lenins Verhältnis zur modernen Kunst kennzeichnete, wurde unter Stalin deshalb Argwohn und blanker Haß gegenüber ästhetischen Ausbruchsversuchen aus der kollektiven Neurose.
Mit der Verwandlung des Marxismus von einer Ideologie der verfolgten russischen Sozialdemokratie zur Ideologie der herrschenden Bolschewiki ging notwendigerweise die Verwandlung von der Utopie zum falschen Bewußtsein einher. Daneben wirkten aber auch speziell russische Faktoren, die dem "Marxismus-Leninismus" sein eigentümliches Gepräge gaben. Sein byzantinischer Personenkult, die ikonenhafte Zurschaustellung der Funktionärsprominenz auf riesigen Plakaten, die litaneienhafte Zitaten-Aneinanderreihung, die Einbalsamierung Lenins und sonstige Devotionalien verweisen auf seine Durchdringung mit ideologischen Relikten des alten Rußland. Schon in Lenins unermüdlichem Eifern gegen versteckten "Fideismus" und modernes "Pfaffentum" war ein beträchtliches Stück jenes blinden Glaubens enthalten, gegen den es sich vordergründig richtete. Bezeichnenderweise entbrannte Lenins Zorn vor allem gegenüber skeptizistisch-toleranten Strömungen wie dem Agnostizismus der Machisten. Auch ein "Gottbildner" wie Gorki machte sich in seinen Augen der Todsünde wider eine Philosophie der Tat schuldig, "denn statt mit "Taten" befaßt er sich gerade mit Selbstbetrachtung und Selbstbespiegelung" (402). Dagegen behandelte er Ernst Haeckels "monistische Religion", die ihr Credo aus dem Vulgärmaterialismus bezog, geradezu als läßliche Sünde. Seine beiläufige Kritik an "einer Reihe haarsträubender Absurditäten" bei Haeckel verblaßte völlig vor dem überschwenglichen Lob für den unbeugsamen Materialisten, dessen "Welträtsel" mit jeder Seite ein Schlag ins Gesicht der Professorenphilosophie und des modernen Pfaffentums seien (403).
Unter der einseitig intellektuellen Ausrichtung Lenins wurde das ästhetische Sensorium jedoch nie ganz verschüttet. Vor allem die Musik blieb für ihn zeitlebens eine Irritation, eine beunruhigende Erinnerung an eine andere, sinnliche Erfahrungsweise der Welt bis hin zu jenem transzendentalen Moment, das so gar nicht in sein Verständnis des Marxismus als einer "Wissenschaft" passen wollte. Wie sein Bruder berichtet, spielte der kleine Wladimir Iljitsch mit acht Jahren recht gewandt auf dem Klavier, mit Älteren zusammen sogar vierhändig. Seit dem Eintritt ins Gymnasium habe er dann jedoch die Musik vernachlässigt, und zwar wohl deshalb, "weil er sich die damals übliche Meinung zu eigen machte, für Jungen sei das eine unpassende Betätigung". Noch mit 18 bis 20 Jahren habe Lenin oft mit seiner Freundin Olga Iljinitschna zum Klavier gesungen. Allerdings hatte der Bruder "kaum in Erinnerung, daß Wladimir Iljitsch in Moll und von Trauer gesungen hätte, er bevorzugte die Töne des Wagemuts, der Verwegenheit, der gehobenen Stimmung und des Appellierens" - bei diesem Alter nicht weiter verwunderlich. Dazu paßt die ebenfalls von seinem Bruder überlieferte Szene im Sommer 1889, als Lenin frühmorgens ins Zimmer trat und sich mit Olga ans Klavier setzte, um unverzüglich die neu bekanntgewordene Vertonung von Pottiers "Internationale" durch Degeyter auszuprobieren . . . (404)
Später ließ sich Lenin nur noch widerwillig zur Teilnahme an Konzerten bewegen - obwohl und gerade weil ihm die Musik nicht gleichgültig war. Gegenüber Lunatscharski meinte er: "Natürlich wäre es sehr schön, Musik zu hören, aber, stellen Sie sich vor, sie verwirrt mich. Ich werde von ihr irgendwie sehr tief berührt." (405)
Gorki schildert, wie Lenin nach dem Anhören einer Beethoven-Sonate tiefbewegt gewesen sei und sich in Worten der Bewunderung für diese übermenschliche Musik ergangen habe, die er jeden Tag hören möge - und dann abrupt hinzugefügt habe:
"Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln, die in einer widerwärtigen Hölle leben und so etwas Schönes schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln - die Hand wird einem abgebissen, man muß auf die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen, obwohl wir, unserem Ideal nach, gegen jede Gewaltanwendung gegenüber den Menschen sind. Hm, hm, ein teuflisch schweres Amt!" (406)
Diese Sätze verdeutlichen, wie Lenin das Gefühl dem Intellekt opferte, um von einer Philosophie der Reflexion zu einer Philosophie der Tat zu gelangen. Sie verdeutlichen den tragischen Zwiespalt des Revolutionärs zwischen seinem Ideal der Gewaltlosigkeit und der praktischen Nötigung, mitleidlos auf die Köpfe einzuschlagen. Lenin konnte diesen tragischen Konflikt immerhin noch in sich austragen, ihn sich selbst eingestehen und sich so bewußt bleiben, daß der ideale Zweck nicht alle Mittel heiligt. Bei einem moralisch minderwertigen Nachfolger wie Stalin mußten dafür alle Schwächen, die durch Lenins überragende Persönlichkeit gemildert und verdeckt worden waren, um so schärfer hervortreten. Der angeblich ideale Zweck verkam zum zynischen Vorwand für Brutalität und Barbarei.
Entsprechend verfielen ästhetische Ausdrucksweisen, denen Lenin lediglich Unverständnis entgegenbrachte und mangelnde Massenwirksamkeit vorwarf, unter Stalin der strikten Ächtung. Die brutalen Methoden, mit denen nach der NEP-Phase die Entwicklung der Produktivkräfte vorangetrieben wurde, duldeten keinen unzensierten ästhetischen Ausdruck. Sie verlangten vielmehr nach demselben falschen Bewußtsein, das ein pervertierter Marxismus als Staatsideologie lieferte, auch im Bereich der Kunst. So wurde der berühmte Theaterregisseur Meyerhold des "Formalismus" geziehen und kam auf elende Weise in Stalins Lagern um. Sogar ein von Stalin an sich geschätzter Künstler wie Eisenstein mußte sich rechtfertigen, weil er mit seinem Film "Iwan der Schreckliche" dem neuen Zaren zu nahe getreten war. - Nicht die Brutalität des Vorgängers war es jedoch, die Stalin am geschichtlichen Spiegelbild mißfiel, sondern daß Eisenstein den Zaren zu sehr als "Neurotiker", quasi als krankhaften Sadisten, dargestellt habe. Stalin vermißte an der Grausamkeit seines filmischen Alter ego die höhere Weihe geschichtlicher Notwendigkeit, die er für seine Verbrechen selber in Anspruch nahm und die ihm tatsächlich noch lange nach seinem Tod von Ideologen des "Marxismus-Leninismus" attestiert wurde.
Sowohl Meyerhold wie Eisenstein waren aus der Bewegung des "Proletkult" hervorgegangen, die im revolutionären Uberschwang eine neue, eigenständige "proletarische Kultur" zu entwickeln versuchte. Diese Ablehnung der tradierten Kultur verdeckte allerdings nur dürftig die Tatsache, daß der "Proletkult" selbst nichts anderes als die neueste Phase dieser vermeintlich überholten Kultur darstellte. Er war eine Variante der ästhetischen Moderne vom Dadaismus bis zum Bauhaus. Wie diese pflegte er ein Pathos der Sachlichkeit, das er unter besonderer Bevorzugung des Konstruktivismus bis zum Pathos der Technik steigerte. Er war ästhetischer Ausdruck der sozialistischen Utopie, wonach Technik und Wissenschaft, wenn sie erst einmal den Händen der Kapitalisten entrissen seien, aus Mitteln der Knechtung zu Mitteln der Befreiung des Menschen würden. "Im konstruktivistischen Technikpathos lag ein utopisches Potential, das aus dem Bekenntnis zu einer künftigen Gesellschaft bezogen wurde, in der die befreite Arbeit dominieren würde." (407) Gerade aber mit einem solchen Bekenntnis zu einer unerfüllbaren Utopie mußte der "Proletkult" sehr rasch an den Realitäten der jungen Sowjetgesellschaft scheitern.
Lenin befürchtete nicht ohne Grund, daß dieser utopistische "Proletkult", in dem sein ideologischer Widersacher Bogdanow eine führende Rolle spielte, eigenständige organisatorische Formen annehmen und damit "den Boden für irgendwelche politischen Abweichungen abgeben könnte". Er beauftragte deshalb Lunatscharski, den "Proletkult" der Leitung des Volkskommissariats für das Bildungswesen zu unterstellen und so unter die Oberaufsicht von Staat und Partei zu bringen. Entgegen dieser Anweisung machte Lunatscharski aber seinem Ruf als "Schirmherr der Künste" wieder mal alle Ehre und hielt auf dem Kongreß des "Proletkult" im Oktober 1920 eine sehr versöhnlich abgefaßte Rede. Lenin schalt ihn daraufhin fürchterlich aus und verfaßte unverzüglich eine Resolution zur Annahme durch den noch tagenden Kongreß. Der Inhalt bestand kurzgefaßt darin, daß die Kunst im Sowjetstaat keine eigenen, autonomen Wege gehen dürfe, sondern vom "Geist des Klassenkampfes" getragen sein müsse und sich mithin der Partei unterzuordnen habe. Ferner verpflichtete sich der "Proletkult" zur Aneignung und Verarbeitung der "wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters", anstatt "eine eigene, besondere Kultur auszuklügeln" (408).
Daß der "Proletkult" - entgegen seinem eigenen Verständnis - gerade diese Aneignung und Verarbeitung des bürgerlichen Erbes war, scheint weder seinen Anhängern noch Lenin in den dialektisch-materialistischen Sinn gekommen zu sein.
Die Überführung der Utopie in falsches Bewußtsein ging auch an Lunatscharski, der noch bis 1929 das Amt des Volkskommissars für das Bildungswesen innehatte, nicht spurlos vorüber. Im selben Jahr hielt er vor der Ersten Allrussischen Musikkonferenz in Leningrad einen Vortrag über "Die sozialen Quellen der Musik". Dieser Vortrag läßt eine Adaption der marxistischen Ästhetik erkennen, die in ihren Konsequenzen dem faschistischen Kunstverständnis zumindest nicht unähnlich ist. Lunatscharski polemisierte darin gegen den "Foxtrott" und andere Formen "synkopischer Musik". Hinter den synkopierten Rhythmen, die mit metronomischer, maschinenmäßiger Exaktheit durchgehalten werden, sah er den "Motorimpuls" einer mechanisierten, unmenschlichen Welt. Das war eine durchaus scharfsinnige Beobachtung, die noch 24 Jahre später Adornos Abrechnung mit der "Zeitlosen Mode Jazz" durchzogen hat. Sie war keinesfalls mit den dumpfen Ressentiments der Nazis gegen die "Niggermusik" vergleichbar. "Diese Rhythmen", behauptete Lunatscharski nun aber weiter, "spielen die gleiche Rolle wie in der Hand der Bourgeoisie die Maschine". Sie seien also Mittel zur Unterdrückung der Massen. Dies war bereits eine sehr zweifelhafte These, in der alte Positionen des "Proletkult" durchschimmerten. Sie verwechselte die ästhetische Vergegenständlichung des Geistigen, die in erster Linie ein Reflex der Produktivkräfte ist, mit einem Reflex der Produktionsverhältnisse. Anstatt diese These aber nun wenigstens konsequent durchzuhalten und dem Jazz wie der Maschine unter sozialistischen Produktionsverhältnissen eine befreiende Wirkung zuzusprechen, schrieb Lunatscharski dieser Musik eine genuin unheilvolle Wirkung zu. Er bezeichnete es als "opportunistisch", wenn sowjetische Musiker die Ansicht verträten, daß auch in ihrem Land zu Foxtrott-Rhythmen getanzt werden solle. Er forderte die Musiker statt dessen auf, "einen eigenen, proletarischen Tanz zustande zu bringen", um im "Kampf des Lichts gegen die Finsternis" ihren Beitrag zu leisten:
"Im Foxtrott kommt die Hauptsache von der Mechanisierung, von einer verdrängten Erotik, von dem Verlangen, das Gefühl durch Rauschgift abzustumpfen. Wir brauchen das nicht, und wir brauchen keine solche Musik. Möge es bei uns lieber eine apollinische Musik geben, die von der Vernunft, von der Tatkraft, von der Frische ausgeht; möge es in unserer Musik Erotik geben - aber das soll keine Ausschweifung sein. Möge diese Musik ein Gefühlsausdruck des jungen Männchens sein, das sich dem jungen Weibchen, der Mutter künftiger Kinder nähert [. . .] Wir haben einen großen Kampf begonnen, der um so organisierter sein wird, je mehr er den Charakter des Tanzrhythmus, der Parade vergegenwärtigen wird. Unser sozialistischer Aufbau ist ein großer gesellschaftlicher Prozeß, eine große Rhythmik menschlicher Bewegung, eine Rhythmik, die als Ganzes letztlich zu einer großen Sinfonie von Bewegung und Arbeit verschmilzt." (409)
Eine solche "Politisierung der Kunst" war nicht mehr weit entfernt von der "Ästhetisierung der Politik", wie sie zur selben Zeit die Nazis betrieben.